Reise an die Ostsee – 1949
„Juchhu, wir verreisen!“ jubelten wir, als Mutti ankündigte: Morgen fahren wir an die Ostsee mit der Eisenbahn. Oma und Tante Frieda kommen auch mit.
Mit der Eisenbahn, mit der Eisenbahn
sangen wir und tobten durch die Küche. Mutti pellte die Kartoffeln für den Kartoffelsalat. Rote Grütze und Vanillesoße standen schon in der Speisekammer. Wir packten die Badesachen zusammen und wurden früh ins Bett gesteckt
. Lange flüsterten wir noch miteinander in Vorfreude auf die Eisenbahnfahrt.
Am nächsten Morgen konnten wir gar nicht erwarten, dass es endlich los ging. Mutti packte die Esswaren, Bestecke und kleine Teller ein, ich nahm die Tasche mit dem Badezeug und den Handtüchern, Günther bekam die gerollte Wolldecke unter den Arm geklemmt. Schwer beladen zogen wir los zum Oldesloer Bahnhof.
Oma und Tante Frieda wohnten in der Mewesstraße, 5 Minuten vom Bahnhof entfernt und warteten schon auf uns. Zischend und dampfend rollte der Zug ein. Als er endlich stehen blieb, kletterten wir die hohen Stufen rauf, verstauten unsere Taschen im Gepäcknetz und unter dem Sitz – der Kartoffelsalat sollte uns nicht auf den Kopf fallen. Mit vereinten Kräften zogen Oma und Mutti das Fenster runter, damit wir den Schaffner sehen konnten, als er die Kelle hob und mit einem schrillen Pfiff auf seiner Trillerpfeife dem Lokführer das Signal zur Abfahrt gab. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung, wurde immer schneller. Hört ihr?
fragte Oma, der Zug singt immer
ich heff keen Tied, ick mutt noch wiet'
. Wir lauschten gespannt und tatsächlich hörten wir es ick heff keen Tied, ick mutt noch wiet – ick heff keen Tied, ick mutt noch wiet …
Viel zu schnell waren wir in Travemünde angekommen. Alle aussteigen
rief der Schaffner. Mutti atmete auf, als wir alle auf dem Bahnsteig standen und keine Tasche fehlte. Nun war es nicht mehr weit bis zum Strand.
Wir hörten das Meer schon rauschen und jubelten, als wir endlich die blaue Ostsee erreichten. Sofort ließen wir das Gepäck in den Sand fallen, rollten die Decke aus und liefen zum Wasser: Halt,
rief Mutti, erst das Badezeug anziehen
. Fast wäre mein Rock schon nass gewesen. Hinter vorgehaltenen Handtüchern mussten wir uns umziehen. Mutti hatte sogar auch einen Badeanzug, nur Oma und Tante Frieda hatten nichts zum Umziehen. Als es ihnen zu heiß wurde, zogen sie einfach ihre Kleider aus und saßen im Unterrock am Strand. Wir kicherten, denn so ausgezogen
kannten wir sie nicht. Mit vereinten Kräften bauten wir eine Sandburg um unser Lager.
Als Mutti mit uns gebadet hatte und von dem warmen Wasser schwärmte, wollte auch Oma in die Ostsee. Mutti zog hinter einem Laken einen Strandanzug an, reichte Oma den Badeanzug und hielt ihr das Laken als Umkleidekabine davor. Wir jubelten und planschten nun mit Oma. Auch Tante Frieda bekam Lust auf ein Bad und der Badeanzug wurde wieder weitergereicht.
Das Wasser und die frische Luft machten hungrig. Die Weckgläser wurden ausgepackt und Kartoffelsalat verteilt. Die rote Grütze schmeckte uns besonders gut. Die Decke verschwand langsam unter sandigen Füßen. Auch knirschte der Sand zwischen den Zähnen, aber das störte uns nicht.
Nach dem Essen sollten wir eine Badepause machen: Nicht mit vollem Magen ins Wasser
mahnte Mutti, legt euch auf die Decke und schlaft ein bisschen
. Dazu hatten wir gar keine Lust, nur Harro kuschelte sich in ihren Arm. Wir tobten durch den Sand. Plötzlich stach mich etwas in den Fuß. Ich schrie auf. Eine Hummel, eine Hummel hat mich gestochen
. Wie am Spieß
hätte ich geschrien, erzählte Mutti später immer wieder. Oma hatte Mitleid mit mir und kaufte ein Eis für mich. Ich höre heute noch, wie sie sagte: Einmal Eis zu Fünf in drei Tüten mit Sahne bitte
. Der Verkäufer sah sie fragend an und sie einigten sich auf drei Eis für uns Kinder – natürlich nicht zu Fünf in drei Tüten mit Sahne
. An diesen Schnack
von Oma denke ich noch oft, wenn ich mir ein Eis kaufe. Das Eis linderte meinen Schmerz und in der Ostsee kühlte ich den Fuß. Dann sammelten wir Muscheln und ich vergaß den Hummelstich.
Auf der Rückfahrt mit der Eisenbahn
sind wir todmüde eingeschlafen als der Zug sein Lied anstimmte: ick heff keen Tied...
. In Oldesloe hatte Mutti Mühe uns wach zu kriegen, verschlafen zuckelten wir den weiten Weg nach Hause hinter ihr her.
Am nächsten Tag knirschte das ganze Haus vom Ostseesand, der uns aus Socken und Schuhen gerieselt war.
Der Ausflug an die Ostsee war damals ein ganz besonderes Ferien- Erlebnis, eine Reise, die ich nie vergessen habe.