Familientreffen in der DDR
Weihnachten 1963 feierten wir, meine Eltern, mein Bruder und ich in der DDR. Grund war die Silberhochzeit meines Onkels, Vaters Bruder, und seiner Frau, am zweiten Weihnachtstag. Die Reise musste rechtzeitig geplant werden, denn alle Abstimmungen konnten nur per Brief erfolgen. Die Post war allgemein immer sehr lange unterwegs, wenn es schnell gehen musste, konnte man auch mal ein Telegramm schicken.
Selbst wenn die Verwandten ein Telefon gehabt hätten, wäre ein Gespräch mit uns im Westen nicht möglich gewesen. Alle Gespräche in den Westen sollen für viele unmöglich gewesen sein oder wurden bestimmt von der StasiDas Ministerium für Staatssicherheit (MfS, auch Staatssicherheitsdienst, kurz Stasi) kontrollierte die Ferngespräche zwischen Ost und West, sowie die Postsendungen. Ein Post- und Fernmeldegeheimnis (GG §10) wie in der Bundesrepublik gab es in der DDR nicht; der Staat misstraute seinen Bürgern. abgehört.
Onkel Walter hatte bei den Behörden für uns Vier eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt, die wir auch pünktlich erhielten. Gleichzeitig kümmerte sich die Schwester meiner Mutter um eine Verlängerung der Besuchserlaubnis, damit wir auch noch weiter nach Ratzdorf an der Oder fahren konnten.
Zwei Tage vor Heiligabend machten wir uns auf den Weg über Westberlin nach Groß Muckrow, einem kleinen Dorf zwischen Beeskow und Eisenhüttenstadt. Westberlin war damals eine Insel in der DDR. Mit Auto, Bus oder Bahn musste man immer durch die DDR und durfte die vorgegebene Transitstrecke nicht verlassen. Von Westberlin in die DDR hatten wir nochmal eine Grenzkontrolle.
Wir hatten gerade ein neues Auto bekommen, einen Mercedes, den nur mein Vater fuhr. Meine Mutter besaß keinen Führerschein, und wenn ich mich recht erinnere, wollte mein Vater auch nicht, dass sie einen Führerschein macht.
Bevor wir losfuhren, erhielt meine Mutter noch die Instruktion Sag auf keinen Fall wieder russische Zone
, wenn wir an der Grenze sind. Und prompt vergaß meine Mutter das, als der Vopo (Volkspolizist) am Grenzübergang fragte, ob wir auf dem Transitweg nach Berlin sind oder weiterfahren. Wir fahren noch weiter in die russische Zone
, antwortete meine Mutter. Sie wurde sofort belehrt, dass es DDR heißt. Ob wir wegen der Aussage meiner Mutter oder weil wir ein neues Auto hatten besonders untersucht wurden, wissen wir nicht. Jedenfalls mussten wir aussteigen und mein Vater sollte die Rückbank hochklappen. Das geht gar nicht
, erklärte er. Aber der Grenzpolizist zeigte ihm, dass man den Rücksitz sehr wohl umklappen konnte. Papa war erstaunt, denn das wusste er tatsächlich nicht.
Auch der Kofferraum wurde nun gründlich unter die Lupe genommen. Das Gepäck, die vielen Zitrusfrüchte und der tote, abgehangene Hase, der Weihnachtsbraten für Papas Cousin in Westberlin, mussten erst mal ausgeladen werden. Außerdem hatten wir noch reichlich Eier für die Berliner dabei.
Man konnte bei uns nichts Verbotenes finden und so durften wir alles wieder einpacken und weiter nach Berlin-Neukölln fahren, wo wir für einen Tag Station machten. Die Verwandten freuten sich über den Hasen und die frischen Eier, die sie sich immer von uns wünschten.
Als Gastgeschenke für die Familien in der DDR hatten wir nicht nur Orangen, Zitronen und Kaffee dabei, auch für alle Frauen eine Nylonstrumpfhose. Zur Silberhochzeit schenkten meine Eltern Westgeld, damit konnte ich das Paar im Intershop Wünsche erfüllen.
Papas Bruder und Familie lebten mitten im Wald, etwa zwei Kilometer vom Dorf entfernt, in einem riesigen, zweigeschossigen Jagdhaus. Sie bewohnten die eine Hälfte des Hauses, die sie in den fünfziger Jahren erworben hatte. Wir waren schon mehrfach dort und mein Vater fuhr gleich den richtigen Weg durch den verschneiten Wald.
Von meinen drei Cousinen und zwei Cousins war Marita, die älteste, schon verheiratet und hatte zwei Kinder. Monika war verlobt und arbeitete als Lehrerin im Dorf. Damals wurden dringend Lehrer in der DDR gebraucht und Monika erzählte, dass sie schon nach einem Jahr Lehrerseminar unterrichten musste. Ihre kleine Schwester Marlies, das Nesthäkchen der Familie, war gerade in der zweiten Klasse und hatte nun eine neue Lehrerin, ihre Schwester. Erfreut waren darüber weder Lehrerin noch Schülerin.
Heiligabend feierten wir alle zusammen in der großen Stube und jeder bekam eine Süßigkeit als Geschenk. In so großer Runde beisammen zu sein, war ganz neu für mich, aber auch irgendwie spannend.
Am ersten Weihnachtstag fand im Dorfgasthof der Weihnachtsball statt, zu dem sich die Jüngeren aus der Familie auf den Weg machten. Gerd, damals neunzehn Jahre alt, lud mich dazu ein. Obwohl ich erst fünfzehn war, erlaubten mir meine Eltern das Vergnügen, aber nur bis 23 Uhr. Damals war man in der DDR schon mit 18 volljährig und so war ich an dem Abend in Begleitung vieler Erwachsener, nämlich meiner Cousinen, Cousins und deren Freunde.
Es war ein aufregendes Erlebnis für mich, das erste Mal zum Tanzen zu gehen und die ersten Tanzschritte von meinen Cousins Gerd und Herbert zu lernen. Damit konnte ich später zu Hause bei meinen Freundinnen ordentlich angeben.
Pünktlich eine Stunde vor Mitternacht kreuzten mein Vater und Onkel auf, um mich abzuholen. Gerd verhandelte mit Papa und versprach, wenn ich bis zum Schluss bleiben darf, kann ich auch perfekt tanzen. Das Angebot war in Ordnung und ich durfte bleiben. Wir tanzten bis zum Ende der Veranstaltung und stiefelten dann alle gemeinsam durch den Schnee die etwa zwei Kilometer nach Hause.
Das Jagdhaus, ein zweigeschossiger Holzbau, war zwar ziemlich groß. Im Erdgeschoss befanden sich eine riesige Küche, ein noch größeres Wohnzimmer, das mit vielen Hirsch- und Rehgeweihen dekoriert war, und im Obergeschoss mehrere kleine Räume und rundherum ein Balkon. Außer uns übernachteten noch andere Gäste und so mussten sich immer zwei Personen ein Bett teilen. Im Obergeschoss herrschte eisige Kälte, denn hier gab es weder eine Heizung noch einen Ofen. Es war schon eine Überwindung, in die kalten Betten zu steigen. Weder ein Bad noch ein WC gab es hier im Haus. Für die Nacht diente ein Nachttopf, und eine Waschgelegenheit gab es in der Küche. Das Plumpsklo auf dem Hof war gleich neben dem Ziegenstall. Die Familie hielt zwei Ziegen, so waren sie mit Milch versorgt und konnten selber Käse herstellen.
Wie schon am ersten Weihnachtstag, so wurde auch am zweiten Feiertag in der großen Küche stundenlang für das Fest gebacken und gekocht. Im ganzen Haus verbreitete sich die Bratendüfte und der Duft von frisch gebackenem Kuchen. Backzutaten und Zitrusfrüchte waren rechtzeitig und reichlich aus dem Westen von den vielen Geschwistern meiner Tante eingetroffen.
Die Familie hatte gut mit Obstwein aus Johannisbeeren, Himbeeren und Kirschen vorgesorgt, der in großen Ballonflaschen in der Küche lagerte.
Zum Kaffeetrinken und Abendessen kamen noch weitere Verwandte und Freunde aus dem Dorf. An einer großen, quadratischen Tafel wurde in der Stube gespeist und lustig gefeiert. Hier plauderten Personen aus Ost und West, erzählten sich interessante und lustige Geschichten und sangen gemeinsam Lieder.
Nach Weihnachten machten wir uns auf den Weg nach Ratzdorf, das heute ein Ortsteil von Neißemünde ist, dem Geburtsort meiner Mutter. Der Ort liegt genau da, wo die Neiße in die Oder fließt. Hier besuchten wir die Schwester, Cousinen und den Onkel meiner Mutter.
Die Kunde von unserer Anwesenheit machte im Dorf schnell die Runde, denn ein West-Auto verirrte sich hierher äußerst selten. Ratzdorf war und ist auch heute kein Durchfahrtsort, die Straße endet an der Oder. Heutzutage kommen viele Radtouristen durch Ratzdorf, die den neuen Oder-Neiße-Radweg entlang radeln.
Meine Eltern gingen wie immer an die Oder und schauten über den Fluss. In den ersten Jahren hatten sie noch zwischen den Bäumen das Dach des ehemaligen väterlichen Gebäudes gesehen, später war nichts mehr zu erkennen, vielleicht auch, weil die Bäume inzwischen sehr hoch waren.
Einfach nach Polen fahren war damals nicht möglich, die Grenze wurde noch bewacht, mehrere Wachtürme standen auf der polnischen Seite direkt an der Oder.
Ende der 1980er Jahre, als man nur mit dem Ausweis nach Polen reisen konnte, besuchten meine Eltern mit Papas Bruder und der Cousine Else das großelterliche Grundstück in Kräsem (heute Krzesin). Auch wenn zu der Zeit keine Gebäude mehr vorhanden waren, erkannten sie das Grundstück. An der ehemaligen Dorfschule hatte der große Apfelbaum überlebt. Als Erinnerung an Kräsem sammelte meine Mutter viele heruntergefallene Äpfel auf. Von den ehemals 53 Häusern im Ort waren nur noch wenige vorhanden, die aber bewohnt waren.
Zum Nachbardorf Rampitz (Rapice) fuhren sie ebenfalls, wo Else und Familie früher wohnten. In ihrem ehemaligen Haus war jetzt eine Poststation. Papas Cousine Else konnte sich leider nicht mit den Postleuten verständigen. Sie sprach kein Polnisch und die Bediensteten der Post verstanden kein Deutsch. Aber ein Foto von ihrem früheren Zuhause nahm sie als Andenken mit.
2010 hatte ich die Möglichkeit, Kräsem zu besuchen. Mein Cousin Gerd zeigte Rolf und mir das ehemalige Grundstück unserer Großeltern in Polen. Hier wurde Gerd 1944 geboren und seine Eltern mussten mit ihm als Baby und den drei kleinen Geschwistern im Februar 1945 über die zugefrorene Oder vor der Roten Armee fliehen.
Mit dem Auto war es ein langer Weg entlang der Neiße bis Coschen kurz vor Guben, wo wir über eine Brücke nach Polen kamen. Jetzt noch etwa eine halbe Stunde Autofahrt bis zur Oder, wo wir den Fluss mit einer Fähre überqueren konnten. Die letzten Kilometer nach Kräsem ging es nur über Sandwege und ich konnte mir nicht vorstellen, dass dies der richtige Weg ist. Es gab aber nur diese eine Straße nach Kräsem.
Hier war also mein Vater aufgewachsen, in einem völlig abgelegenen Dorf. Nur noch etwa zehn Häuser waren bewohnt. Kinderfahrzeuge deuteten darauf hin, dass hier Menschen leben, aber Personen ließen sich nicht blicken, als wir durchs Dorf gingen.
Endlich konnte ich mir einen Eindruck von dem Ort und den Oderwiesen verschaffen, von denen mein Vater immer erzählte.