Auch mal Mauerspecht sein
Schon vor der Grenzöffnung 1989 durften die Bürger der DDR ihre Verwandten im Westen besuchen, wenn sie im RentenalterAls Rentner legal in die BRD reisen
Ab 1964 galt die Besuchsregelung für Rentner. Für vier Wochen im Jahr durften sie in die Bundesrepublik reisen. Blieb ein Rentner dann doch in der Bundesrepublik, erhielt er dort eine Rente, denn der Anspruch darauf galt im Sinne des Grundgesetzes für alle Deutsche und somit auch für DDR-Bürger. Der DDR war das letztendlich gar nicht so unrecht, denn so sparte sie die Rentenzahlung und verringerte ihre eigene wirtschaftliche Belastung. waren. So auch Lotte, die Cousine meines Vaters aus Ostberlin. 1968 wurde sie 60 Jahre alt und somit Rentnerin und kam von da an über 20 Jahre jedes Jahr mindestens für zwei Wochen entweder zur Cousine Else oder zu meinen Eltern nach Bockhorn. Hier ließ sie es sich gutgehen. Sie hatte immer eine Liste mit den Wünschen ihrer Kinder dabei, die sie von den 30 D-Mark Begrüßungsgeld, das gab es ab 1970, und den Zuwendungen der Verwandten zu erfüllen versuchte.
Lotte arbeitete bis zu ihrer Rente im Büro einer Süßwarenfabrik in Ostberlin. Was wir erst gar nicht glauben wollten, diese Fabrik lieferte Waren in den Westen. Lotte erzählte uns, dass sie Papiere von der Firma Arco in Wahlstedt bearbeitete. Wahlstedt ist nur ungefähr sechs Kilometer von Bockhorn entfernt und hierhin lieferte die Ostberliner Fabrik verschiedene Sorten Bonbons. In der Arco-Filiale in Bad Segeberg zeigte mir Lotte, welche Artikel, die jetzt neu verpackt und nicht als DDR-Ware gekennzeichnet waren, aus Ostberlin kamen.
Fast jedes Jahr flog ich einmal nach Berlin, damals noch zum Flughafen Tempelhof. In Neukölln, bei Papas Cousin und Familie, verbrachte ich gerne einen Teil der Ferien. Von dort aus habe ich mich dann mit Lotte in Ostberlin am Bahnhof Friedrichstraße getroffen. Ich brachte ihr die gewünschten Westwaren mit und Lotte zeigte mir ihre Stadt, zum Beispiel das Pergamon-Museum und 1969 den gerade eröffneten Fernsehturm, das höchste Bauwerk Deutschlands. Das lange Warten in einer riesigen Schlange lohnte sich, denn von der Aussichtsplattform hatte man eine tolle Aussicht und konnte den Verlauf der Mauer verfolgen. Die große, silberne und runde Kuppel des Fernsehturmes sorgte für Spott, denn bei Sonnenschein sah man ein riesiges Lichtkreuz auf der Fläche. Das Phänomen wurde Rache des Papstes
genannt.
Bei den Besuchen lernte ich auch Lottes Sohn, die Schwiegertochter und die Enkelin Heike kennen, mit denen ich auch in Briefkontakt stand.
Gleich nach der Grenzöffnung lud Heike unsere Familie nach Ostberlin ein. In den Osterferien 1990 machten wir uns auf den Weg nach Berlin-Marzahn, wo Heike mit Mann und Kleinkind in einem Neubau in der sechsten Etage lebte. Das Gebäude, Baujahr 1989, hatte sechs Stockwerke, aber keinen Aufzug. Das wäre bei uns unmöglich gewesen, denn hier müssen Gebäude mit mehr als vier Etagen oder ab 13 Meter Höhe einen Aufzug haben. Ein Anlass, mit Heike und ihrem Mann, beide Bauingenieure und ich Architektin, uns über das Bauen und die Baugesetze auszutauschen.
Seit der Grenzöffnung war das Warenangebot in Ostberlin plötzlich größer. Die Familie hatte sich für unseren Besuch reichlich mit Getränken wie Coca Cola und Fanta eingedeckt, aber nur eine Flasche Mineralwasser eingekauft. Sie konnten es gar nicht verstehen, dass wir alle nur Mineralwasser trinken wollten.
Natürlich stand auf dem Plan, dass wir uns an der Berliner Mauer als Mauerspechte
betätigten. Dazu mussten wir durch das Brandenburger Tor in den Westteil gehen, was nun für alle möglich war. Die Volkspolizisten, im Volksmund Vopos
genannt, standen aber trotzdem am Übergang und ließen sich die Ausweise zeigen.
Für die Erinnerungsstücke von der Mauer hatte mein Mann entsprechendes Werkzeug eingepackt. Aber so einfach war es nicht, von der stabilen Betonmauer etwas abzuhauen. Nur ganz kleine Teilchen lösten sich, die wir wie einen Schatz aufbewahrten.
Das Pergamon Museum, das ich schon durch Lotte kannte, besuchten wir zusammen. Ins Museum fuhren wir mit der Straßenbahn, die Fahrt kostete 20 Pfennig für Erwachsene. Heike hatte erst mal alles für uns bezahlt, weil wir keine Ostmark eintauschen wollten und sie freute sich darüber, dass wir ihr die Auslagen großzügig in D-Mark erstatteten. Inzwischen konnten die Ostberliner auch im Westen einkaufen.
Erstaunlich war auch, dass es hier in Ostberlin jetzt reichlich Kunsthandwerk aus dem Erzgebirge gab. DDR-Bürger konnten vorher kaum Erzgebirgshandwerk erwerben, fast alle Waren wurden in den Westen exportiert. Heike schenkte uns ein Räuchermännchen und stockte damit meine Sammlung auf. Schon seit vielen Jahren sammelte ich Engel und Räuchermännchen aus dem Erzgebirge.
Wir luden die Familie zu uns ein und im Sommer 1990 besuchte sie uns in Norderstedt. Ihr größter Wunsch war, die Nordsee zu sehen und Ebbe und Flut zu erleben. Mein kleiner Sohn und ich fuhren mit ihnen nach Büsum. Wie fast immer, wenn man an die Nordsee fährt, war gerade Ebbe. Bis ans Wasser mussten wir einen weiten Weg durchs Watt zurücklegen, aber trotzdem war es ein besonderes Erlebnis für unsere Gäste. Doch bevor die Flut auflief, erwischte uns ein Wolkenbruch, der uns alle bis auf die Haut durchnässte, denn am Büsumer Strand gab es keine Unterstellmöglichkeit. Unser kleiner Sohn fragte gleich. Ist das die Flut?
Auch wenn wir den Nordseeausflug früher abbrechen mussten, kauften wir am Hafen noch Krabben vom Kutter. Nordsee und Krabbenpulen gehören einfach zusammen, und das sollten unsere Gäste auch kennenlernen.
Als Familie haben wir uns noch mehrmals getroffen, bis diese Verbindung langsam einschlief. Heike und ihr Mann hatten nach der Wende sehr schnell neue, interessante Arbeitsplätze gefunden und verdienten gut. Jetzt konnten sie viele Reisen mit ihren inzwischen zwei Kindern unternehmen.
Das letzte Mal war Lotte 1991 zur goldenen Hochzeit meiner Eltern in Bockhorn. Danach bestand ein reger Telefonaustausch. Bis 2010 hat sie mich noch regelmäßig zum Geburtstag und zu Weihnachten angerufen. 2011 ist sie dann mit 103 Jahren gestorben.