Worüber nicht gesprochen wurde …
Achtzig Jahre alt musste ich werden, bevor ich von den Leiden meiner Eltern während der Nazizeit und danach erfuhr. Mein Enkel Björn studiert Archäologie und hat damit auch Zugang zum Staatsarchiv Hamburg. Hier hat er 2020 die Akten seines Urgroßvaters, meines Vaters, gefunden. Unser Vater hat nie über diese Zeit gesprochen. Unsere Mutter hat mal, wenn das Gespräch darauf kam erwähnt, dass Vater im Gefängnis war, weil er in Rotterdam als Seemann 1934 mit Freunden einem jüdischen Ehepaar zur Flucht verholfen hat. Mehr haben wir Kinder aber nicht zu hören bekommen, obwohl sich das Verfahren über neunzehn Jahre hinzog, von 1946 bis 1965. Über die Ereignisse dieser Zeit habe ich erst durch die Akten des Staatsarchivs erfahren.
Aus den Akten geht hervor, dass unser Vater nach seiner Lehre als Maschinenbauer drei Jahre als Ingenieur-Assistent bei der Bremer Reederei Deutsche Dampfschifffahrts-Gesellschaft Hansa
auf verschiedenen Schiffen gefahren ist. Ab September 1934 wurde er von der Reederei beurlaubt, um sein Studium zum Schiffsingenieur in Hamburg zu beginnen. Kurz vor der Prüfung im zweiten Semester wurde er im Juni 1935 von der Gestapo verhaftet, neun Monate nach der geleisteten Fluchthilfe in Rotterdam. Seine Verlobte, unsere Mutter, hat sich gewundert, dass er zu ihrer Verabredung nicht gekommen war. Sie fuhr mit dem Fahrrad von Wandsbek zum Großneumarkt, wo ihre Schwester Else als Kriegerwitwe des Ersten Weltkriegs eine kleine Pension und einen Mittagstisch für Studenten betrieb. Hier hatte unser Vater auch ein möbliertes Zimmer gemietet. Else öffnete die Wohnungstür mit kalkweißem Gesicht und entsetzten Augen. Im ersten Augenblick verstand unsere Mutter gar nichts, bis sie die Tür zu seinem Zimmer öffnete.
Die Verhaftung war durch vier SA-Männer erfolgt, die ihn abgeholt und sein Zimmer verwüstet hatten. Zerrissene Bücher und Hefte, dazwischen zerschlagenes Frühstückgeschirr, Sofa, Bettzeug und Matratze waren aufgeschlitzt. Er kam in sogenannte Schutzhaft
ins Hamburger Untersuchungsgefängnis. Vorgeworfen wurde ihm Vorbereitung zum Hochverrat
. Während der fünfmonatigen Verhöre durch die Gestapo kam es, durch Zeugenaussagen belegt, zu Folterungen. Schläge, Fußtritte mit genagelten Schuhen, Tritte ins Gesicht bis zum vollständigen Zusammenbruch. Am 19. November 1935 fand dann eine Gerichtsverhandlung statt. Er wurde verurteilt zu eineinhalb Jahren Gefängnis, der Aberkennung seines Studiums, dem Verbot, weiter zur See zu fahren. Zusätzlich wurden seine Ersparnisse für das Studium beschlagnahmt. Zwischen Hamburg-Fuhlsbüttel, Bremen und Wolfenbüttel hat er die Zeit absitzen müssen.
Am 21. Dezember 1935 wurde er aus dem Gefängnis in Wolfenbüttel vollkommen mittellos entlassen. Das Studium- sowie das Seefahrtverbot blieben aber bestehen, was einem Berufsverbot gleichkam. Durch Fürsprache des Verbandes Deutscher Reeder wurde das Seefahrtverbot am 20. Januar 1937 wegen außerordentlichem Mangel an Seefahrtpersonal aufgehoben. Die Gestapo teilte ihm dann noch mit, dass er sich dieser Vergünstigung würdig erweisen und am Aufbau des neuen Deutschlands mitarbeiten solle.
Bei seiner früheren Reederei konnte er nicht wieder arbeiten. Ihm wurde von der DDG Hansa Bremen mitgeteilt, dass eine Anstellung nicht möglich sei, da er wegen Hochverrats verurteilt und bestraft worden sei.
Am 25. Januar 1937 konnte er dann auf der Ilona Siemers
als 3. Ingenieur die Seefahrt wieder aufnehmen. Die Christliche Seefahrt war aber der Kriegsmarine unterstellt, deshalb glich diese Anstellung einer Versetzung in eine Strafkompanie, da mit dem Schiff nur Munition und Sprengstoff von Deutschland nach Norwegen transportiert wurde.
Durch Fürsprache einiger Dozenten der Schiffsingenieur-Schule in Hamburg, er hatte alle bisherigen Semester mit der Note Gut
abgeschossen, wurde das Studierverbot aufgehoben und er konnte sein Studium im Wintersemester 1937/1938 fortsetzen. Allerdings wurde nur ein einziges Semester der vorherigen Studienzeiten anerkannt. Vom August 1938 bis zum Juni 1941 fuhr er als 2. Ingenieur auf Schiffen der Reederei G.J.H. Siemers & Co., vom 1. Juni 1941 bis zum 31. Mai 1945 dann als 1. Ingenieur.
Im Juli 1945 geriet er in norwegische Gefangenschaft. Zu der Zeit fuhr er als 1. Ingenieur auf dem Siemers-Schiff Bug
. Hier blieb er bis zum 31. Dezember 1948 als Kriegsgefangener unter britischer Aufsicht. Sie brachten mit ihrem Schiff deutsche Landser von Norwegen zurück nach Deutschland, wo diese aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurden. Die Seeleute blieben aber weiter Kriegsgefangene der englischen Besatzungsmacht. Als Gefangener der Engländer erhielt er natürlich kein Gehalt, obwohl er als 1. Ingenieur auf dem Schiff arbeitete. Damit hatte auch unsere Mutter, inzwischen mit zwei Kindern, kein Geld für ihren Lebensunterhalt mehr.
Unsere Eltern hatten nach Abschluss seines Studiums am 23. April 1938 geheiratet. Das Standesamt gab ihnen noch schriftlich mit auf den Weg:
Art zu Art
Nur zwei Menschen gleicher Art gehören zusammen,
soll Glück und Gedeihen verbürgt sein für ein
gemeinsames Leben und für die Zukunft des BlutesMit den Nürnberger Gesetzen – auch als Nürnberger Rassengesetze oder Ariergesetze bezeichnet – institutionalisierten die Nationalsozialisten ihre antisemitische und rassistische Ideologie auf juristischer Grundlage. Sie wurden anlässlich des 7. Reichsparteitages der NSDAP, des sogenanntenReichsparteitags der Freiheit, am frühen Abend (17.45 Uhr) des 15. Septembers 1935 einstimmig vom Reichstag angenommen, der eigens zu diesem Zweck telegrafisch nach Nürnberg einberufen worden war. Sie umfassten, das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (RGBl. I S. 1146)[1] – das sogenannte Blutschutzgesetz – und das Reichsbürgergesetz (RGBl. I S. 1146)..
Unsere Mutter bat die Behörden, die unter britischer Verwaltung standen, um eine Sonderzuteilung von Lebensmitteln, wie es auch im Falle der Hinterbliebenenversorgung geschah. Sie berichtete, dass sie und ihre Kinder dramatisch unterernährt waren. Ihr fünfjähriger Sohn, ich, Bernd, wog nur noch 16 kg, hatte Hiluslymphknoten-Tuberkulose und stand unter Aufsicht der Tuberkulosefürsorge. Der zweijährige Sohn, mein Bruder Jens, litt unter Rachitis. Sie selbst wog bei einer Größe von einem Meter dreiundsechzig nur noch 43 kg. Eine Antwort hat sie aber nie erhalten, auch keine Lebensmittel.
Überlebt haben wir nur, weil das Schiff, mit dem unser Vater die Landser von Norwegen nach Hamburg gebracht hat, alle zehn Tage in Hamburg anlegte. Die Besatzungsmitglieder bekamen umschichtig einen Tag Urlaub, durften aber die Stadt nicht verlassen. Da die meisten der Seeleute von außerhalb Hamburgs kamen, benutzten sie ihren freien Tag, um uns in Wandsbek, wo wir in einem halb zerbombten Haus bei den Eltern unserer Mutter wohnten, zu besuchen. Geld hatten sie auch nicht, aber sie brachten Lebensmittel mit, davon gab es an Bord genug. Ich kann mich erinnern, dass mein Patenonkel Alfred mir eine Tafel Schokolade mitbrachte, die erste meines Lebens, und wie er mich und meinen Bruder abwechselnd mit Grießbrei fütterte. Dabei hatten wir riesigen Spaß, während unsere Mutter bei irgendeinem Geschäft Schlange stand, um irgendwas zu kaufen, was es gerade gab.
Im April 1946 reichte unser Vater den ersten Antrag auf Wiedergutmachung wegen Widerstands gegen den Nazismus bei der Beratungsstelle für Wiedergutmachung ein. Eine Antwort hat er nicht erhalten.
Im Oktober 1949 reichte er, diesmal mit Hilfe eines Anwalts, erneut einen Antrag beim Amt für Wiedergutmachung ein. Mit diesem Antrag wurde ein Betrag von 19.000 D-Mark als Wiedergutmachung eingefordert. Begründet wurde er mit dem, gegen die Reichsmark errechneten Verdienstausfall für eineinhalb Jahre, der Beschlagnahme der Ersparnisse und den nicht gezahlten Versicherungsbeiträgen zur Angestelltenversicherung.
Im Juli 1950 wurde ihm vom Amt für Wiedergutmachung eine Entschädigung von 2.700 D-Mark zugesprochen, wobei als mindernde Begründung erwähnt wurde, dass er in der Zwischenzeit erneut straffällig geworden war, was zu einer Geldstrafe von 10 D-Mark führte, wegen der Entwendung vom Obst und Feldfrüchten.
Das Amt bot ihm wegen seiner anerkannten wirtschaftlichen und sozialen Notlage einen Vorschuss von 500 D-Mark auf die 2.700 D-Mark an.
Im September 1959 wurde nun sein Fall von der Sozialbehörde Hamburg neu bewertet. Es wurde ihm vorgehalten, dass er dem NS-Studentenbund und dem NS-Verein Deutscher Ingenieure angehört habe. Diese Argumentation muss 1959 von einem Alt-Nazi verfasst worden sein, denn den Studentenbund und den Verein Deutscher-Ingenieure gab es schon lange, sie wurden nur durch die Gleichschaltung aller Vereine und Gemeinschaften zu NS-Organisationen. Außerdem konnte man zu der Zeit ohne Mitgliedschaft im NS-Studentenbund nirgends studieren.
Es wurde nunmehr eine Entschädigung von 5.000 D-Mark angeboten. Im Januar 1966 wurde wahrscheinlich ein Vergleich angenommen, denn hier enden die Aufzeichnungen in den Akten. Was waren 5.000 D-Mark 1966 noch wert bei einem Schaden von 19.000 D-Mark im Jahr 1949?
Der gesamte Schriftverkehr lässt mich heute vermuten, dass nach dem Krieg sehr viele Alt-NazisIn der Liste werden Politiker aufgeführt, die Mitglied der NSDAP und/oder einer ihrer Gliederungen SA oder SS waren und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Rolle in der Politik spielten.Klick für Wikipedia in den Ämtern und Behörden wieder zu Amt und Würden kamen.