Schmerzliche Unterschiede
Meine Schulfreundin hieß Gisela. Bei ihr zu Hause war alles anders. Es gab Vater und Mutter, die sich sehr liebten, das habe ich als zwölfjähriges Mädchen gespürt.
Sie waren nicht ausgebombt, hatten also ein gemütliches Heim. Wenn ich Gisela morgens zur Schule abholte, ging ich immer ganz bewusst etwas früher hin. Der Frühstückstisch im Wohnzimmer war noch nicht abgedeckt. Es war mollig warm! Giselas Mutter kämmte ihr die Haare und flocht die Zöpfe. Wie habe ich sie beneidet um dieses Morgenritual, wobei ihre Mutter immer um sie herum war.
Auch ich fühlte mich von meiner Mutter sehr geliebt, aber sie musste arbeiten und mich allein lassen. Ich war derzeit 1946/47 ein Schlüsselkind! Wir lebten damals sehr primitiv in einem ehemaligen, ewig muffig riechenden Luftschutzkeller. Ich hätte es nie gewagt, ein Kind nur über die Schwelle zu lassen. Manchmal schämte ich mich unserer Armut, was mir wiederum ein schlechtes Gewissen meiner Mutter gegenüber machte, die alles im Rahmen ihrer Möglichkeiten tat, um uns das Leben in der schrecklichen Nachkriegszeit erträglicher zu machen. Mir war natürlich bewusst, dass viele Menschen so leben mussten wie wir, aber es gab eben auch die, denen es besser ging, und zu denen hätte ich damals gerne gehört.
Ich war bei Gisela zum Geburtstag eingeladen. Zu diesem Anlass hatte meine Mutter Blumen besorgt, die mir aber nicht gefielen. Was es für Blumen waren, weiß ich heute nicht mehr. Es muss sich um irgendeinen Strauch gehandelt haben - für mich eben keine richtigen Blumen! Ich hatte große Hemmungen und wollte damit nicht hingehen. Überhaupt, wenn ich mich mit allem verglich, was Gisela ausmachte, da war ein großer Unterschied. Sie hatte schönere Kleidung und sogar ein eigenes Zimmer.
Als ich dann doch mit meinen komischen
Blumen auf Giselas Geburtstag ankam, habe ich mich gleich dafür entschuldigt. Ich höre noch ihren Vater: Aber nein, Ingrid, das sind genau meine Lieblingsblumen!
Ich habe ihm nicht geglaubt, aber erkannt, welch ein großes Herz dieser Mann hatte. Dass es ihnen viel besser ging als mir, haben sie mich nie spüren lassen!