Studium in Marburg (SS 69 bis SS 70)
oder:
Mein erstes Auto, ein R4
Ich sang weiterhin in der Kurrende der Berliner ESG. Aber auf das Chorsingen wollte ich auch in der vorlesungsfreien Zeit nicht verzichten und so sang ich in den Semesterferien auch gern im Hamburger Petri-Chor mit. Anfang Oktober 1967 fuhr der Chor für eine Woche nach Maria Laach ins Kloster, um mit den Mönchen gregorianische Gesänge zu proben und um uns auf das nächste Oratorium vorzubereiten. An dieser Fahrt nahm auch Angelika teil, die jüngste Tochter des zweiten Pastors an Sankt Petri. Auf dieser Reise kamen wir uns näher. Da sie zu der Zeit noch die Oberstufe des Heilwig-Gymnasiums in Hamburg besuchte, ich aber in BerlinLesen Sie auch:Studium in Berlin 1966 - 1969
Klick … studierte, blieb uns vorläufig nur eine Fern- und Briefschreibe-Beziehung.
Im August 1968 reiste sie mit ihren Eltern drei Wochen nach Gotland, und da ich nichts Besseres zu tun hatte, beschloss ich, dorthin zu trampen. Ihre Eltern waren überhaupt nicht begeistert von unserer Beziehung, ahnten aber auch nichts davon, dass ich hinterher gereist kam. Zuerst wohnte ich im VandrarhemEntspricht der Jugendherberge in Deutschland in Visby. Da Angelika und ihre Eltern aber in einem Ferienhaus an der Ostküste Gotlands wohnten, zog ich ins Vandrarhem nach Ljugarn, um mich mit Angelika treffen zu können. Ich erinnere mich, dass ich an einem Abend keine Mitfahrgelegenheit mehr bekam, weil es schon spät war, und so blieb mir nur, die 40 Kilometer zu Fuß nach Ljugarn zu gehen.
Nach Angelikas Abitur im Februar 1969, damals endete das Schuljahr noch zu Ostern, hatten wir beide das Bedürfnis, die Entfernung zwischen uns zu verkürzen. Nun war Angelika aber in einem sehr konservativen Elternhaus aufgewachsen. Und zumindest dem konservativen Teil der deutschen Bevölkerung hatte die Springerpresse Glauben gemacht, dass es den Berliner Studenten nur um Krawall und Randale ging und dass sie nicht ordentlich
studieren würden, was in Teilen sicherlich auch zutraf. So war es nicht angesagt, dass ihre wohlbehütete Tochter im aufrührerischen Berlin studierte. Also beschlossen wir, uns eine gemeinsame Uni zu suchen, die unsere beiden Studiengänge Volkswirtschaft und Jura abdeckte. Die Wahl fiel auf die Philipps-Universität im malerischen Marburg an der Lahn. So bewarben wir uns dort zum Sommersemester 1969 um Plätze in einem Studentenwohnheim.
Aber vorher wollte ich noch ein Bankpraktikum machen. So ging ich ab Mitte Februar 1969 für die Dauer von acht Wochen zur Merchant Bank Rea Brothers Ltd. in London. Michael, ein Deutscher von der Deutschen Bank, der dort arbeitete und mich unter seine Fittiche nahm, hatte mir in Maida Vale ein Zimmer bei einem Landlord besorgt. Es war noch Winter und Zentralheizungen gab es in den alten Häusern nicht. Stattdessen gab es Kamine, in deren Öffnung ein elektrischer Heizstrahler stand. In der Bank durchlief ich vier Abteilungen. Den Foreign Exchange fand ich am interessantesten. Hier wurden die Käufe und Verkäufe von Devisen per Telefon getätigt und per Fernschreiber bestätigt. Einmal konnte ich mit zur großen Versicherungsbörse Lloyd's gehen. Es war eine riesige Halle mit einem sehr hohen Geräuschpegel, und ich war sehr erstaunt, denn man konnte trotz des Lärms seinen eigenen Namen heraushören, wenn man aufgerufen wurde.
Im September des Jahres machte ich in Hamburg noch ein Praktikum in der Auslandsabteilung der Deutschen Bank. Aber an Details kann ich mich nicht mehr erinnern.
Die Bewerbung um die Marburger Studentenheim-Plätze war erfolgreich. Leider fielen unsere Lose auf unterschiedliche Wohnheime: Ich bekam ein Zimmer im Altbau des Dr.-Carl-Duisberg-Hauses, Behringweg 2, oben am Schloss. Das war gut für die Kondition, denn die Seminargebäude und die Mensa lagen unten im Lahntal. Zweimal am Tag musste ich einen Höhenunterschied von 100 Metern zu Fuß überwinden. Ich hatte die Wahl zwischen vielen Treppen oder einer wirklich steilen, kopfsteingepflasterten Straße, bei deren Anblick ich mich heute noch frage, wie die armen Pferde dort früher die Kutschen hochgezogen haben. Aber was gut für die Kondition ist, muss nicht immer gut für die Beziehung sein. Angelikas Wohnheim im Studentendorf lag nämlich etwa zweieinhalb Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Natürlich bewarb ich mich sofort für das nächste Semester erfolgreich um einen Platz im Studentendorf und bekam ein Zimmer im Lomonosov-Haus in der Geschwister-Scholl-Straße 13.
In Marburg wimmelte es von Burschenschaftlern aller Couleur, die sie auch in aller Öffentlichkeit trugen. Mit meinem Berliner Hintergrund fand ich die Herren in ihrer zur Schau gestellten Art eher lächerlich. Und wenn ich heute einen Mann mit einem Schmiss sehe, geht bei mir sofort eine Klappe runter. Aber auch sonst war Marburg das krasse Gegenteil von Berlin. Die FU bestand fast nur aus modernen Neubauten, nur das Otto-Suhr-Institut war in einer alten Villa untergebracht. In Marburg waren fast alle Unigebäude alte Sandsteingebäude mit mehreren Stockwerken, auf engstem Raum unten an der Lahn versammelt. Nur die Mensa war ein Neubau. Und die Medizin hatte man vollständig in die Lahnberge ausgelagert.
Gelegentlich, wenn ich zwischen zwei Veranstaltungen Zeit hatte, ging ich mit Angelika in ihre Strafrechts-Vorlesung. Der alte Professor, dessen Namen ich leider vergessen habe, war ein Unikum. Er machte die Vorlesung sehr anschaulich. Wenn ein Student eine kluge Antwort gegeben hatte, dann sagte er zu ihm: Tasse Kaffee hinterher.
Es war eine besondere Ehre, von ihm zur Tasse Kaffee gebeten zu werden. Ich war auch mal mit – als Anhängsel.
Auch Hans-Werner, den ich aus Hamburg kannte, studierte damals Zahnmedizin in Marburg. Er kaufte sich alte Isettas und machte aus drei kaputten zwei fahrtüchtige. Mit Angelika wollte ich in die Eifel und nach Luxemburg reisen. Für diesen Trip lieh Hans-Werner uns eine seiner Knutschkugeln
und vergaß auch nicht, uns den Kfz-Schein mitzugeben, denn wir mussten ja eine Grenze überqueren. Das Schengener Abkommen gab es 1969 noch nicht, und so zeigte ich an der Grenze brav meinen Führerschein und den Kfz-Schein vor. Ich weiß noch heute, dass sich der Grenzbeamte auch noch das Nummernschild angesehen hatte. Was er dort allerdings geprüft hat, blieb sein Geheimnis. Denn als wir Hans-Werner seine Isetta wieder zurückbrachten, beichtete er uns, dass er mir den Kfz-Schein einer anderen Isetta mitgegeben hatte.
Natürlich wollten wir Hans-Werner nicht immer bitten, wenn wir mal einen Trip machen wollten. Und auch sonst sprach einiges dafür, ein eigenes Auto anzuschaffen. Die Entfernung zu den Unigebäuden kann es allerdings nicht gewesen sein, denn die Parkplätze waren schon damals rar. Auch die Fahrten nach Hamburg zu unseren Eltern waren kein Argument, denn die waren selten genug und außerdem mit der Bahn gut zu machen. Vielleicht war es der Wunsch nach mehr Freiheit beim Reisen oder nicht auf Mitfahrgelegenheiten angewiesen zu sein. Es gab da nämlich einen Geheimtipp
: Am Wochenende konnte man bei Meyer III, einer Schlachterei in Schröck, einem Dorf jenseits der Lahnberge, gut und preiswert essen. Dorthin fuhren die motorisierten Studenten in Scharen. Der Laden war immer in drei Etagen knüppeldicke voll bis unter das Dach. Die Studenten saßen dicht gedrängt an rustikalen Tischen und die Portionen waren mehr als üppig.
So studierte ich in den Semesterferien vor dem Sommersemester 1970 die Kfz-Anzeigen im Hamburger Abendblatt. Mein Vater war einmal bei Glatteis mit seinem VW-Käfer auf dem Kopfsteinpflaster des Bahrenfelder Marktplatzes so sehr ins Schleudern geraten, dass er einen gehörigen Blechschaden verursachte. Und da ich nicht nur aus eigener Erfahrung lernen wollte, stand für mich fest: kein Auto mit Hinterradantrieb. Deshalb kamen im Rahmen des Studentenbudgets nur zwei Typen infrage: ein Citroen 2CV, genannt Dö-schewoh
Die Verballhornung von franz. Deux chevaux
, für zwei Pferdestärken. oder Ente
, oder ein Renault R4, in Frankreich Quatrelle
genannt. Da ich ein Auto schon immer als Gebrauchsgegenstand angesehen hatte, fiel die Wahl auf das kleine funktionale Raumwunder mit den fünf Türen, dem Stoffschiebedach, den Schiebefenstern und der Türklinkenschaltung
Türklinken- bzw. Revolverschaltung (Revolverschaltung
), die etwas Kultiges hatte. Und man konnte die Einkaufstasche dranhängen.
Ende März 1970 fand ich im Abendblatt schließlich eine Anzeige: Ren. R4, Bj. 6/64, TÜV 8/71, 70000 km, DM 950,-
. Also fuhr ich zu dem Händler in den Wiemerskamp. Der Wagen stand im Hof in einer Schmuddelecke, bedeckt von einigem Gerümpel und bot einen erbärmlichen Anblick. Die Motorhaube war beschädigt und auch sonst waren einige Kleinigkeiten zu machen. So konnte ich den Kaufpreis auf DM 775,- runterhandeln. Aber der robuste Motor schnurrte zufriedenstellend, obwohl er wohl einige Tage
dort gestanden hatte.
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, welche Farbe der R4 beim Kauf hatte. Aber das spielte auch keine Rolle, denn ich brauchte ja eine neue Haube, die ich für DM 25,- auf dem Schrottplatz bekam. Dazu kaufte ich zwei Dosen mit Lackfarbe, rot und weiß, auch für DM 25,-. Und dann pinselten wir die Haube, das Dach und die Heckklappe in leuchtendem Rot, die beiden Seiten in Weiß an. So gefiel er uns. Wir fanden das schick.
Nun hatten wir die Freiheit beim Reisen und das genossen wir. Ich erinnere mich, dass wir bei einer Tour auch mal darin geschlafen haben.
Anfang der 1970er Jahre gab es die Protestaktion Roter Punkt
die sich gegen die Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr richtete. Einen roten Punkt, auf Papier gedruckt, bekam man in der Mensa. Er wurde vorn an die Windschutzscheibe geklebt und zeigte an, dass man bereit war, fremde Personen mitzunehmen. Es war Ehrensache, dass wir uns in Marburg auch an der Aktion beteiligten.
Natürlich lief der Wagen nicht immer rund. Es kam schon mal vor, dass ich die bi-funktionale Wagenheberkurbel rausholen musste, die gleichzeitig zum Ankurbeln des Motors benutzt werden konnte. In der vorderen Stoßstange hatte der Hersteller vorausahnend ein Loch gelassen. Dort steckte ich die Kurbel durch und konnte so den Motor anschmeißen. Ich musste dabei nur darauf achten, dass mir der anspringende Motor nicht den Daumen brach. Beim Studentendorf parkte ich den Wagen prophylaktisch so, dass ich ihn bergab rollen lassen konnte, um ihn so zu starten. Auch den Vergaser, ein ganz empfindsames Organ, musste ich gelegentlich justieren, um die richtige Mischung einzustellen, sodass ich bald zum Vergaserexperten wurde.
Alles hat mal ein Ende, auch die Beziehung zu Angelika und damit meine Zeit in Marburg. Nach drei Semestern wechselte sie an die Uni München und ich an die Uni Hamburg. Der R4 kam mit. Im folgenden Wintersemester hat er noch gehalten, aber im April 1971 trennte die Kupplung nicht mehr. Ich konnte ihn zwar noch fahren, indem ich den Motor an jeder roten Ampel ausschaltete und ihn bei Grün wieder anwürgte
, aber Spaß ist was anderes. So würgte
ich den Wagen dann zum Schrottplatz. 20 D-Mark habe ich noch bekommen, ein sehr kleines Trostpflaster. In der Hoffnung, dass die Motorhaube oder ein anderes Teil in einem anderen R4 weiterleben würde, verabschiedete ich mich von meinem ersten Auto – schweren Herzens, denn bei der ersten Beziehung ist der Trennungsschmerz bekanntlich am größten.
Der R4-Fraktion bin ich aber treu geblieben. Später hatte ich noch zwei weitere R4. Auch heute (2021) noch fahren wir einen RenaultLesen Sie auch:Die Grenzen der Mechatronik
Klick ….
Eine Erinnerung an Angelika muss ich noch nachtragen. Ihr Bruder war damals ein hohes Tier in der Hamburger CDU. Er hatte sie – damals war sie noch Schülerin – in die CDU reingequatscht und sie als Mitglied aufgenommen. Das gefiel mir überhaupt nicht. Es erinnerte mich sehr an das Prinzip der christlichen Taufe, die man bekommt, ohne selbst entschieden zu haben. Das gefiel mir damals schon nicht. Uns so quatschte ich sie wieder raus. Den Brief, der ihren Austritt bestätigte, habe ich als Zum Vergößern klicken …Trophäe behalten.