Mit dem Schiff in die neuen Bundesländer
Als junge Familie mit zwei kleinen Kindern, und ich arbeitete auch noch im Schichtdienst, suchten wir nach einer gemeinsamen Freizeitgestaltung. Wir kauften uns ein Kanu. Damit waren wir zeitlich unabhängig und es war nur fünfzehn Minuten von unserer Wohnung bis zum Liegeplatz. Nachdem wir mit diesem Boot alle gemeinsam die Alster und ihre schönen Kanäle erforscht hatten, begannen wir mit dem Segeln auf der Alster, der Elbe und der Nord- und Ostsee, zwanzig Jahre lang.
Als 1989 die Mauer fiel, war uns klar, dass sich hier ein riesiges Wasserwandergebiet eröffnen würde. Also machten wir uns auf die Suche nach einem Motorboot, welches unseren Ansprüchen und finanziellen Möglichkeiten entsprach. Es sollte aber ein Stahlschiff und kein Joghurtbecher
sein.
Fündig wurden wir bei einem Schiff aus den Niederlanden. Alles war inklusive, von der Bratpfanne bis zur Toilette. Zehn Meter lang und drei Meter breit. Wir tauften es auf den Namen Klüntje
nach dem Norddeutschen und niederländischen Begriff für Kandis
.
Unsere erste Reise in die neuen Bundesländer begannen wir im Frühjahr 1992, von der Billwerder Bucht aus elbaufwärts. Geplant war die Tour über die Elbe bis Dömitz und dann weiter durch die Havel nach Berlin. Die Strömung der Elbe war aber so stark, dass wir mit unserem 50-PS-Motor nur sehr mühselig vorankamen.
Also, nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel
, oder mit Wilhelm Busch gesagt: Schön ist es auch anderswo, und hier bin ich sowieso
, fuhren wir bei Lauenburg in den Elbe-Seitenkanal nach Süden.
Mit dem Schiff durch die Lüneburger Heide! So einfach war es dann aber doch nicht. Es waren zwei gewaltige Schleusen zu bewältigen. Zuerst kam das Schiffshebewerk Scharnebeck bei Lüneburg. Man fährt hier mit dem Schiff in einen Behälter von ungefähr hundert Metern Länge und zwölf Metern Breite. Der ganze Behälter mit den Schiffen wird dann, wie ein Fahrstuhl, 38 Meter in die Höhe gefahren. Als Gegengewicht wird gleichzeitig ein gleich großer Behälter heruntergefahren. Die nächste Schleuse ist dann bei Uelzen. Wir fuhren mit unserem kleinen Schiffchen in die riesige Schleuse. Rechts und links ragten 23 Meter hohe und mit Algen bewachsene Wände empor. Zum Glück war die Schleuse zum Festmachen der Leinen mit Pollern ausgestattet, die mit in die Höhe fuhren, sodass ein Umsetzen der Leinen während des rasanten Anstiegs des Wassers nicht nötig war. Nun waren wir 61 Meter höher als die Elbe. So hoch, dass wir auf dem Wasserweg das Weserbergland hätten durchqueren können. Der Kanal selbst ist 115 Kilometer lang, ziemlich eintönig, bis auf die Wasserbrücke über die Weser, welche wir vom Schiff aus unter uns sehen konnten. Bei Wolfsburg gelangten wir dann in den Mittellandkanal. Richtung Magdeburg ging es jetzt in den Schleusen wieder hinab. Die Schleuse in Magdeburg brachte uns wieder auf die Elbe. An einer Wasserstraßenbrücke, welche den Mittellandkanal mit dem Oder-Havel-Gebiet verbindet, wurde noch gebaut, wir haben sie später oft genutzt.
Ein paar Kilometer elbabwärts gelangten wir zur Schleuse Niegripp, welche in einen Kanal führte, der sich bis in den Plauer See erstreckte. Direkt hinter der Schleuse gab es einen Naturhafen. Er sah aus wie ein Baggersee, hatte nur einen kleinen Anlegesteg, an dem ein Ruderboot lag. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Es war 1992 unser erster und einziger Hafen, in dem wir in der ehemaligen DDR keine Hafengebühr bezahlen mussten. Aber nun begann sich ein Naturparadies für uns zu eröffnen. Der Kanal war kaum genutzt und Tourismus gab es bis dahin auch nicht, sodass auch keine Straßen zum Wasser führten. Hier war überall unberührte Natur. Wir konnten anlegen, wo es uns gefiel. Abends waren dann hier vom Biber bis zum Hirsch viele Tiere zu sehen. Diese wunderschöne Wasserwelt erkundeten wir acht Sommer lang mit unserem Schiff. Von Magdeburg bis Eisenhüttenstadt, die Oder abwärts bis Stettin und über das Haff in die noch ursprüngliche Natur der Peene.
In den folgenden Jahren wurde das gesamte Gebiet dann aber nach und nach, meistens recht stümperhaft, kommerzialisiert. Als Erstes wurden die alten Schleusenwärter, seit Jahrzehnten im Amt, entlassen. Da diese in eigenen Häusern neben den Schleusen wohnten, mussten nun neue Häuser für die neuen, jüngeren Schleusenwärter gebaut werden. Begründet wurde das mit dem höheren Verkehrsaufkommen durch Sportboote. Nach und nach wurden dann aber die Schleusen auf Selbstbedienung umgestellt. Eine kleine Katastrophe. Da nun kein Schleusenwärter mehr die Boote einsortierten, und jeder Freizeitkapitän nach langem Warten, wenn er in der Schleuse war, an den Bedienstangen für die Schleuse herumfummelte. Meistens mit dem Erfolg, dass die zwei Monteure, welche den ganzen Tag in einem Auto daneben saßen, eingreifen mussten. Die neuen Häuser standen nun leer und ließen sich auch nicht verkaufen. Wer wollte schon neben einer Schleuse wohnen, wo an sieben Tagen der Woche geschimpft und gepöbelt wird.
Der Gipfel war dann, als die großen Vercharterer das Fahren ihrer Schiffe ohne Führerschein durchsetzten. Auch die Hafengebühren waren unverhältnismäßig gestiegen, weshalb wir uns nach acht Sommern neuen Gewässern in den Niederlanden zuwandten. Hier war zwar auch alles kommerziell, aber perfekt, und wir Wasserwanderer wurden sehr zuvorkommend behandelt.
Doch bis hierher war es nur ein Vorwort, eigentlich wollte ich über die Begegnungen mit den Menschen in diesen Jahren in den neuen Bundesländern berichten.
Unser erster Hafen war Genthin, eine Kleinstadt mit etwa zehntausend Einwohnern. Kurz vor dem Hafen war eine Kraftstoffleitung an meinem Motor gebrochen, sodass ich erst mal an der Böschung anlegen musste. Auf der Brücke über mir hielt ein ADAC-Wagen. Den Automobilclub gab es dort zu meinem Erstaunen schon 1992. Ein sehr freundlicher Mann sah sich das Problem an, baute die Leitung aus und sagte Ich fahr mal zum Schrottplatz und sehe, ob ich was Passendes finde
. Nach einer Stunde war er wieder da und baute die Leitung ein. Ein Trinkgeld oder eine Bezahlung lehnte er mit der Begründung ab, sie sind ja im ADAC und es ist meine Aufgabe, den Mitgliedern zu helfen. Am Nachmittag bummelten wir dann durch die Stadt und landeten in einer kleinen Kneipe, in der sich die Nachbarn trafen. Ich staunte, hier wurde tatsächlich Astra- und Holsten-Bier ausgeschenkt. Nachdem ich den Wirt darauf angesprochen hatte, setzte er sich zu uns an den Tisch. Meine Gäste verlangen das, sie glauben immer noch, das Wohl und das Gute kommt aus dem Westen und sie glauben an Kohls vollmundige Ansage von den ‚blühenden Landschaften‘
. Dann erzählte uns der Wirt von den tatsächlichen Veränderungen in seiner Stadt.
Mitarbeiter ehemaliger HO-Läden wurden von westlichen Vertretern überredet, sich mit den Läden selbstständig zu machen. Dass ihnen dabei Verträge mit Mindestabnahmen untergeschoben wurden, wurde ihnen erst klar, als die gleichen Firmen vor der Stadt Zelte mit Waren zu Dumpingpreisen eröffneten. So konnten sie die Mindestabnahme natürlich nicht mehr erfüllen. Sie wurden verklagt und hatten mit einem Mal nicht zu beziffernde Schulden. Heerscharen von skrupellosen Versicherungsvertretern überschwemmten die neuen Bundesländer und schwatzten den Bürgern sinnlose Versicherungen auf. Autohändler brachten ihre Haldenbestände auf den Markt und sie wurden ihnen aus der Hand gerissen. Da die Straßen für die Geschwindigkeit dieser Autos gar nicht geeignet waren, fuhren sich viele junge Leute mit den viel zu schnellen Autos zu Tode.
Unser zweiter Hafen, in dem wir anlegten, war am Plauer See. Hier trafen wir auf einen Hafenmeister, der als einziger in all den Jahren unumwunden zugab ja, ich war in der NVA und auf der Elbe im Grenzschutz eingesetzt
. Er war sehr nett und hilfsbereit, brachte mich mit seinem Trabbi zu einer weit entfernten Auffüllstation für meine Gasflasche.
Zufällig waren wir mit unserem Schiff in Lübz, als dort die alte Brauerei wiedereröffnet wurde. Mit Girlanden und Fahnen geschmückt, war der Hof mit Biertischen eingerichtet. Zudem war Freibier angekündigt, da mussten wir natürlich hin. Zu unserem Erstaunen waren außer ein paar vermutlichen Ehrengästen nur wir beide hier. Der Hafenmeister klärte uns dann darüber auf. Die Lübzer waren sehr erbost über diese Familie. Zu DDR-Zeiten waren sie in den Westen gegangen und hatten dort hohe Entschädigungssummen erhalten. Nun kamen sie zurück und hatten die Gebäude von der Treuhand zum symbolischen Preis von einem Euro zurückbekommen, dazu noch viel Geld von der Kreditanstalt für Wiederaufbau erhalten.
Ein anderes Beispiel für die Ungerechtigkeiten: Ein Wassersportler, den ich bei Frankfurt (Oder) kennenlernte, hatte eine Datscha
auf einem ehemaligen großen Gut, welches vor dem Krieg einem Juden gehörte. Der Jude wurde ermordet und das Gut übernahm ein hochrangiger SS-Mann. Nach der Wende erhob ein Enkel dieses SS-Mannes, ein Zahnarzt aus Dortmund, Anspruch auf das Gelände und bekam vor einem Gericht recht.
Ein weiteres Erlebnis: In einem Restaurant sitzen am Nebentisch drei junge Leute vom Typ Juppy
und unterhalten sich lautstark über die Blödheit der DDR-Bürger. Sie kaufen Landmaschinen der ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften auf und prahlen damit, dass sich immer irgendein ehemaliger Mitarbeiter der LPG dazu überreden lässt, für ein paar Scheine die Maschinen zu verkaufen. Zum Glück war meine Frau Petra dabei, ich hätte denen gerne die Fresse poliert, aber sie hielt mich zurück.
Und Tränen konnten mir kommen, wenn wir auf ehemalige Wassersportzentren stießen. Trainer und Hausmeister waren entlassen worden. Die Scheiben eingeschlagen. Im Winter wurde nicht geheizt, wodurch Wasserrohre geplatzt waren und Schimmel sich breit gemacht hatte. Die wunderschönen Ruderrennboote waren mutwillig beschädigt worden oder vergammelt. Die Veränderungen im Verhalten der Bevölkerung konnten wir besonders bei einem Wassersportverein am Werbellinsee erleben. Auf Empfehlung von Freunden machten wir uns 1993 auf den Weg dorthin. Der Zugang vom Oder-Hafenkanal zum See führte über eine schmale, flache Durchfahrt. Einheimische sagten uns, da kommt ihr mit euren 60 Zentimeter Tiefgang nicht durch
. Wir versuchten es trotzdem. Meter für Meter tasteten wir uns voran. Das Echolot zeigte noch zehn Zentimeter zwischen Schiff und Grund an. Dann war es geschafft, vor uns lag ein wunderschöner großer See. Der besagte Verein lag am Nordende des Sees in Joachimsthal, eingebettet in ein riesiges naturbelassenes Waldgebiet. Na ja, war ja auch bis 1945 Görings Jagdgebiet. Teile seines Jagdschlosses sind noch immer zu besichtigen. Bei der Ankunft wurden wir etwas misstrauisch beobachtet, mit unserem großen Schiff und dann noch aus dem Westen. Nach ein paar Bier war aber das Eis gebrochen und wir wurden hier herzlich aufgenommen. Die Vereinsmitglieder waren überwiegend Berufsschullehrer oder Mitarbeiter aus umliegenden Industriebetrieben. Wir hatten den Eindruck eines harmonischen Vereinslebens. Es gab eine Jugendabteilung mit sehr gepflegten Booten. Ein schönes Vereinshaus mit Duschen, Toiletten und Aufenthaltsräumen. Eine große Terrasse mit langen Tischen und einem gemauerten Grill. Hier trafen sich jeden Abend die Vereinsmitglieder, und auch wir als Gäste wurden immer herzlich begrüßt. Ein Erlebnis aus dieser Zeit habe ich noch in Erinnerung:
Eine Gruppe Wanderruderer hatte sich im Verein telefonisch angemeldet und um Reservierung der Terrasse gebeten. Dann kamen sie, acht Frauen, Männer und ein Steuermann nahmen die Terrasse in Besitz. Gleichzeitig hielt an der Straße ein Hotelauto an und servierte den Damen und Herren ihren Nachmittagssnack. Kurz darauf tauchte ein Kleinbus mit Anhänger auf. Das Ruderboot wurde auf den Anhänger verladen, aber bitte doch nicht durch die Ruderer, die stiegen nämlich in den Bus, um sich in ihr Hotel bringen zu lassen, nicht ohne den Hinweis, dass wir uns nun an den Resten ihres Mahls bedienen dürfen. Ich will es kurz machen. Sechs Jahre später im gleichen Verein. Die Zufahrt zum Werbellinsee war großzügig ausgebaggert worden. Im Verein gab es jetzt große Anlegestege und entsprechend große Schiffe. Was es nicht mehr gab, war die Gemeinschaft. Keine gemeinsamen Treffen auf der Terrasse mehr. Wer den Grill benutzen wollte, musste sich vorher in eine Liste eintragen. Es gab viel Gemecker und Genörgel über das, was die Anderen alles verkehrt machten.
Otto, den ich seit unserem ersten Besuch kannte und der nach unserem Eindruck mit Paul befreundet war, erklärte uns dann die neue Situation. Er, Otto, konnte Holz besorgen, Paul hatte Nägel in allen Größen. Nun, nach der Wende, hatten aber alle Berufsschullehrer ein gutes Einkommen und arbeiteten meistens noch als Gutachter oder Berater. Es gab ja jetzt überall Baumärkte. Paul konnte sich also hier Holz kaufen und Otto seine Nägel. Die Tauschgeschäfte brauchte also keiner mehr. Otto konnte sich dann aber nicht verkneifen uns zu sagen, den Paul konnte ich noch nie leiden
.
Aufgefallen ist mir dann noch, dass es Grundstücke mit direktem Zugang zum See gab, mit protzigen Villen und eigenen Anlegestegen bebaut. Der freche Versuch von mir, hier mal anzulegen, wurde, bevor wir die erste Leine an Land gebracht hatten, von einem Wachmann unterbunden. Er scheute sich auch nicht sich so zu drehen, dass wir seine Pistole am Gürtel sehen konnten.
Eines Abends hatte ich dann im Verein die Gelegenheit, mit dem SPD-Bürgermeister von Joachimsthal zu sprechen. Mein Hinweis, dass es doch ein Bundesgesetz gäbe, das öffentliche Gewässer auch öffentlich zugänglich sein müssen, wie in Hamburg, wo schon nach dem Krieg solche Grundstücke enteignet wurden. Das sei ihm bekannt, sagte er, aber die Gemeinde brauche das Geld, um die dringendsten Strukturprobleme zu lösen. Er hoffe aber, dass sich dieses Problem später korrigieren lasse. Mein Fazit; Kohls blühende Landschaften
Der Begriff blühende Landschaften
war 1990 die bildhafte Vision des damaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl als ökonomische Zukunftsperspektive für die neuen Bundesländer
.
In Ostdeutschland ist ein zweites Bonmot entstanden, das oft im gleichen Zusammenhang verwendet wird: Beleuchtete Wiesen
. Gemeint sind Wiesen, auf denen Gewerbegebiets-Infrastruktur (Straßen, Straßenlaternen, Kanalisation) gebaut wurde, bevor man Käufer für die Gewerbeflächen hatte – in manche Gewerbegebiete kamen nie Käufer, weil das Angebot die Nachfrage bei weitem überstieg.Klick für Wikipedia waren vor allem die Kassen geldgieriger Konzerne und Aktionäre.
Ein Nachtrag:
Jahre später machte ich mit meinen Enkeln eine Tour mit einem Charterboot durch die Berliner Gewässer. Vor Rückgabe des Bootes musste der Tank aufgefüllt und der Fäkalientank entleert werden. Ein äußerst unfreundlicher Hafenmeister hatte diese Arbeiten durchzuführen. Wir hatten uns in der Zwischenzeit in eine Eisdiele oberhalb des Hafens zurückgezogen. Hier erfuhren wir nun, dass der Hafenmeister ein ehemaliger NVA-Major war, der seine geringen Einkünfte durch diese Arbeit aufbesserte.