Oh, Amerika!
Am 8. Oktober 1988 saß ich ganz aufgeregt im Flugzeug auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Amerika, die USA.
Unsere Generation der Moskauer Kriegskinder liebte Amerika. Am Ende des Krieges hatten wir im Kindererholungslager als Nachspeise ein Stück amerikanischer Schokolade bekommen. Das beste Lebensmittel war amerikanisches Schweinefleisch in Büchsen, es hieß scherzhaft die zweite Front
, und die lustigsten Filme waren die mit Chaplin. Danach kam amerikanische Musik; Jazz, Ella Fitzgerald und Louis Armstrong, Gershwin. Später die berühmten Schriftsteller Hemingway und Faulkner. Jeans und Kaugummi kamen auch aus Amerika. Und als Kennedy getötet wurde, trauerten wir alle. Er war so jung, schön, sportlich, ein Kriegsheld, kein Vergleich mit unseren Bonzen. Natürlich beschimpfte unsere Propaganda während des Kalten Krieges Onkel Sam
und die verfluchten Imperialisten. Aber irgendwie blieb die Liebe zu Amerika, dem Land der Freiheit.
Die nächste Generation, unsere Kinder, träumten vom Studieren in Amerika, um dort zu promovieren und zu arbeiten. Dort waren die besten PCs, die besten Möglichkeiten, um im Bereich der Mathematik, Physik, Biologie zu arbeiten. Und die Möglichkeit normal zu leben, zu reisen, die Welt zu sehen.
Also erwartete ich Amerika mit Liebe im Herzen.
Die Einladung, damals in der UdSSR konnte man ohne Einladung kein Visum für die Reise in die USA bekommen, habe ich von meiner Kusine Miriam, genannt Mimi
, bekommen. Mimi wurde 1919 geboren und lebte in Wien. Nach dem Anschluss an das Hitler-Deutschland hatten ihre Eltern sie sofort nach Paris zum Studieren geschickt. Sie wurde Schauspielerin. Nach dem Kriegsanfang kam sie nach Palästina. Dort spielte sie im Theater Gabima und hat im Film eines amerikanischen Regisseurs mitgespielt. Das brachte sie in die USA. Dort hat sie 1953 ihren zukünftigen Mann Benno kennengelernt. Benno kam auch aus Wien, ist nach dem Anschluss nach Ecuador geflüchtet, kam dann auch nach Palästina, wurde Journalist und dann israelischer Botschafter in lateinamerikanischen Ländern. Dann hat er einen Terroranschlag auf die Botschaft überlebt und ist als freier Journalist in die USA gekommen.
Mimi und Benno leben in Boston, Massachusetts (MA).Mimi hat uns 1980 in Moskau besucht. Sie erzählte mir viel von Amerika. Sie sagte, dass Boston eine sehr europäische Stadt sei, und die Westküste und auch New York repräsentieren nicht das echte Amerika
.
Also, irgendwelche Erfahrungen über Amerika hatte ich schon gesammelt. Ich wusste, dass ich aus der Steinzeit in die Zeit des Hi-Tech komme, dass ich bei manchen Sachen mit einem offenen Mund stehen bleiben werde. Aber besonders interessierte mich das tägliche Leben, die Leute. Und das Interessante hat schon in Flugzeug angefangen. Alle Stewardessen waren jung, sehr nett, alle lächelten und zeigten schöne, blendend weiße Zähne. In Russland hat man solche Zähne nur bei Kinohelden gesehen, Zahnspangen gab es noch nicht für jedermann, die meisten Menschen hatten krumme gelbliche Zähne mit goldenen oder silbernen Kronen.
Mimi und Benno warteten am Bostoner Flughafen auf mich und brachten mich zu ihrem Haus, das für 35 Tage meine Heimat wurde. Das Haus steht nicht sehr weit vom Zentrum, Down Town, in einem stillen grünen Bezirk. Es ist aus Holz, im New England Stil gebaut, auf einem kleinen Grundstück. Das Haus ist groß und bequem, nicht protzig, mit sehr guter Verbindung zum Zentrum. Der Haushalt ist nicht besonders ordentlich – BohemeDer Begriff Bohème oder Boheme bezeichnet eine Subkultur intellektueller Randgruppen mit vorwiegend schriftstellerischer, bildkünstlerischer und musikalischer Aktivität oder Ambition, die sich gegenüber bürgerlichen Einstellungen und Verhaltensweisen abgrenzt.. Mimi kocht sehr gut, aber selten, lieber isst man außer Haus. Benno ist fürs Saubermachen, diese Tätigkeit hasst er, und das Einkaufen zuständig. Ihre beiden Kinder sind schon erwachsen, der Sohn Lenny ist Jurist, verheiratet, hat Kinder und ein Haus am Rande Bostons. Die Tochter hat von der Mama die Liebe zum Theater geerbt, baut sich hart eine Karriere als Regisseurin auf.
Meine Gastgeber sind nicht reich, aber wohlhabend. Mimi (70) hatte es nicht immer leicht mit ihrer Karriere gehabt. Sie hat einen europäischen Akzent und es fiel ihr daher recht schwer, eine Rolle zu bekommen. Das Sprechtheater ist nicht besonders populär in Amerika. Gutes Geld bekommt man nur am Broadway in New York. In anderen Städten existieren die professionellen Theater bei einer Uni, die eine Theaterfakultät hat, wie beispielsweise in Boston bei der Boston University. Dort hatten wir eine Aufführung nach Tschechow gesehen. Mimi und Benno waren begeistert, ich nicht besonders, denn im Vergleich mit den Theatern in Moskau oder dem Berliner Ensemble hat es mir an Niveau gefehlt. Beliebt sind in Amerika solche Aufführungen wie Rocky Horror Show
, dorthin hat man mich auch mitgenommen. Es gibt noch kleine private Truppen, dort werden die Schauspieler kaum bezahlt, aber das Publikum kommt und ist immer sehr dankbar. Die Musiker haben es viel leichter als Schauspieler, klassische Musik ist sehr beliebt. Boston hat eine schöne Musikhalle, das Haus der Boston Symphoniker
. Es ist meistens ausverkauft. Eine befreundete Familie wohnt drei Fahrstunden von Boston entfernt und hat dort ein Abo. Mimi hat keine Möglichkeit als Schauspielerin tätig zu werden verpasst, sie hat jedes Angebot angenommen. Sie war auch als Journalistin tätig. Sie war immer schön und elegant und hat auch als Model Geld verdient, in der letzten Zeit auch für Staubsauger oder Seniorenreisen geworben und ihre eleganten Kleider kauft sie im Ausverkauf.
Benno ist sechs Jahre älter. Er arbeitet als Journalist und außerdem unterrichtet er an der Uni. Er leitet ein Seminar Wien – Geschichte und Kunst
, ich war auch einmal dabei. Es kamen junge und ältere Leute, ihnen hat es Spaß gemacht. Reiches Amerika kann sich so etwas leisten!
Benno und Mimi haben in Amerika einen sehr großen Bekanntenkreis; Einheimische, Emigranten aus Europa und Israel, aus der Theaterwelt und aus dem Journalismus, aus der Uni und von ihren Reisen. Selbst Emigranten, wissen sie, wie wertvoll für einen neu angekommenen Menschen mit schlechtem Englisch und ohne Erfahrungen im Lande ein guter Ratschlag, Ermunterung und Trost sein können. Allen meinen Freunden und Verwandten habe ich Mimis Telefonnummer gegeben und sie hat allen geholfen. Mit manchen Familien sind sie gute Freunde geworden. Die Leute aus dem Kunstbereich hat sie mit ihren Bekannten verbunden, die ihnen ihre ersten Schritte in der Karriere ermöglichten.
Amerika, ein Einwanderungsland. Meine Freunde und Verwandte haben es geschafft sich einzuleben, haben eine gute Arbeit gefunden. Meine Kommilitonin Genja, alleinerziehende Mutter, saß in Russland zehn Jahre ohne Arbeit in Absage
bis man ihr endlich die Ausreise erlaubte. In Boston hat sie sich beworben, und obwohl sie schon über 50 war, hat eine Firma sie in ihrer Fachrichtung mit sehr guter Bezahlung eingestellt. Die Emigranten, welche zu alt oder krank sind, bekommen großzügige Sozialhilfe.
Nicht alle wollen oder möchten sich anpassen. Bei meiner Wanderung in Boston bin ich in einem chinesischen Stadtviertel gelandet, wo es schwer war, einen Menschen zu finden, der englisch sprach. Und meine Freunde arbeiten in einer Computerfirma, die einem Chinesen gehört, und sie beteten: Lieber Gott, bewahre unseren Chinesen!
In New York, am Brighton Beach wohnen russische Juden, die kein Wort englisch sprechen.
In Boston bin ich viel allein zu Fuß herumgelaufen. Ich staunte, wie schön, sauber und grün die Stadt ist und wie nett die Leute sind. Alle lächeln einander an, man sieht keine bösen, finsteren Gesichter. Als wir in New Hampshire den Sessellift benutzten, grüßten uns alle, die in Gegenrichtung fuhren, schrien Hi
und Bye
. Lenny hat den kleinen Aaron in den Rucksack gesteckt und ist den Berg zu Fuß hochgelaufen, das Kind sollte kein Trauma bekommen: Beim Karussellfahren hat er geweint. In Amerika sieht man kaum schreiende, weinende Kinder. Es ist unmöglich, dass eine Mutter ihr Kind auf der Straße anschreit oder an der Hand zerrt, wie es in Russland so üblich ist, die Nachbarn würden sie anzeigen. Man respektiert die Kinder von klein an. Genjas Sohn, ein Teenager, hatte in Moskau schwere Probleme in der Schule, hier besucht er die Schule mit Vergnügen. Man respektiert mich hier als Persönlichkeit
sagte er mir. Die Jugend hier steht nicht in Opposition zu den Erwachsenen, glaube ich. Sie sieht auch gepflegter als in Moskau aus, saubere Haare, weniger Schminke.
Viel Respekt zeigt man auch für Ältere – Senior Citizen. Als wir in New York waren, hat Benno (75), der sonst sehr sicher fährt, aus Nervosität eine Ausfahrt verpasst und wir befanden uns plötzlich in einem langen Tunnel, der nach Brooklyn führte. Benno stieg aus und lief durch den Strom von Autos zu einem Polizisten. Der stoppte sofort den Autoverkehr zu beiden Seiten und half Benno, das Auto auf die andere Seite zu bringen. Eine ganze Industrie arbeitet, um Senioren das Leben, Freizeit und Reisen zu ermöglichen. Es gibt auch sehr viele Ermäßigungen für Senioren, man braucht gar nicht den Ausweis zu zeigen. Das Leben der Menschen mit Behinderung ist in Amerika auch viel leichter als in der UdSSR. In Moskau sieht man auf der Straße kaum jemanden im Rollstuhl, Behinderte müssen immer in der Wohnung bleiben, weil es nirgendwo barrierefrei ist. Auch waren in Russland die schlammigen Wege, wo man für Tage steckenblieb, immer ein großes Problem. In Boston habe ich solche Menschen überall gesehen – in Parks, in Museen, in Supermärkten und in Theatern.
Als ich zu Besuch war, haben gerade Wahlen im Kongress stattgefunden. Ich habe Mimi zum Wahllokal begleitet. Mimi hat das Ganze sehr ernst genommen und den Demokraten Dukakis gewählt. Mimi wie auch die meisten in Massachusetts wählen immer die Demokraten. Benno hat seine Israelische Staatsangehörigkeit behalten und geht nicht zur Wahl. Sie sind beide demokratisch gesinnt, gegen Rassismus. Sie haben viele Freunde – Latinos.
2019 ist Mimi 100 Jahre alt geworden. Ihre Tochter hat Hillary Clinton angerufen, und diese hat Mimi eine Gratulation geschickt. Mimi war sehr gerührt.
Boston und MA sind sehr reich an Kulturgütern. Boston hat berühmte Universitäten, die zur IVY League gehören (Harvard, Boston University), viele Büchereien, die gut besucht sind. In Boston pflegt man die Geschichte, man ist stolz auf sie. Ich besuchte The Boston TEA PARTY
Museum, das großen Kennedy Museum. Und in Boston und vielen anderen Städten in MA gibt es eine Menge Kunstmuseen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie viele Bilder Renoir, Degas, Monet und van Gogh gemalt hatten, oder sind es vielleicht Kopien oder gar Fälschungen? Ich war ganz begeistert. Zum Schluss sagte Benno: Was läufst du so viel in die Museen? Bilder sind doch in allen Ländern gleich. Und die Stillleben der Niederländer? Fahren wir doch lieber zum Ozean nach Rock Port und essen dort im Restaurant einen echten Lobster!
Und wir sind losgefahren. Es war ein schöner goldener Tag. Unterwegs gab es eine Farm, die Äpfel produzierte. Im Erdgeschoss des großen Gebäudes war der Laden, und das obere Geschoss hatte eine gläserne Wand und man konnte sehen, wie zwei Männer die roten Äpfel zu Cidre verarbeiteten und der Satz wurde für Donuts gebraucht. Heißen Cidre und frische Donuts konnte man sofort genießen. Und die nette Wirtin stand im Hof an der Kasse und man konnte schon 1988 mit einer Kreditkarte bezahlen. Es kam mir vor wie im Märchen! Und alles zusammen, der Ozean und der Lobster, die Farben des Herbstes könnten wirklich mit jedem Gemälde konkurrieren.
Am nächsten Tag bin ich abgeflogen, und in Moskau habe ich dann ein Album gemacht: 35 Tage im Paradies
.