Gib Deiner Tante 'nen Kuss!
oder:
von den Unarten, die unsere Eltern so an sich hatten
Ich kann das heute noch nicht ausstehen, anderen Menschen auf den Mund zu küssen, es sei denn meinem Mann. Ein Kuss auf die Fingerspitzen gehaucht und jemanden Liebes zugepustet, kann genauso prickelnd wirken wie das direkte Berühren der Lippen zweier Liebender. Aber Tantchen auf den Mund küssen, davor habe ich mich schon als Kind geschüttelt - dieses Geknutsche war immer so feucht und ich wischte mir stets meinen Mund mit dem Ärmel ab. Um dem Kommando meiner Mutter zuvor zu kommen, habe ich meistens die Flucht nach vorn ergriffen und hab dann Tantes oder Onkels Wange geküsst - auch nicht unbedingt aus Wiedersehensfreude. So bin ich diesem schrecklichen Begrüßungszeremoniell meistens entkommen und musste mir nicht mehr diese gekünstelten Überraschungsausrufe anhören, wie groß ich inzwischen geworden bin und so! Dabei lagen oft nur kurze Wochen zwischen solchen Wiedersehensbesuchen.
Ich war die Jüngste der vier Kinder meiner Mutter und deshalb nahm sie mich häufiger zu Verwandtenbesuchen mit. Meine älteren Schwestern durften zu Hause bleiben oder hatten was anderes vor. Mit Schaudern erinnere ich mich daran, dass meine Mutter öfters kleine Säuberungsaktionen mit Taschentuch und Spucke durchführte. Kind! Wie siehst Du denn schon wieder aus!
begann dann diese Aktion. Das Taschentuch, damals noch aus Stoff, Tempo
kannten wir noch nicht, wurde hervorgekramt, dann wurde es über den Zeigefinger gestülpt, mit Spucke durchtränkt und dann der vermeintliche Fleck abgerubbelt - eine schreckliche Tortur.
Als kleines Mädchen durfte ich bei Besuchen immer mein geliebtes Sonntagskleidchen anziehen, aber obwohl ich es gerne trug, auch das war ein Kreuz! Ich durfte nicht rumtoben, wie ich wollte, es hätte ja schmutzig werden können. So lernte ich ziemlich schnell, dass die meisten Dinge eben doch zwei Seiten hatten.
Waren dann fremde Leute oder nicht so nahe Verwandte da, hatte man bei der Begrüßung einen Knicks zu machen. Da gab es natürlich verschiedene Versionen, die ich auch ausspielte. Gefiel mir der oder die fremde Person, gab ich das rechte
Händchen, zupfte den Rockrand mit dem linken Händchen ein wenig an und machte dann den erwarteten Knicks. Bei anderen senkte ich auch schon mal den Kopf, sah von unten nach oben auf die Person und deutete den Knicks nur an.
Übrigens rechtes
Händchen! Ich weiß noch, dass ich als kleines Mädchen oft angehalten wurde, das rechte
Handchen zur Begrüßung der Erwachsenen zu geben. Wenn ich die linke Hand empor streckte, was ich anfangs sicher öfter getan haben muss, wurde ich stets sanft aber bestimmt angehalten, doch bitte das rechte Händchen zu geben. Ich kann heute noch mit der linken Hand einige Sachen besser machen als mit der rechten. Wer weiß, vielleicht bin ich ein verkappter Linkspatsch, der seine Anlage aus falsch verstandener Fürsorge der Eltern nicht ausleben durfte.
Noch eines möchte ich hier aufschreiben, denn bei meinen Söhnen habe ich stets darauf geachtet, dass ihnen nicht Ähnliches passiert: Kratzende und rutschende Strümpfe! Auch der älteste, heute fast 40 Jahre, trug nie ein Leibchen, obwohl das seinerzeit noch nicht ganz aus der Mode war. Ich erinnere mich mit Grausen an rutschende Strümpfe, weil der Verschluss beim Toben nicht hielt und manchmal war er auch kaputt, dann musste ein Pfennigstück als Behelf eingeklemmt werden - fürchterlich, denn das konnte man noch viel eher verlieren!
Küsschen, Knicks, Taschentuch mit Spucke, Sonntagskleidchen und rutschende Strümpfe - das ist doch noch gar nicht so lange her - oder doch?
Man sagt ja, im Alter funktioniert das Langzeitgedächtnis noch immer hervorragend, vielleicht ist es ja das!
Buchtipp: Thierry Lenain/Stéphane Poulin – Kein Kuss für Tante Marotte!
Thierry Lenain erzählt in seinem Bilderbuch eine Geschichte, die das Selbstbewusstsein der Kinder stärkt. Er fordert, dass sie einfach nein
sagen, wenn sie keine Lust haben, abgeknutscht zu werden. Das führt für die Eltern dazu, dass ihre Kinder nicht immer gesellschaftlich angepasst reagieren, wenn wieder einmal ein freundlicher Erwachsener sein Maß an Zärtlichkeit abfordert. Doch viel wichtiger ist, dass die Kinder sehr genau zum Ausdruck bringen, was sie wirklich möchten und dass dies respektiert wird. Auch wenn es in der jeweiligen Situation vielleicht zunächst gar nicht angenehm ist. Denn nicht immer haben die Kinder den Wunsch von Oma, Opa, Tanten und Onkeln geküsst zu werden.
Der Hintergrund der Erzählung ist, frühzeitig sexuellem Missbrauch vorzubeugen. Wenn kleine Kinder in der Lage sind, deutlich zum Ausdruck zu bringen, welche Zärtlichkeit sie mögen und welche nicht, wird es leichter für sie, Handlungen, die sie nicht wollen - mit einem deutlichen NEIN abzuwehren.