Eine lehrreiche Erfahrung
oder:
Der Trickdieb
In den Jahren 1961 bis 1966 besuchte ich die Deutsche Evangelische Oberschule (DEO) in Kairo und machte dort mein Abitur. Seitdem trifft sich der Abiturjahrgang 1966 der DEO alle fünf Jahre zum Klassentreffen. 2006 begingen wir also unser 40-jähriges Abitur. Die Klassenkameraden sind über die ganze Welt verstreut, aber die meisten wohnen jetzt in Deutschland. Trotzdem fand das Treffen in Wien statt, weil Andrea aus Wien (mal wieder) die Organisation übernahm. So flog ich denn Anfang Mai für ein gut verlängertes Wochenende nach Wien. Übernachten konnte ich bei meiner Cousine Marie und ihrem Gatten Sven.
Keine Angst: Ich werde nicht von den alten zwischenmenschlichen Geschichten der Schulzeit erzählen, die wären für jeden Außenstehenden wahrscheinlich viel zu langweilig. Aber von einem sehr prägenden Erlebnis muss ich unbedingt berichten. Es hat nichts mit dem Klassentreffen zu tun:
Sven und ich gingen von deren Wohnung aus Richtung Innenstadt, um uns unter anderem die Bibliothek und die Karlskirche anzusehen. Kurz nachdem wir den Donaukanal überquert hatten und in die fast menschenleeren Gassen der Altstadt eingetaucht waren, kam ein gestikulierender Mann über die Straße. Er gab uns zu verstehen, dass er Kleingeld zum Telefonieren benötigte. Nach meiner Einschätzung sprach er Spanisch, aber da ich kein Spanisch spreche, war ich mir nicht sicher. Sven und ich sind beide gut erzogen und deshalb hilfsbereit, wann immer sich die Gelegenheit bietet. So auch hier. Sven holte also loses Kleingeld aus der Hosentasche und ich zückte meine Geldbörse, um ihm sein 2 €-Stück klein zu machen. Aber Svens Kleingeld war ihm nicht recht. Er wollte mir wohl verdeutlichen, welche Art Kleingeld er zum Telefonieren benötigte und zeigte in mein Portmonee. Dabei redete und gestikulierte er ununterbrochen weiter. Schließlich hatte er wohl die richtigen Münzen in meinem Portmonee entdeckt und versuchte, sie mit einer Hand herauszufingern.
Bis zu dem Zeitpunkt war ich ganz unbefangen. Aber irgendwo ganz tief drinnen hatte ich doch ein ungutes Gefühl, was aber nicht bis in mein Bewusstsein drang.
Aber plötzlich sah ich, nein, ich nahm wahr, dass zwei Finger der anderen Hand des Mannes wie eine Schere nach meinen 50 €-Scheinen tasteten, die ich vor der Reise noch in Hamburg eingebunkert hatte, um flüssig zu sein. Dann registrierte ich auch, dass die Finger, die im Kleingeldfach nach den passenden Münzen suchten, gar nicht suchten, sondern nur rührten
. Reflexartig klopfte ich ihm auf die Finger und zog mein Portmonee zurück. Zu Sven gewandt sagte ich: Vorsicht, das ist ein Trickdieb!
— in der Annahme, dass der Mann mich nicht verstehen würde. Ich gewann wieder die Hoheit über mein Geld und gab dem Mann Kleingeld für seine 2 €. Der bedankte sich sehr hektisch und machte, dass er fort kam.
Später reimte sich natürlich alles zusammen, denn es gab eine Kette von Indizien: Die fremde Sprache und Hilfsbedürftigkeit, Svens verschmähtes Kleingeld, das Rühren in meinem Kleingeld, um meinen Blick abzulenken. Möglicherweise war der Mann Wiener und die Sprache war sicher auch kein Spanisch, sondern ein selbstgebrautes indo-europäisches Gebrabbel. Offensichtlich hatte er meine Warnung an Sven verstanden, denn er versuchte plötzlich ganz schnell, aus der Sache herauszukommen.
Was mich an diesem Erlebnis so schockierte, war die Erkenntnis, verwundbar zu sein. In dem Moment kam ich mir plötzlich richtig alt vor. Erweckte ich schon den Eindruck eines hilflosen Opfers? Ich, der ich mein Geld immer am Körper trage, ich, der Orient-Erfahrene!? Und dann die bittere Erkenntnis, wie lange der Umschaltprozess dauerte von der ungetrübten Hilfsbereitschaft zum Bewusstwerden des versuchten Trickbetruges und dann von dort bis zur Alarmschaltung und zur richtigen Reaktion. Ich hätte eigentlich schreien müssen, statt den begonnenen Prozess ordnungsgemäß zu beenden.
Hätte, hätte, hätte. Es ist schlimm, so übertölpelt zu werden. Aber ich bin gerade noch davon gekommen. Ich habe mein Geld behalten — und ich bin um eine Erfahrung reicher.