Kaviar-Nostalgie
Es war im Nachkriegs-Moskau, 1946 wurden die Lebensmittelkarten abgeschafft und in unserer Nähe hatte ein Fischgeschäft wiedereröffnet. Es lockte mich dorthin, unwiderstehlich. Das Geschäft war nicht groß, aber innen sehr schön – Säulen, Wände mit Kacheln bedeckt, ein großes Aquarium mit grünen Pflanzen und Goldfischchen. Und dort hat es wunderbar gerochen nach geräuchertem Fisch. Ich ging dort hin, wie man in ein Museum zur Ausstellung geht.
Auf der Kühltheke hinter dem Glas standen zwei große, weiß emaillierte Schüsseln mit schwarzem und rotem Kaviar und auf Eis lagen geräucherte Fische: Beluga, Stör, Sternhausen, Lachs, Balyk, geräucherter Störrücken. Ich kann mich noch an die Preise erinnern. Schwarzer Kaviar kostete 100 Rubel pro Kilo, man nannte ihn körniger
Kaviar, der gepresste
war billiger. Der rote Kaviar kostete 75 Rubel, die noblen Fische ungefähr 30 Rubel. Teuer, wenn man bedenkt, dass meine Rente für den verstorbenen Vater 140 Rubel monatlich war, Mutter verdiente damals 1000 Rubel als Ingenieurin, und eine Putzfrau nur 300 Rubel. Aber selten und in kleinen Mengen konnte man es sich doch erlauben. In diese Abteilung kamen nur wenige Käufer, die Meisten drängten sich bei dem Tresen, wo man gesalzene Heringe verkaufte, die kosteten von drei bis sieben Rubel pro Kilo. Dort konnte man auch gesalzene Strömlinge oder Anchovis bekommen, man nannte sie auch 100 Köpfe für eine Kopeke
.
In jeder Ecke des Geschäftes standen Pyramiden aus Konservendosen, darauf waren Krabben aufgezeichnet, und die Aufschrift CHATKA
Die Königskrabbe oder Kamtschatkakrabbe, gelegentlich aufgrund ihrer Größe auch Monsterkrabbe genannt, ist ein großer Mittelkrebs aus der Familie der Stein- und Königskrabben.Siehe Wikipedia.org. Damals wusste ich nicht was es bedeutet, die Konserven waren recht teuer, 10 Rubel die Dose, sehr wenige Leute hatten sie gekauft, mir hatten sie sehr gefallen. Später, nach zehn bis fünfzehn Jahren sind sie in Mode gekommen für Salate und Cocktails und von den Tresen verschwunden.
In einer großen Wanne schwammen lebende Fische, die man sich aussuchen musste. Damals waren die Hausfrauen noch sehr fleißig, jede konnte einen Fisch ausnehmen. Am billigsten war damals der Dorsch, man brachte ihn vom Nordpolarmeer, ausgepresst und gefroren. Später probierte ich den frisch gefangenen Dorsch am Weißen Meer, den Geschmack konnte man gar nicht vergleichen. Dorsch und Hirse war damals die Speisekarte bei knapper Kasse.
Gedörrte WoblaDie Wobla (Rutilus caspicus, russisch Вобла) ist eine endemisch im Kaspischen Meer und an der unteren Wolga vorkommende Fischart. Sie ist mit dem Rotauge (Rutilus rutilus) verwandt, als dessen Unterart sie lange Zeit angesehen wurde. Sie wird in Russland in getrockneter Form als Snack zum Bier und zu anderen alkoholischen Getränken verzehrt. Sie gilt als Speisefisch.Siehe Wikipedia.org waren auch sehr beliebt. Das war die beste Nachspeise zum Bier. Die Bierkneipe lag gegenüber dem Fischgeschäft. Dort waren Männer unter sich. Dort war es laut, es stank nach Bier und Kotze. Wir Kinder trauten uns nicht, dort hereinzuschauen. Aber Wobla liebten wir alle. Meine Mutter schickte mir im Sommer in das Pionierlager immer Päckchen, in das sie Wobla hineingeschmuggelt hatte, weil es verboten war. Das Gleiche tat ich später für meine Tochter.
Zurück zum Kaviar. Weder ich, noch jemand unserer Bekannten hatte jemals Kaviar mit einem Esslöffel gegessen. Das haben nur reiche Kaufleute getan, die auch in den Konzertflügel Champagner gossen und dort Sprotten schwimmen ließen, – siehe Gorki. Aber das war vor der Revolution. Und wie man jetzt im Kreml für die Machthaber Kaviar servierte, wussten wir nicht.
Ich wusste, dass schwarzer Kaviar zum Luxus gehört. Die Ärzte empfahlen Kaviar für schwerkranke Patienten, für blutarme Kinder. Wie die Tochter meiner Freundin später sagte: Erwachsene essen das nicht!
. Kaviar schmückte den Tisch beim feierlichen Essen, bei Hochzeiten und Geburtstagen. Man belegte kleine Butterbrote damit oder legte Kaviar auf halbierte Eier, damit es für alle reichte. Mir hat eigentlich der rote Kaviar mehr gefallen, und Balyk noch mehr.
Ich wurde erwachsen und der Kaviar wurde immer teurer und immer seltener. Im Fischgeschäft verschwanden die Schüsseln vom Tresen. Jetzt wurde Kaviar in kleinen Schraubgläsern verkauft. So ein Glas mit 100 Gramm kostete drei Rubel, als erstes Gehalt bekam ich 100 Rubel, es war nach der Geldreform zehn zu eins. Es waren auch größere Blechdosen, aber beide waren nicht zu haben. Nur in geschlossenen Verteilungsstellen für VIP-Parteigenossen
konnte man sie bekommen.
Störe starben aus, die Dämme versperrten ihnen die Laichwanderung. Die Wilderer schlitzen dem Stör den Bauch auf, nahmen den Kaviar und schmissen den Fisch zurück in den Fluss; und die Aufsicht war korrupt.
Einmal, Ende 1960, hat unsere Familie reichlich schwarzen Kaviar genossen. Mein Stiefbruder hat seinen Urlaub im Mündungsgebiet der Wolga verbracht und uns von dort anderthalb Kilo gepressten schwarzen Kaviar von Wilderern mitgebracht. Da konnte man schon einen Esslöffel gebrauchen, aber wir waren nicht gewöhnt, so mit Luxus umzugehen, und hatten uns lange daran gelabt.
Als meine Tochter zur Welt kam, war Kaviar ganz selten. Zu Feiertagen bekam unser Labor Lebensmittelpakete mit Defizit
Defizit
nannte man bei uns damals solche Sachen, die sehr begehrt aber sehr schwer zu haben waren., drei bis vier für 30 Personen. Also haben wir Lose gezogen und der Glückliche wurde von der Liste fürs nächste Ziehen gestrichen. So hatte ich roten Kaviar nach Hause gebracht. Als meine Tochter in das Brot mit dem Kaviar biss, hat sie es ausgespuckt und angefangen zu heulen, sie war damals erst zwei. Er war doch rot und sie dachte, es ist eine süße Marmelade. Später hat sie Geschmack daran gefunden, aber wir hatten sehr selten die Möglichkeit, ihn zu essen. Ein paar Mal hat sie sogar schwarzen Kaviar probiert, aber er war so eine Seltenheit, dass sie gar nicht auf den Geschmack kommen konnte.
Dann sind wir nach Deutschland ausgereist und meine Enkelkinder sind hier zur Welt gekommen. Roter Kaviar gefällt ihnen, den kann man im russischen Laden kaufen. Der ist nicht billig, aber zur Weihnachten und Geburtstagen können wir uns das erlauben. Dort gibt es auch Wobla, nicht teuer. Daran knabbert meine Tochter, es ist das nostalgische Fischchen ihrer Jugend. Alle mögen wir Lachs und das ist der einzige noble
Fisch, den meine Enkel kennen. Irgendwo in Hamburg gibt es wahrscheinlich spezielle Fischgeschäfte, wo man Balyk, Stör und Sternhausen kaufen kann, aber wir kaufen unsere Lebensmittel in Norderstedt, bei ALDI, REWE und PENNY ein. Schwarzen Kaviar haben meine Enkel noch nie gesehen.
Und plötzlich passiert so etwas! In der ALDI-Werbung stand geschrieben, dass am 16. März schwarzer Kaviar verkauft werden soll, für nur 19,99 Euro, aber auch nur 20 Gramm! Den musste ich unbedingt kaufen! Und meinen Enkeln zeigen, dass es so ein Produkt überhaupt gibt.
Zuerst haben wir über die Verpackung lange gelacht. In die Kartonschachtel wurde eine durchsichtige Kugel gelegt, in der sich das Glas mit dem Kaviar befand. Die Kugel bildete vier Lupen an den Seiten der Schachtel, damit das Glas größer aussehen soll. Die Portion wurde für zwei Personen empfohlen, also einen Esslöffel brauchte man dabei nicht. Wir werden sie für vier Personen aufteilen, auf meine verzichte ich freiwillig.
Der Stör ist nicht wild, er ist in Italien in fließendem Wasser gezüchtet worden, und wie der Kaviar schmeckte, werden meine Enkel mir am Ostersonntag erzählen.