Prinzessin im Krankenhaus
Es war kurz vor meinem sechsten Geburtstag, im Dezember 1945. Ich hatte am rechten Knie kleine Eiterstellen. Wenn einige verheilt waren, kamen schon wieder neue. Nun sollte ich ins Krankenhaus - nein, ins Schloss Blumendorf, das damals zum Krankenhaus umgebaut war. Ich freute mich riesig, durfte ich doch in ein Schloss - in einem Schloss lebten Könige, Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen. Ich war Prinzessin!
Mein Bett stand in einem riesengroßen Saal mit mindestens 20 Patientinnen. Vor dem Saal war eine große Terrasse mit Säulen rundherum, von der eine weit geschwungene Freitreppe in den Garten führte. Ich hatte sie früher schon bewundert, als wir auf einem Sonntagsspaziergang hier vorbeikamen. Leider war jetzt Winter, man konnte die Terrasse nicht nutzen. Aber einmal durfte ich über die Treppe in den Garten gehen - wunderbar war das.
Im Krankensaal war vom Baby bis zur alten Omi alles untergebracht. Mutti hat mir später Schauergeschichten
davon erzählt. Das Baby war ausgesetzt, ein ungewolltes Kriegsbaby. Zwei Kinder hatten Krätze und wurden morgens und abends mit stinkendem Mitigal
eingerieben. Junge Frauen mit Geschlechtskrankheiten gehörten zu den Patienten. Für Mutti war dieser Saal ein Albtraum. Mir war das egal - ich war Prinzessin!
Am Tag vor meinem Geburtstag sollte ich entlassen werden, aber ich hatte neue Eiterstellen und durfte
bleiben. Mein Bein wurde in eine Schiene gelegt, damit ich es ruhig halte. Abends überlegten meine Bettnachbarinnen, was wir zum Geburtstag anstellen könnten. Wir drehten uns alle mit dem Kopf zum Fußende - mit Getöse fiel meine Schiene aus dem Bett, aber eine der Frauen legte sie mir wieder fachgerecht an. Morgens warteten wir ungeduldig auf die Schwester mit dem Fieberthermometer. Sie stutzte als sie überall Füße auf den Kopfkissen fand. Dann musste sie lachen über unseren Unsinn und alle gratulierten mir zum Geburtstag - Prinzessinnen-Geburtstag im Schloss.
Nachmittags kam Mutti mit Kuchen. Die alte Omi neben mir schenkte mir eine kleine Mokkatasse mit dem Vers: Weil du so gut, mein süßes Leben, drum will ich dir dies Tässchen geben
. Das Tässchen ist auf einem unser vielen Umzüge verloren gegangen, aber den Vers habe ich nie vergessen. Die Omi habe ich leider nie wieder gesehen.
Ich durfte drei Tage vor Weihnachten nach Hause, darüber habe ich mich natürlich gefreut - aber ich war fast sechs Wochen Prinzessin!
Später, als ein Antiquitäten-Geschäft in dem Schloss war, bin ich mit Mutti mal hinein gegangen. Das Schloss fasziniert mich noch heute und wenn ich die Augen schließe, träume ich: Einmal durfte ich hier Prinzessin sein
.