Die verschlossene Bunkertür
Es muss im Frühjahr 1945 gewesen sein, als einer der letzten Bombenangriffe auf Hamburg erfolgte. Meine Mutter, mein einjähriger Bruder, meine Großeltern und ich, im zarten Alter von fünf Jahren, wohnten in einer Dreizimmerwohnung in der Lengerckestraße in Hamburg Wandsbek. Mein Vater fuhr in einer Strafkompanie zur See, sie mussten Munition nach Norwegen bringen. An meine Oma kann ich mich nur als an eine kleine verschrumpelte Frau erinnern, die immer in einem großen Sessel neben der Wohnzimmertür saß und nie ein Wort sagte. Der Opa war ein großer kräftiger Mann. Im Wohnzimmer hing ein Bild, auf dem er bei den Wandsbeker Husaren mit seinem Hengst Heros
über einen für zwölf Personen voll eingedeckten Esstisch sprang. Der Opa war aber fast nie zu Hause. Meine schönsten Erinnerungen an ihn sind die Momente, wenn er mich an seinen sonst verschlossenen Schreibtisch rief, die Tür aufschloss und seine Blechkapelle aufbaute. Es waren sechs Figuren, als Affen dargestellt und mit verschiedenen Instrumenten. Die Figuren waren mit einem Federaufzugswerk versehen und wurden von Hand aufgezogen.
Fünfzehn Jahre später, ich fuhr bereits zur See, habe ich ihn noch mal im Altersheim besucht und er baute seine Kapelle noch einmal für mich auf. Auch das Bild mit Heros
hing noch über seinem Bett. Beide Sachen sind jedoch nach seinem Tode aus dem Altersheim verschwunden.
Erinnern kann ich mich auch noch gut, dass wir Kinder immer im Treppenhaus spielten. Hier war es am längsten hell, es gab nämlich kein Dach mehr. Man konnte direkt in den Himmel sehen und das Ziehen der Wolken beobachten.
Die Nacht, in der die Bunkertür verschlossen war, begann wie so viele vorher. Auf der anderen Seite unseres Wohnblocks war ein Kleingartenverein und hier war ein starker Scheinwerfer aufgestellt. Wenn der bei uns ins Schlafzimmerfenster schien, war es trotz der Verdunkelungsrollos im Zimmer taghell. Kurz darauf heulten dann auch die Luftschutz Sirenen. Damit wurde die Bevölkerung aufgefordert, sich in die Keller oder Bunker zu begeben. Das Geräusch macht mir auch siebzig Jahre später noch Gänsehaut
.
In aller Eile wurde mein Bruder in den Kinderwagen gelegt, der kleine Koffer mit Papieren dazu gestopft und ich angezogen. Oma blieb wie bei jedem Alarm in ihrem Sessel sitzen. Opa war sowieso nicht da. Im Treppenhaus war schon reichlich Gedränge, da alle aus dem Vier-Stockwerke-Haus auf die Straße und in die Bunker wollten. Irgendjemand hat dann meiner Mutter geholfen, den Kinderwagen die Treppen herunter zu tragen. Nur ich hatte es nicht so eilig! Auf den Treppen lagen nämlich wunderschöne bunte Bilder von Autos, Flugzeugen und Schiffen. Die wurden von den feindlichen Flugzeugen abgeworfen und sollten Parolen verbreiten, wie schön doch das Leben sein würde, wenn wir den Krieg endlich beenden würden. Und da unser Haus kein Dach mehr hatte, lagen die Bilder haufenweise im Treppenhaus. Die musste ich erst mal einsammeln. Meine Mutter schrie von unten und eine Frau schubste mich dann runter. Auf das Fußende des Kinderwagens mit meinem Bruder darin war ein Brett gelegt, auf das ich gesetzt wurde. Die Straße war schon ziemlich leer und meine Mutter rannte mit uns in Richtung des zwei Straßen entfernten Bunkers. In dem kleinen überdachten Vorraum zur großen stählernen Bunkertür standen schon zwei Frauen mit Kinderwagen. Die Tür war geschlossen, davor stand ein älterer Bunkerwart mit einem Gewehr in der Hand, nicht auf dem Rücken. Es kamen noch ein paar Frauen mit Kindern dazu. Sie bettelten ihn an, beschimpfen und bedrohten ihn, aber er machte die Tür nicht wieder auf.
Ist Vorschrift
, Ist Vorschrift
, ich darf nicht, wehrte er sich. Daraufhin zogen sich die Mütter mit uns Kindern auf die Rückseite des Bunkers zurück. Es muss dann aber noch eine Weile mit dem Fliegerangriff gedauert haben, denn ich kann mich sehr gut daran erinnern, die bunten Bilder aus der Hosentasche geholt zu haben, woraufhin einige Frauen an zu kreischen fingen: Schmeiß die weg, schmeiß die weg, die sind alle vergiftet!
. So ein Quatsch
, dachte ich, die habe ich schon tagelang in der Tasche und bin gar nicht giftig.
Dann kamen die Bomber. Ohrenbetäubender Lärm, kreischende Menschen, der Boden unter uns zittert, die Bunkerwand, an der wir lehnen, vibriert. Ringsherum Bombeneinschläge, Feuer, Häuser brennen und dann gefühlte totale Stille, vielleicht sind es nur Sekunden. Der Staub legt sich und unsere kleine Gruppe geht nach vorn zum Bunkereingang. Die Bunkertür mit dem Vorbau ist verschwunden. Nichts bewegt sich.
Eine LuftmineAnmerkung der Redaktion:
Vermutlich hat es sich nicht um eine Luftmine, die gegen ungepanzerte Flächenziele verwendet wurden, sondern um eine bunkerbrechende Tallboy-Bombe gehandelt. ist durch das Bunkerdach gebrochen. Alle, die im Bunker waren, sind tot.