Die Großmutter
Diese Geschichte über meine Urgroßmutter beschreibt eine Schifffahrt von Burg auf Fehmarn nach Heiligenhafen im Jahr 1920
Bernd Herzog 13.11.2014
Als meine Großmutter achtzig Jahre alt wurde, war ich während der Herbstferien bei den Verwandten auf der Insel Fehmarn zu Besuch, wo meine Großmutter gerade in der Kost
war.
Die Großeltern hatten zwölf Kinder großgezogen. Das Zwillingspaar Anne und Grete war mit neunzehn Jahren an der Tuberkulose gestorben, zehn Kinder lebten noch. Da der Großvater verstorben war und die Großmutter keinerlei Rente hatte, musste sie die letzten Jahre bei ihren Kindern in Kost und Logis
verbringen. Das hieß für sie, alle vier Wochen zu einem anderen ihrer zehn Kinder reisen. Länger konnten oder wollten die Kinder sie nicht durchfüttern
wie sie es nannten. So musste denn die Großmutter mehrere Male im Jahr vom Festland nach Fehmarn mit einem kleinen Dampfer oder einem Fischerboot — das einem ihrer Schwiegersöhne gehörte — und wieder zurück aufs Festland fahren.
Einen Tag nach ihrem achtzigsten Geburtstag wurde sie wieder auf ein Schiff gebracht. Weil die Großmutter nun nicht mehr bleiben konnte, mochte auch ich nicht mehr bei den Verwandten bleiben. So gingen wir beide an Bord des kleinen Fährdampfers, es war Mitte Oktober, ein kalter stürmischer Herbsttag. Als wir mitten im Fehmarnsund waren, schlugen die Wellen hoch über Bord. Der Dampfer schlingerte und stampfte in der aufgewühlten See, sodass die meisten Feriengäste bald über der Reling hingen und Gott Neptun opferten. Da es die letzte Fahrt des kleinen Schiffes in jenem Jahr war, befand sich auch eine fünfköpfige Musikkapelle an Bord, die zurück zum Festland wollte. Trotz des hohen Wellenganges spielten die Musiker unentwegt flotte Melodien. Eine ganze Weile hatten die Fahrgäste sich bemüht, ihre Übelkeit zu unterdrücken, aber als Wind und Wogen mit dem Schiff spielten, hing auch der letzte Fahrgast über der Reling. Nur meine Großmutter saß kerzengerade und verzog keine Miene. Streng und ernst schaute sie auf die Leute, die so großzügig dem Meergott opferten.
Als die Musiker eine kleine Pause machten, stand sie auf und ging zu ihnen. Mir befahl sie mit einer Handbewegung, auf meinem Platz zu bleiben. Sie wechselte einige Worte mit dem Kapellmeister. Daraufhin setzte die Musik ein mit dem Heimatlied Schleswig-Holstein, meerumschlungen, deutscher Sitte hohe Wacht
. Großmutter stand fest und hoch aufgerichtet neben der Kapelle und sang mit einer volltönenden, etwas dunklen Stimme ihr Heimatlied. Aus jedem Wort und Ton konnte man den Stolz auf ihre Heimat heraushören. Schon bei der ersten Strophe drehten sich einige Leute erstaunt zu der alten Frau um, die nicht einmal einen Mantel besaß, sondern gegen Wind, Sturm und Kälte nur durch ein schwarzes Umschlagtuch geschützt war. Als sie bei der dritten Strophe war, hing niemand von den Fahrgästen mehr über der Reling. Sie waren alle so von dieser imponierenden Erscheinung fasziniert, dass einer nach dem anderen still seinen Platz aufsuchte und die Seekrankheit völlig vergaß. Als die Großmutter die vierte Strophe des Liedes beendet hatte, lief das Schiff in den Hafen von Heiligenhafen ein, wo sie die nächsten vier Wochen leben sollte. Ich habe ein Leben lang dieses Bild einer stolzen, ungebrochenen Frau in Sturm und hohen Wellengang vor Augen. Diese vier Strophen des Schleswig-Holstein Liedes habe ich nie vergessen.
Wanke nicht, mein Vaterland
Strophe 1
Schleswig-Holstein, meerumschlungen,
deutscher Sitte hohe Wacht,
wahre treu, was schwer errungen,
bis ein schönrer Morgen tagt!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
wanke nicht, mein Vaterland
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
wanke nicht, mein Vaterland
Strophe 2
Ob auch wild die Brandung tose,
Flut auf Flut, von Bai zu Bai:
O, lass blüh’n in deinem Schoße
deutsche Tugend, deutsche Treu.
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
bleibe treu, mein Vaterland!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
bleibe treu, mein Vaterland!
Strophe 3
Doch wenn inn’re Stürme wüten,
drohend sich der Nord erhebt,
schütze Gott die holden Blüten,
die ein mildrer Süd belebt!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
stehe fest, mein Vaterland!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
stehe fest, mein Vaterland!
Strophe 4
Gott ist stark auch in den Schwachen,
wenn sie gläubig ihm vertrau’n;
zage nimmer, und dein Nachen
wird trotz Sturm den Hafen schau’n!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
harre aus, mein Vaterland!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
harre aus, mein Vaterland!
Strophe 5
Von der Woge, die sich bäumet
längs dem Belt am Ostseestrand,
bis zur Flut die ruhlos schäumet
an der Düne flücht’gem Sand. —
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
stehe fest, mein Vaterland!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
stehe fest, mein Vaterland!
Strophe 6
Und wo an des Landes Marken
sinnend blinkt die Königsau,
und wo rauschend stolze Barken
elbwärts ziehn zum Holstengau. —
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
bleibe treu, mein Vaterland!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
bleibe treu, mein Vaterland!
Strophe 7
Teures Land, du Doppeleiche,
unter einer Krone Dach,
stehe fest und nimmer weiche,
wie der Feind auch dräuen mag!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
wanke nicht, mein Vaterland!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
wanke nicht, mein Vaterland!