Galgenpfeifen
Schreiben dauert länger als Reden, aber das hat Vorteile. Die erstrebte Folge vom Denken zum Schreiben bleibt erhalten, und falls dennoch Denklöcher auftauchen, kann man sie hinterher stopfen, bevor man sich blamiert.
Schreiben ist zwar ein Monolog, und Leute, die mit sich selber reden, gelten als bekloppt. Aber der Dialog, das Gespräch zwischen zwei Menschen, ist gespickt mit einer Unzahl von Fußangeln, die eine Verständigung erschweren. Ich komme später darauf zurück.
Schreiben vermittelt interessante Einblicke in das Ich. Wenn ich später meine eigenen Zeilen noch mal lese, dann sehe ich mein Spiegelbild, aber sozusagen von hinten: Was hast Du da vor vier Wochen für einen hirnlosen Blödsinn geschrieben! Das ist ja genial!
Und Schreiben ist Magie. Wenn mich Probleme belasten, dann kann ich sie aus meinem Inneren auf das Papier übertragen. Dort bleiben sie stehen. Warum soll ich sie weiter mit mir herumschleppen?
Die Überschrift Galgenpfeifen
führt auf einigen Umwegen zum eigentlichen Thema. Aber wenn man einen zwar flachen, aber breiten Bach überqueren will, sind Trittsteine hilfreich. Die dürfen alle unterschiedlich aussehen, und manche mögen etwas wackeln, aber man kann trockenen Fußes das andere Ufer erreichen.
Ich bin ein glücklicher Mensch. Das war nicht immer so. Als Kind hatte ich Angst vor Allem und Jedem. Angst setzt genügend Phantasie voraus, und die hatte ich reichlich. Ich malte mir denkbare und auch undenkbare Katastrophen aus. Die Produzenten von Horrorfilmen in Hollywood wären stolz auf mich gewesen.
Mit der Zeit bemerkte ich, dass nichts so heiß gegessen wird, wie man es gekocht hat. Katastrophen blieben aus, Ärger vermied ich. Aus Angstschluchten kletterte ich jedes Mal auf Gipfel höchster Glückseligkeit: Gut gegangen! Nichts Böses passiert!
Der Herr Murphy hat mir dabei geholfen. Der hat das nach ihm benannte Gesetz entdeckt, wonach alles, was schief gehen kann, auch wirklich schief geht. Das Butterbrot fällt eben immer auf die Butterseite.
Meine Entwicklung zum Optimisten ist nicht etwa der Beweis für die Unzuverlässigkeit von Murphys Gesetz, nein! Das Gesetz steht immer noch fest und unantastbar da. Aber als ängstlicher Mensch habe ich im Laufe der Zeit einen Instinkt entwickelt, allem Ungemach zu entgehen. Wenn immer irgendwo etwas Schlimmes passiert – ich bin dann grad woanders.
Das hat nichts mit Hellseherei zu tun. Ich bin nur vorsichtig. Sehr vorsichtig. Um bei dem Beispiel mit dem Butterbrot zu bleiben – ich bemühe mich, es besonders gut festzuhalten oder gleich aufzuessen. Man könnte auch das Brot anstelle der Butter mit Margarine bestreichen. Wenn es dann herunterfiele, wär's mir wurscht, weil ich keine Margarine mag – aber nein, das ist ein ganz blödes Beispiel; lassen wir das.
Mit dieser Lebenseinstellung bin ich bisher gut klargekommen. Wer alle Katastrophen, denkbare wie undenkbare, sorgfältig durchdacht hat, dem kann nichts mehr passieren. Ich bin ein glücklicher Mensch.
Nun könnte man einwenden, Dauerglück sei unmöglich. Dauerglück stumpft ab. Richtig. Wem nicht gelegentlich ein schwerer Hammer auf den Zeh fällt, der kann sich nicht am Nachlassen des Schmerzes erfreuen. Wir sehen: Auch hier wirkt Murphys Gesetz. Man muss nur darauf achten, dass herunterfallende Werkzeuge nicht zu schwer sind.
Seit der Mensch sprechen kann, gibt er jedem Ding einen Namen, weil er glaubt, das Unbekannte so beherrschen zu können, obwohl er noch keine Ahnung hat, worum es geht. Bei Sachen, die man anfassen und in den Mund stecken kann, kriegt er's raus: Moos ist weich, Bratwurst schmeckt, und so weiter. Das Rauskriegen wird aber schwieriger, je mehr man sich vom Konkreten zum Abstrakten hinbewegt.
Vielleicht ist die Sprache, die wir als einen wichtigen Schritt zur Menschwerdung betrachten, gar nicht so göttlichen Ursprungs, wie oft angenommen wird. Vielleicht hat der Teufel die Sprache erfunden, damit man böse Gedanken verstecken kann. Wahrscheinlich ist es aber der komplizierte Aufbau, der eine Sprache umso unverständlicher macht, je mehr sie ausdrücken soll.
Wenn man einer Unterhaltung folgt, dann findet man eine Reihe von Problemen, die einer klaren Verständigung im Wege stehen. Ich rede nicht etwa von konfliktbeladenen Diskussionen, die jede Verhandlung platzen lassen, vom Redseligen, dem es egal ist, ob der Andere zuhört, vom Klugen, der vom Dummen nicht verstanden wird.
Ich meine die gut gemeinte Unterhaltung mit ihren zahllosen Fallstricken, die alle nur darauf lauern, Missverständnisse zu erzeugen. Jede Bühnenkomödie lebt davon. Und jede, wirklich jede Unterhaltung, ist ein gefährlicher Weg durch ein Minenfeld. Ein Wort entsteht aus einem Bild in meinem Kopf. Erzeugt dieses Wort im Kopf eines Anderen wirklich das gleiche Bild? Na also.
Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich beim Gespräch zwischen Männern und Frauen. Die beiden Gehirnhälften sind bei Frauen anders verdrahtet. Nein, nicht falsch, nur anders. Ein Mann braucht die klare Ansage: Jetzt bring endlich den Mülleimer runter
und keine Vorwürfe in Bezug auf seine mütterliche Erziehung. Frauen sind schön und klug, und man muss sie lieben. Aber verstehen?
Wenn man aufmerksam hinhört, dann ist das alles eigentlich zum Brüllen komisch.
Daran kann man nichts ändern. Sollte Gott bei der Entwicklung der Sprache beteiligt gewesen sein? Ist das seine Art spezifischer Humor? Nimmt er es mir übel, wenn ich mitlache?
Ich lache über Kommunikationsfallen. Ich bin ein alberner Mensch, habe Spaß an einer Unterhaltung, die ins Nichtverstehen abzurutschen droht, wenn ein versehentlicher Silbendreher in die falsche Richtung führt, wenn die Logik umkippt, und vor Allem, wenn die Gesprächspartner es gar nicht bemerken und glauben, über ein und dieselbe Sache zu reden. Und wenn ich selber an dem Gespräch beteiligt bin, lasse ich keine Gelegenheit aus, Albernheiten zu produzieren.
Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich mich über das Gebaren anderer Leute amüsiere? Es geht mir gut, Ich bin glücklich und leiste mir den Luxus, nichts so richtig ernst zu nehmen. Auch mich nicht.
Bei aller Vorsicht, mit der ich durchs Leben gehe, ist mir ein Fehler unterlaufen. Ein folgenschwerer Fehler. Ich habe für einen Moment Murphys Gesetz aus den Augen verloren. Aber das Gesetz hat mich nicht aus den Augen verloren. Jetzt liegt die Diagnose vor.
Heilbar?
Nein.
Lebenserwartung?
Nun ja – wollen Sie es wirklich so genau wissen?
Zunächst war es nicht anders als eine Art Auskunft an irgendeinem Busbahnhof: Wann? Neun Uhr zwanzig? Aha. Vielen Dank
. Worte bewegen sich nicht schneller als die Schallgeschwindigkeit, und es dauert zusätzlich, bis sie sich im Kopf niederlassen.
Unbeteiligt stand ich neben mir und überlegte: Was soll's – Du befindest Dich ohnehin bereits außerhalb des Haltbarkeitsdatums in der statistischen Gruppe männlicher Hessen. An Altersschwäche wirst Du also nicht sterben. Auch gut.
Aber dann fing der Fall an. Anfangs in Zeitlupe, dann immer schneller. Ich fiel in ein tiefes Loch, in den dunklen Angstkeller meiner Kindheit. Was soll man dazu sagen? Das ungehörige S-Wort, was sonst. Jetzt darf ich. Verzweifelt! Wütend!
Mir kam die Idee, mir meinen Kummer von der Seele zu schreiben. Das soll angeblich helfen. Und mir fiel auch noch ein, dass ich ein alberner Mensch bin und nichts ernst nehmen muss, also auch mich nicht. Wer bis zum Kinn in der Jauche sitzt, darf den Kopf nicht hängen lassen.
Weil ich mir nicht nur den Jammer von der Seele schreiben wollte, sondern auch nach Ablenkung suchte, entschied ich mich für die Versform. Die ist etwas umständlicher zu Papier zu bringen, weil sie ja bezüglich Reim und Rhythmus gewissen Regeln unterworfen ist.
Wenn man anfängt zu schreiben, hat man zwei Möglichkeiten: Man schreibt und überlegt sich hinterher den Titel. Oder man hat die Idee zu einer Überschrift, der das Geschehen folgt.
Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit, weil ich dieses Bild vor mir sah: Warten unterm Galgen, Angstschweiß auf der Stirn, aber keiner soll's merken. Also zaghaft pfeifen. Eben pfeifen unterm Galgen. Galgenpfeifen
fand ich sehr schön.
Ich schrieb also diese Überschrift hin und begann mit dem Reimgeflecht. Natürlich wollte ich der Sache auch Albernes mitgeben, so wie man ein Logo stolz auf ein Produkt stempelt. Passenderweise also mit schwarzem Humor beträufeln.
Aber Baden im Tränenmeer schwemmt den Humor weg, so dass mir nichts Albernes einfiel. Dem schwarzen Humor fehlte die zweite Hälfte, und so blieb nur das Schwarze übrig. Und das war sehr, sehr schwarz. Ich war eben gar nicht so gut drauf. Wundert's Euch?
Freunde sahen den Entwurf und waren entsetzt: Das ist ja schrecklich! Wir dachten immer, Du seist ein fröhlicher Mensch! Jetzt sei doch mal fröhlich!
Wer im Alter noch Freunde hat, der sollte auf sie hören. Aus meiner Schulzeit sind noch drei übrig. An einem knabbert die Demenz, ein anderer beschäftigt Ärzte, damit sein Herz weiterschlägt, und der dritte verschweigt Malessen, philosophiert aber seit Jahren darüber, dass es ihn wundert, überhaupt noch am Leben zu sein. Aber es sind Freunde, meine Freunde!
Es ist aber auch mein Gedicht, und es ist meine Entscheidung, wie es heißen soll.
Freunde, vielleicht habt Ihr Recht, vielleicht aber nicht. Das weiß man vorher nie. Findet Ihr
?Galgenpfeifen
denn nicht angemessen
Angemessen, ja
, sagt meine Frau. Aber Du lebst. Wehr Dich!
Meine Frau ist die beste und klügste Frau, die ich kenne. Ich liebe sie. Als Mann habe ich natürlich gelegentlich Probleme, eine Frau wirklich zu verstehen.
Aber sie versteht mich. Sie nimmt meine Hand und sagt: Ja, statistisch gesehen bleibt Dir ein Jahr. Aber schau, aus der Eins machen wir eine Drei. Das ist eine Glückszahl. Du hast ja selber immer gesagt, Statistik sei die verlogene Schwester der Wirklichkeit. Wir werden herausfinden, was an dieser blöden Schwester dran ist, und dann sehen wir weiter. Und jetzt setze Dich endlich auf Deinen Hintern und schreib Dir Deine Angst weg!
Was für eine Frau! Und ich liebe sie über alles. Und sie hat immer Recht. Darum habe ich ihren Rat befolgt, den Entwurf zerrissen, mich auf meinen Hintern gesetzt und gehorsam Verse geflochten. Die Überschrift habe ich auch geändert.
Hoffnung
Dass wir alle sterben müssen,
wissen wir genau.
Weil den Zeitpunkt wir nicht wissen,
kümmert's keine Sau.
Jeder fängt sein Leben an,
führt's aus seiner Sicht.
Dann kommt der Kapuzenmann
und tut seine Pflicht.
Wenn man Dir beim Krimi lesen
vorher schon verrät:
Der Chauffeur ist es gewesen
,
ist der Spaß verweht.
Unfair ist, wenn vor dem Tag,
der Dir einst bestimmt,
einer, der nicht warten mag,
Dich zum Bahnhof nimmt.
Willst Du etwa mit Gewalt
die Verträge brechen?
Ich werd' mal mit der Gestalt
diesen Fall besprechen!
Und das fange ich gleich an.
Sag' dem dürren Mann da,
weil ich auch lateinisch kann:
Pacta sunt servanda!
Er stöhnt: Ach, mit dem Vertrag
hat man nur Verdruss!
Ich sag': Noch ist nicht mein Tag!
Kriegst mich erst am Schluss!
Die Statistik kann beweisen
plappert er daher,
dass es Zeit ist, abzureisen!
Jetzt stell Dich nicht quer!
Die Statistik kennt nur Heut',
,
Hoffnung springt zum Morgen
sag' ich, und sie steht bereit,
Zeit mir zu besorgen!
Hoffnung?
, fragt der Knochenmann,
– nie davon gehört!
Nachdenklich schaut er mich an:
… Den Versuch wär's wert …