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Meine Reise nach Texas

Teil 2: San Antonio

Nun hatte ich einen ganzen Tag Zeit, um die Stadt zu erkunden. Das moderne Geschäftsviertel mit seinen Hochhäusern konnte man getrost umgehen, es sah genau so aus wie in tausend anderen Städten. Aber die Altstadt hatte was! Hier war echtes Leben, nicht so ein immer wiederkehrendes Einerlei wie in anderen amerikanischen Städten. Der mexikanische Einschlag überwog mit Restaurants, Geschäften und verschiedenen Märkten. Im Mittelpunkt standen die Überreste des Fort Alamo. Den Film über die Schlacht um das Fort mit John Wayne hatte ich als Junge wohl dreimal gesehen. Auch der Sitz des letzten mexikanischen Gouverneurs war erhalten, er bestand aus einer etwas größeren Blockhütte. Auf den Straßen und in den mexikanischen Restaurants spielten schon um die Mittagszeit die Mariachis ihre Musik. Auch die fünf Kilometer lange Promenade entlang des San Antonio River mit vielen kleinen Cafés und einer reichlichen Bepflanzung mit tropischen Blumen war wunderschön — besonders abends, wenn der ganze Riverwalk bunt beleuchtet war. Nicht mit der sonstigen, aufdringlichen Reklame, sondern mit chinesischen Laternen, Lichterketten und Fackeln.

Am nächsten Tag sollte ich mich zur Mittagszeit mit meinem Lufthansa-Kollegen in der Flugzeugfirma treffen. Er erwartete mich schon am Eingangsportal, zeigte mir, wo ich auf dem Firmengelände parken durfte und dann fuhren wir erstmal zum Essen. Er hieß Joachim, hier wurde er nur Jo genannt, ich wurde Ben genannt, das rd in Bernd war den Amerikanern wohl nicht geläufig oder zu lang. Da uns beiden das allgegenwärtige Fastfood-Essen nicht behagte, lotste Jo mich zu Joe`s Fishing Hall im Industriegebiet. Das Lokal war so groß wie bei uns eine Turnhalle. Rechts vom Eingang war ein kleiner Tresen mit einer großen altmodischen Kasse, dahinter thronte der dicke Wirt auf einem hohen Stuhl, von dem aus er den ganzen Laden überblicken konnte. Ausgestattet war das Lokal mit Vierertischen, weißen Plastiktischdecken und dunkel bezogenen Stühlen. Rauchen war hier schon zu der Zeit verboten. Beim Betreten des Lokals wurden wir von einer jungen Frau begrüßt, zu einem Tisch geleitet und unaufgefordert mit Wasser sowie Kaffee versorgt. Beides konnte man kostenlos nachbestellen. Allerdings war der Kaffee so dünn, wie man ihn bei uns als dritten Aufguss oder damals als Negerschweiß bezeichnet hätte, war aber überall hier so. Die Speisekarte war nicht sehr umfangreich, es gab zur Hälfte Fisch- und Fleischgerichte. Es war ja Mittagszeit, sodass der Saal sich schnell füllte. Nach meiner Schätzung waren hier etwa hundert Gäste. Kamen Gruppen mit mehr als vier Personen, wurden blitzschnell die Tische zusammengestellt. Das Essen war hervorragend, besonders der Fisch war so frisch, dass er wohl erst in der Nacht zuvor gefangen worden war. Die Portionen waren sehr groß, heiß und wurden schnell serviert. Das ganze Servicepersonal bestand unglaublicherweise nur aus fünf jungen Frauen. Die Empfangsdame versorgte die Gäste mit Kaffee und Wasser, sodass die anderen vier das Essen für zeitweise hundert Gäste von der Küche in den Saal bringen mussten, dabei immer freundlich lächelnd. Bei meinen späteren Besuchen am Vormittag – ich hatte Nachtschicht – wurde mir dann klar, warum das Personal so gering war. Die Bezahlung der jungen Frauen erfolgte ausschließlich über das Trinkgeld! Jeden Vormittag fuhr ein VW-Bus mit mehreren Frauen auf den Parkplatz. War der Wirt nun mit den Leistungen der Frauen am Vortag nicht zufrieden, dann heuerte er eben ein oder zwei Frauen mehr an. Kostete ihn ja nichts. Nur die Frauen mussten dann das Trinkgeld durch mehrere Personen teilen. Dazu stand er nicht mal von seinem Stuhl auf, das wurde per Handzeichen erledigt. Bei uns in Deutschland war zu der Zeit das Wort Turnschuhgeneration in Mode, aber eher aus politischen Gründen – die Grünen waren im Kommen – oder als modischer Hit. Hier im Lokal war es bittere Realität!

Während des Essens erklärte mir Jo meine Aufgaben in der Nachtschicht. Jeden Vormittag gab es eine Teambesprechung, in der für uns als Prüfer die anstehenden Kontrollen und deren ungefähre Zeit bekannt gegeben wurde. An dieser Besprechung nahm Jo jeden Tag teil und trug die Termine in unser Schichtbuch ein. Ich brauchte daher erst um zwanzig Uhr zu erscheinen und konnte so im Schichtbuch die Aufgaben für die Nacht erfahren. Meine Aufgabe war zum Beispiel: Wenn eine Fußbodenplatte im Flugzeug geschlossen werden sollte, hatte ich vorher zu kontrollieren, ob alle Einbauten darunter in vorschriftsmäßigem Zustand waren. Hier liefen Steuerseile, Kabelbündel und die Stellmotoren waren hier untergebracht. Auch auf Verschmutzungen, liegengelassene Werkzeuge sowie Putzlappen war zu achten. Sobald die Fußbodenplatte geschlossen war, klebte ich ein Papiersiegel mit meiner Prüfnummer auf eine der Schrauben, sodass die Platte nicht geöffnet werden konnte, ohne das Siegel zu beschädigen. Die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Kollegen war sehr freundlich. Wir wurden nicht als Kontrolleure oder Aufseher betrachtet. Mit einem ehemaligen Deutschen freundete ich mich besonders an. Er hieß Carl, hatte in einem kleinen deutschen Betrieb Werkzeugmacher gelernt. Da er sehr ehrgeizig war, hatte er schon drei Jahre nach Ende seiner Lehrzeit die Werkzeugmacher-Meisterprüfung bestanden. Seine Hoffnung, den in der Firma frei werdenden Meisterposten zu erhalten, erfüllte sich aber nicht. Hierüber war Carl so enttäuscht, dass er nur noch weg wollte. Am weitesten weg erschien ihm Amerika. So war er bei dieser Firma gelandet. Stolz zeigte er hier seinen Meisterbrief. Das nützte ihm aber gar nichts, der Personalchef warf nicht mal einen Blick darauf, sagte aber, er könne gerne erst mal als Ausfeger anfangen, vernünftig Englisch lernen und sich Werkzeug anschaffen. Nach drei Jahren wurde er dann als vollwertiger Flugzeugmechaniker eingesetzt. Inzwischen war er zehn Jahre in der Firma, war verheiratet, hatte zwei Kinder und ein Haus in einer nicht allzu schönen Gegend.  Ein Großteil seines Einkommens ging für die Krankenversicherung seiner Kinder drauf. Er selber und seine Frau konnten sich keine Krankenversicherung leisten. Außerdem machte er sich Sorgen um die Schulbildung seiner Kinder. Er erzählte mir, dass die Schulen von den Bezirken, in denen man wohnte, bezahlt wurden. Also hatten die ärmsten Stadtbezirke die am schlechtesten ausgestatteten Schulen und die Lehrer mit den geringsten Gehältern. Da die Zeiten für meine Kontrollarbeiten schon immer am Tage festgelegt wurden, konnte ich meistens schon zwischen ein und zwei Uhr nachts gehen, um am River Walk den Tag ausklingen zu lassen.

Mein Kollege Jo schlug vor, am Sonntag die Ranch des ehemaligen Präsidenten Johnson zu besuchen. Sie lag bloß zwei Stunden mit dem Auto entfernt nördlich von San Antonio. Der Sonntagmorgen begann für mich schon mit einem besonderen Erlebnis. Im Speisesaal meines Hotels war ich mit meinem Frühstück beschäftigt, als mich eine plötzliche totale Stille im Raum aufblicken ließ. Ein sehr schwarzer Mann, etwa ein Meter achtzig groß, in einem hellen Anzug mit blauem Hemd und Krawatte und mit einer Aktentasche in der Hand kam durch den Mittelgang in den Saal. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, in den Gesichtern einiger Gäste konnte ich deutlich Empörung oder Entsetzen, besonders bei den Damen, bemerken. Die Aufregung legte sich erst, als zwei weiße  Männer von ihrem Tisch aufstanden und ihn herzlich begrüßten. Nun fiel mir auch auf, dass ich in dem Vier–Sterne-Hotel überhaupt noch keinen farbigen Gast gesehen hatte. Dafür aber fast ausschließlich farbiges Personal.

Jo stand natürlich pünktlich um zehn Uhr vor der Tür und unser Ausflug konnte beginnen. Die Straße war fast leer, wobei das Autofahren hier sowieso sehr entspannt war. Alle Wagen hatten einen Tempomat, der auf die vorgeschriebenen fünfundfünfzig Meilen Höchstgeschwindigkeit eingestellt wurde, sodass alle Autos mit der gleichen Geschwindigkeit fuhren. Es gab dadurch kein dichtes Auffahren oder riskantes Überholen. Auch die Dreißig-Meilen-Zonen wurden genauestens eingehalten. Weniger wegen permanenter Überwachungen, sondern wegen des hier herrschenden Verursacherrechts. Wenn man zum Beispiel mit überhöhter Geschwindigkeit einen Fußgänger verletzte, konnte daraus eine Millionen Dollar schwere Schadensersatzklage werden.

An der Straße gab es ungefähr alle zwanzig Meilen einen Drugstore für die Nahversorgung der umliegenden Bevölkerung und der Durchreisenden. Hier wollten wir ein paar Snacks und ein Sixpack Bier kaufen. In dem Laden, so groß wie eine Turnhalle, der sieben Tage die Woche und vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet war, fanden wir nur eine einzige Verkäuferin. Wir waren allerdings auch die einzigen Kunden. Snacks ja, Bier nein, gab sie uns zu verstehen. Bier durfte erst nach der Kirchzeit um elf Uhr verkauft werden, auch wenn es sowieso nur Light Bier mit einem halben Prozent Alkohol gab.

Je näher wir Johnson City kamen, desto auffälliger wurden die Schilder mit Johnson. Johnson Store, Johnson Pharmacy und so weiter. Die Stadt hatte etwa eintausend Einwohner und war gleichzeitig auch der Sitz der Bezirksverwaltung. Krankenhaus, Kirche und alle öffentlichen Gebäude hatten die Bezeichnung Johnson vorneweg. Die Ranch war aber noch vierzehn Meilen weiter westlich. Zur Besichtigung nahmen wir an einer Bustour durch das Gelände teil. Als Reiseleiterin hatten wir eine junge Frau, die außer in Englisch alles auch noch in Spanisch, Deutsch oder Französisch erklärte. Während der Präsidentschaft Johnsons war hier ein Abbild des Weißen Hauses in Washington gebaut worden. Daneben eine Landebahn für eine Boeing 707. An einer Fluss-Schleife des Pedernales River stand noch die erste Behausung von Johnsons Ur-Ur Eltern. Der Ranchbetrieb beschränkte sich auf sieben Quadratkilometer, wovon drei Quadratkilometer dem Staat gehörten. Ursprünglich wurden von der Ranch sechzig Quadratkilometer bewirtschaftet. Das Land hat er als Präsident großzügig dem Staat gespendet. In Wirklichkeit haben die Johnsons aber nur die fünf Quadratkilometer gekauft, die sie heute noch besitzen. Alles andere war freies Weideland, auf dem sie als erste ihre riesigen Rinderherden weiden ließen. Heute gibt es nur noch eine Rinderzuchtstation für verschiedene Rassen mit ihren gewaltigen Zuchtbullen, der eine Schulterhöhe von einmetersiebzig hatten. Sie wogen wohl eine Tonne oder etwas mehr. Unsere Reiseleiterin erzählte, dass hier noch immer zwölf Stunden am Tag gearbeitet wird und deshalb das hier verdiente Geld auch hier ausgegeben wird. Deshalb bleibt es auch immer schön im Schoße der Familie Johnson, denn wer will nach zwölf Stunden Arbeit noch fünfzig Meilen zum Einkaufen fahren.

Nach vier Wochen war mein Einsatz in Texas beendet. Es hat mir viele Einblicke in die schöne Natur dieses riesigen Landes gebracht, aber auch beklemmende Erkenntnisse über die soziale Situation eines durchschnittlichen amerikanischen Arbeiters. Waren ihre Vorfahren nicht mal ausgewandert um dem Fürstentum und der Leibeigenschaft in Europa zu entkommen?


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