Damals … Erinnerungen 1935 -1948
Nachkriegsjahre und Währungsreform
Kurz vor Weihnachten 1945 traf Tante Lotti mit Waldemar in Tonndorf ein. Sie war zuvor in Jenfeld gewesen, das kannte sie ja, und die Nachbarn hatten ihr erzählt, dass wir uns tagsüber bei Tante Irmgard in Tonndorf aufhielten. Also zog sie mit ihrem kleinen Leiterwagen (heute sagt man Bollerwagen dazu), der mit ihren Habseligkeiten beladen war, und mit dem kleinen Waldemar an der Hand nach Tonndorf. Sie trugen viele Kleidungsstücke übereinander und als wir den dreijährigen Waldemar auszogen, stellten wir fest, dass die Wollstrümpfe teilweise in die Haut eingewachsen waren. Aber welche Rolle spielte das schon, der lange Treck und die Flucht waren zu Ende und wir waren so froh, sie wieder bei uns zu haben.
Tante Lotti und Waldemar wohnten nun bei uns im Jenfelder Häuschen, Omi betreute, als sie wieder gesund war, Tante Irmgard und die drei Kinder, während Mutti bei Tretorn arbeitete. Die Ernährungslage war schlimmer als während des Krieges, der Schwarze Markt blühte. Ich erinnere mich an Haferflocken, bei denen der Hauptanteil aus harten Schalen und Mäusekot bestand, und dass ich mit Tante Lotti in einen Wettstreit trat beim Drapieren dieser unansehnlichen Dinge auf dem Tellerrand. Steckrüben waren unser Hauptnahrungsmittel (natürlich ohne Fett!), es gab sie nicht nur als Mittagessen, sondern man nahm sie auch roh, mit der Schale statt Brot.
Wir holten heimlich Zuckerrüben von den Feldern, die dann stundenlang gekocht wurden, bis sich aus dem Saft eine kleine Menge Sirup bildete für den Brotaufstrich. Es war die Zeit der Hamsterfahrten und der Tauschgeschäfte, und sehr oft wurde nicht nur getauscht, sondern auch getäuscht und betrogen. So erhielten wir für Omis goldene, über den Krieg gerettete Armbanduhr von einem Bauern eine, wie wir glaubten, ansehnliche Mettwurst. Als wir sie anschnitten, bestand sie aus einem Getreidegrütze-Gemisch. Eine Sache kam uns sehr zugute: Bei Tretorn im Labor, wo Mutti arbeitete, wurde eine Art grüne Seife hergestellt und unter den Mitarbeitern verteilt. Das war ein wunderbares Tauschobjekt und wir verdankten ihr so manches Mal kostbares Weizengetreide, das wir per Hand und Kaffeemühle zu Mehl verarbeiteten. Ich sehe uns Kinder in der Erinnerung abwechselnd den Mühlengriff am Tonndorfer Küchentisch drehen, während Omi der Hausarbeit nachging und Tante Irmgard uns todkrank von ihrem Lager aus in der Küche zusah. Am 29. Juli 1946 starb Tante Irmgard, sie war noch keine 35 Jahre alt. Welch ein Leid nach den überstandenen Kriegsjahren für Rosi, Gisela und Werner, für Omi, für uns alle. Ein Leid, das einen lebenslangen Schmerz hinterließ.
Es wird Frühjahr 1947 gewesen sein, als ein großer hagerer Mann unseren Garten in Jenfeld betrat und langsam den Gartenweg heraufschritt. Seine Kleidung war zerrissen und schlotterte um den ausgemergelten Körper, sein Kopf kahlgeschoren. Er trug einen kleinen Sack über der Schulter. Wir erkannten ihn nicht gleich, aber dann begriffen wir: Es war Onkel Richard! Die Russen hatten ihn aus der Gefangenschaft entlassen, weil er krank war und Wasser in den Beinen hatte. Er taugte nicht mehr für die schwere Arbeit des Baumfällens. Wie froh und dankbar wir waren, wie glücklich Tante Lotti, dass er lebte und zurückgekommen war.
Onkel Richards Heimkehr bedeutete für uns den wirklichen Abschluss und das Ende der grausamen Kriegszeit. Und wenn noch unzählige Schwierigkeiten und Nöte als Kriegsfolge auf uns warteten, so glaubten wir doch, dass jetzt alles nur noch besser werden konnte.
Und so geschah es auch. Als 1948 die Währungsreform erfolgte, ging es uns schlagartig besser. Die Schaufenster und Geschäfte füllten sich mit all den Dingen, von denen wir sonst nur geträumt hatten.
Onkel Richard wurde wieder von der Polizei eingestellt und zog mit Tante Lotti und Waldemar nach Itzehoe, später nach Siethwende und Horst.
Onkel Arthur hatte sich ein Jahr nach Tante Irmgards Tod wieder verheiratet und der Kontakt zu ihm wurde geringer. Rosi, Gisela und Werner kamen uns aber jeden Sonntag besuchen. Omi und Mutti ließen unser Jenfelder Häuschen, dessen vordere Räume noch aus der alten Holzlaube bestanden, vergrößern und mit Steinen ummauern, sodass ein reelles Steinhaus daraus wurde. Wir verfügten jetzt über eine Wohnküche, ein Wohnzimmer, ein großes Schlafzimmer und eine Speisekammer. Über den ausgedienten Luftschutzbunker wurde ein steinerner Schuppen errichtet, dem sich separat ein TC (Torfclosett) anschloss. Das war ein riesiger Fortschritt, es war Luxus! Fließendes Wasser hatten wir nicht, aber dafür eine Pumpe vor dem Haus mit wunderbarem kühlem und klarem Wasser, dazu den schönen großen Garten mit seinen blühenden Obstbäumen im Frühling, den duftenden Fliederbüschen und dem Rosenbeet vor dem Haus. Ich liebte dieses Fleckchen Erde, an dem ich noch glücklich Kinder- und Jugendjahre verleben durfte. Entscheidend für dieses Glück aber war das Gefühl der Geborgenheit, das ich empfand und das ich Mutti und Omi zu verdanken hatte.- Ich wünschte, das Schicksal hätte es anders gefügt und hätte Rosi, Gisela und Werner die Mutterliebe nicht so früh entbehren lassen …
Es kommt mir ein Ausspruch von Jean Paul in den Sinn: Mit einer Kindheit voll Liebe kann man das halbe Leben hindurch die kalte Welt haushalten
. Ich denke, er hatte Unrecht: Die Erinnerung an diese empfangene Liebe wird sich ein ganzes Leben auswirken!
Nachwort:
In dem Jenfelder Haus feierten Edwin und ich am 31. Juli 1954 unsere Hochzeit. Wiederum wurde das Häuschen 1958 vergrößert und eine Wasserleitung gelegt. Unsere ältesten Kinder, Patrick, Nicola und Anja verlebten hier ihre ersten Kinderjahre, bis wir am 1. August 1965 nach Bramfeld in den Moosbeerweg umzogen, wo unsere beiden Jüngsten, Dörte und Ronald, die große Familie komplett machten.