Meine Brieffreundin in der DDR
So, wie man heute digitale Kontakte auf Facebook, Instagram oder dergleichen hat, hatte ich als Schülerin Brieffreundinnen, mit denen ich mich in Englisch austauschte. Sie waren in der Welt verstreut, lebten in England, Japan und Malaysia.
Wie ich an die Adresse von Edith in der DDR kam, weiß ich gar nicht mehr genau. Ich glaube, von einem Jungen, der keine Lust mehr zum Briefkontakt hatte.
Als unsere Brieffreundschaft begann, waren wir beide fünfzehn Jahre alt. Edith wohnte in Frankfurt/Oder in Brandenburg. Die Gegend um Beeskow und Eisenhüttenstadt kannte ich von vielen Besuchen. Meine Eltern fuhren alle zwei bis drei Jahre zu ihren Geschwistern und Elternteilen in Brandenburg.
Das erste Mal trafen Edith und ich uns 1965 bei meiner Tante und Onkel in Groß Muckrow, einem kleinen Dorf im Kreis Beeskow. Wir verstanden uns gleich gut, hatten uns viel zu erzählen und verbrachten zwei schöne Tage bei meiner Familie, die mitten im Wald lebte.Klar war, dass wir uns unbedingt wiedersehen wollten. 1967 sollte das nächste Treffen bei Edith in Frankfurt (Oder) sein. Besuchsgenehmigungen gab es aber nur für Familienangehörige. Meinen Plan, eine Aufenthaltsgenehmigung bei meinen Verwandten zu beantragen und dann einfach nach Frankfurt (Oder) weiterzufahren, setzte ich auch um.
Von meinem Wohnort Bockhorn im Kreis Segeberg bis an die Oder war es ein ziemlich umständlicher Weg. In Bad Segeberg stieg ich in den Linienbus, der von Flensburg nach West-Berlin fuhr. Dann die erste Grenzkontrolle in Lauenburg. Die Koffer wurden nur angesehen, wir waren ja auf der Transitstrecke nach West-Berlin. Den strengen Blick der Vopos musste man schon aushalten, wenn sie das Passfoto mit dem Gesicht verglichen.
Für zwei Tage machte ich Station bei Papas Cousin in Berlin-Neukölln. Die Familie freute sich besonders auf die frischen Eier von unseren Hühnern, die sie sich immer wünschten. In Berlin war ich öfters in den Ferien, und die Berliner Cousine wiederum gerne bei uns auf dem Dorf.
Von Neukölln kannte ich den Weg mit der U-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße, dem Grenzübergang zur DDR. Hier war die Grenzkontrolle wesentlich strenger. Die Geschenke, Kaffee und Strumpfhosen, die in Buntpapier eingewickelt waren, musste ich alle auspacken. Ärgerlich, das Einpacken hätte ich mir sparen können.
Am Bahnhof tauschte ich Geld und kaufte die Fahrkarte für die Weiterfahrt nach Beeskow über Königswusterhausen. Für die letzte Etappe hätte ich den Bus nehmen müssen. Aber da kam die große Überraschung, es war Sonntag und sonntags fuhr kein Bus von Beeskow nach Groß Muckrow. Was nun? Erstmal marschierte ich zu meiner Cousine Monika, die am anderen Ende der Stadt wohnte, vielleicht wusste sie Rat. Aber leider waren sie und ihre Familie nicht zu Hause. Also wieder mit dem Koffer, damals noch ohne Rollen, zurück zum Bahnhof. Telefonieren war zwecklos, weil keiner meiner Verwandten ein Telefon besaß, und ein Auto hatte auch keiner, um mich abzuholen. Ein Taxi sollte die Lösung werden, aber auch hier hatte ich Pech. Das einzige Taxi, das es in Beeskow gab, war eingeteilt, Wähler zur Wahl abzuholen, denn genau an diesem Sonntag war Wahl in der DDR.
Und jetzt? Bei einer Limonade in der Bahnhofsgaststätte wollte ich überlegen, wie es weitergehen könnte. Schnell sprach mich ein junger Mann an und setzte zu mir an den Tisch. Er fragte nach meinem Ziel und, so ein Zufall, er kam aus dem Dorf Groß Muckrow, genau dort, wo ich hinwollte. Unsere Familie kannte er und wusste auch, dass sie mitten im Wald in einem Jagdhaus wohnen.
Sein Angebot, mich in seinem Trabbi mit nach Groß Muckrow zu nehmen und sogar bis zum Jagdhaus zu fahren, nahm ich sofort an. Wie schön, es war Oktober und inzwischen später Nachmittag und es wurde langsam dunkel. Als Dankeschön schenkte ich ihm ein Paket Kaffee, das er gerne annahm.
Heute denke ich, dass es nicht ganz ungefährlich war, als junges Mädchen mit einem fremden Mann in einer fremden Gegend einfach mitzufahren. Aber damals war ich ziemlich furchtlos und stieg bedenkenlos in den Trabbi, was sich als harmlos herausstellte.
Am nächsten Tag musste ich mich erst mal beim Amt im Dorf anmelden. Die Beamtin rief gleich Ach, die Renate, der Opa hat viel von dir erzählt
, als sie meinen Ausweis und die Aufenthaltsgenehmigung für Groß Muckrow kontrollierte und bestätigte.
Bei meinen Angehörigen verbrachte ich zwei erlebnisreiche Tage mitten im Wald im Jagdhaus. Von den fünf Kindern waren drei schon verheiratet, nur Gerd, der vier Jahre älter war als ich, und Marlies, die Dreizehnjährige, wohnten noch zu Hause. Meine Tante und Onkel freuten sich über meinen Besuch und auch über den Bohnenkaffee, den ich mitbrachte.
Als ich meiner parteitreuen Tante eröffnete, dass ich weiter nach Frankfurt zu meiner Brieffreundin fahren wollte, auch ohne Aufenthaltserlaubnis, war sie völlig entsetzt. Das geht doch nicht, das ist viel zu gefährlich, du bist hier angemeldet und hast keine Genehmigung für Frankfurt
. Hinterher habe ich erfahren, dass sie sofort an meine Eltern schrieb, um sie über mein Vorhaben zu informieren. Aber meine Mutter und Vater wussten, dass Frankfurt mein Ziel war. Ein Risiko sah ich nicht darin, mich auf den Weg in einen anderen Ort zu machen, auch wenn ich dann nicht erreichbar war.
Der Weg vom Jagdhaus zur Bushaltestelle im Dorf war ein etwa zwei Kilometer langer Fußmarsch. Hier fuhr der Bus nach Eisenhüttenstadt und von dort konnte ich dann weiter mit der Bahn nach Frankfurt an der Oder fahren.
Noch heute wundere ich mich, wie das alles ohne Telefon und Handy funktionierte, nur mit Briefkontakt, und trotzdem kam ich etwa zur vereinbarten Zeit bei meiner Brieffreundin an.
Ich war damals neunzehn und im dritten Jahr der Bauzeichnerlehre, während Edith nach acht Schuljahren schon eine Ausbildung bei der Reichsbahn abgeschlossen hatte. In der DDR war man schon mit achtzehn volljährig, während ich noch bis einundzwanzig warten musste.
Die Bahn stellte Edith eine Wohnung zur Verfügung, weil sie im Schichtdienst arbeitete. Wohnung
ist eigentlich etwas übertrieben, im Erdgeschoss eine kleine Küche ohne Heizung, schließlich brachte der Gasherd Wärme, im Obergeschoss ein kleines Zimmer mit Kohleofen und Gemeinschafts-WC auf der Etage.
Es waren schöne und interessante Tage in Frankfurt, wir haben uns wieder prima verstanden und hatten damals gleiche Interessen. Edith hätte gerne eine Bravo
gehabt, aber Zeitschriften mitnehmen war nicht erlaubt und ich wagte auch nicht, eine zu schmuggeln. Aber einige ausgeschnittene Artikel hatte ich doch dabei. Wir haben fast ganz Frankfurt zu Fuß erkundet, sind zum Tanzen gegangen, waren im Kino, haben nach Bananen und anderen Lebensmitteln angestanden und waren zwei Tage bei Ediths Eltern in Seelow an der Oder.
Meine Rückfahrt musste natürlich wieder über Groß Muckrow gehen, denn nur hier konnte ich mich wieder abmelden. Aber vorher bin ich noch drei Tage bei den Verwandten geblieben. Mein Cousin nahm mich mit zum Tanzen nach Cossewitz, einem Dorf, das man in etwa dreißig Minuten Fußweg vom Jagdhaus erreichen konnte. Gerd war ein gutaussehender Mann und fleißiger Tänzer und bei den Mädchen beliebt. Darum schauten mich auch einige Mädchen auf dem Tanzsaal nicht sehr freundlich an, sie wussten ja nicht, dass ich die Cousine und nicht die neue Freundin bin. Es wurde eine lange Tanznacht und dann wieder der Fußmarsch in Tanzschuhen durch den dunklen Wald zum Jagdhaus.
Für meine Eltern hatte mir meine Tante getrocknete Steinpilze und ein Glas mit eingeweckten Pfifferlingen mitgegeben, die sie sonst immer im Paket schickte. Meine Rückfahrt ging wieder über Berlin-Neukölln, wo ich einen Korb mit Steinpilzen aus Groß Muckrow ablieferte. Die Verwandten aus West und Ost tauschten rege miteinander.
In Berlin war ich öfters bei den Angehörigen. Von hier aus traf ich mich gut zwei Jahre später mit Edith in Ostberlin. Sie war inzwischen verheiratet und hatte ein Kind. Ich studierte noch und war solo. Irgendwie brachten uns die unterschiedlichen Lebensabschnitte nicht mehr richtig zusammen. Das Gespräch war schleppend, die Interessen sehr verschieden. Aber der Briefkontakt blieb weiter bestehen, wenn auch nicht mehr so rege.
Nach der Grenzöffnung lud ich Edith 1990 nach Norderstedt ein, wohin ich inzwischen umgezogen war. Inzwischen war ich Mutter von zwei Söhnen und vorübergehend nicht berufstätig. Meine Brieffreundin und ich wurden nicht mehr richtig warm miteinander und hatten uns auch wenig zu sagen, aber wir machten das Beste daraus.
Ich zeigte ihr viel von Hamburg und Lübeck und es waren trotzdem nette Tage. Der Briefkontakt lief noch kurze Zeit, bis er völlig einschlief. Einige Jahre später bekam ich noch einmal Post von Edith, sie war inzwischen geschieden und lebte im Ruhrgebiet. Aber ein Kontakt entstand nicht wieder.