Ängste; damals und heute
Es ist Weihnachtszeit, Herbst (oder Winter?), Coronazeit, ich sitze am Fenster und beobachte den prasselnden Regen, und ich habe Angst.
Was ist Angst, woher kommt sie? Ich habe sogar im Internet nachgesehen. Angst ist ein innerliches GrundgefühlAls Grundgefühl, Primäraffekt oder Basisemotion werden jene Gefühle und Affekte bezeichnet, die als wesentlicher Bestandteil jeder menschlichen Existenz angesehen werden., ausgelöst durch drohende reale oder mutmaßliche Gefahr, Unheil, das sich als Besorgnis und Erregung äußert. Es gibt sogar ein spezielles Gen der Angst, das Stathmin (STMN1) heißt.
Dort schreibt man auch über Kinderangst, die keine Schäden hinterlässt und mit dem Alter vergeht. Im Alter zwischen fünf und acht Jahren haben viele Kinder Angst vor dem Tod.
Als Kind habe ich keine besonderen Ängste empfunden. Trotz ärmlicher Lebensumstände fühlte ich mich sehr geborgen. In der Verwandtschaft war ich das einzige Kind, alle liebten und verwöhnten mich. Für Angst vor der Dunkelheit oder vor Einsamkeit war auch kein Platz in dem einen Zimmer, das wir bewohnten. Ich war eine Heulsuse, konnte wegen einem verletzten Knie oder einem heruntergefallenen Eis heulen, aber Angst hatte ich nicht. Angst hatten meine Mutter und viele andere Erwachsene, sie fürchteten den Besuch des KGB in der Nacht. Aber das konnte ich damals noch nicht verstehen.
Das erste Mal hatte ich Angst empfunden mit sieben Jahren, 1941, als in der Nacht in Moskau die Sirenen heulten und man zum Bunker laufen musste.
Und furchtbare Angst hatte ich gefühlt, als wir im Güterzug eine Woche lang in die Evakuation fuhren und Mutter aussteigen musste, um uns mit Wasser und Lebensmitteln zu versorgen. Ich hatte Angst, dass der Zug abfährt und ich sie niemals wiedersehen würde.
Vor dem Krieg selbst hatte ich keine Angst, ich war tief überzeugt, dass der Krieg bald endet, die UdSSR siegt und wir zurück nach Moskau kommen zum alten glücklichen Leben. Ich war damals sehr optimistisch.
Und dann kam der Kalte Krieg. Zuerst beherrschte er nur die Propaganda im Radio, in den Leitartikeln der Zeitungen. Aber im Frühling 1950 war der Krieg in Korea ausgebrochen. Offiziell war die UdSSR nicht daran beteiligt, aber alle wussten, dass es ein Krieg zwischen Russland und Amerika war. Der Cousin meiner Klassenkameradin, ein Jagdflieger, wurde schon 1949 nach Korea geschickt. Alle hatten Angst, dass der Konflikt in einen Atomkrieg übergehen könnte. Ich war damals 16 Jahre alt und erinnere mich, welche furchtbare Angst ich hatte. Die Angst kam am Morgen beim Aufwachen. Ich bin doch noch so jung. Ich habe noch keine Liebe erfahren. Mich hat noch kein Junge geküsst. Und wenn die Atombombe fällt, ist alles aus, mich wird es nicht mehr geben …
. Im Laufe des Tages war die Angst vergessen, und ich habe meine Angst mit niemandem geteilt.
Die Angst der Bevölkerung vor dem Atomkrieg war groß. Und das war den Machthabern sehr willkommen. Der Haushalt war auf Rüstung orientiert, um mit den USA die Parität zu halten. Im Lande mangelte es an Allem, an Waren, an Lebensmitteln. Und man konnte den Menschen sagen ziehen Sie den Gürtel fest, weil die Zeiten sehr hart sind. Wir müssen für den Krieg gewappnet sein
. Täglich erzählten die Zeitungen, welche privaten Atombunker sich die Reichen im Westen bauen. Und, dass Imperialisten den Weltkrieg entfesseln wollen. Die Menschen munkelten, dass unsere Regierung auch einen Riesenatombunker unter den Leninskie Bergen gebaut haben sollte, der von der Metro mit dem Kreml verbunden sei.
Aber sehr lange, viele Jahre kann eine große Angst nicht andauern, man wird davon müde, man gewöhnt sich, man fängt an, Witze zu machen … Das ist eine Tschastuschka, ein Liedchen (übersetzt aus dem Russischen) aus jener Zeit:
Vom Himmel fiel das Sternchen
direkt in die Hose meines Lieblings.
Soll dort alles explodieren,
soll nur keinen Krieg geben.
Zu der Zeit waren Zivilschutzklassen für die gesamte Bevölkerung obligatorisch geworden, und jedes Jahr mussten wir die Zivilschutzprüfung bestehen. Zuerst kam der Lehrer, und es waren Übungen in der Theorie. Wir mussten alles über die Zerstörungen bei der Explosion einer Atombombe wissen, über die Strahlengefahr und so weiter. Wie groß wird die Dicke der Trümmer- und Schuttschicht während der Zerstörung unseres Instituts und wie stark dadurch die Strahlung im Keller verringert wird, denn dort mussten wir also verbleiben. Eine rein rhetorische Frage - und wo wird in dem Moment meine kleine Tochter mit dem Schlüssel um den Hals sein? Antwort: Die Zivilbevölkerung von Moskau soll evakuiert werden, unser Institut auch, man wird uns sagen, zu welchem Gleis und Bahnhof wir eilen müssen. Dann mussten wir wissen, wie man die Opfer künstlich beatmet und wie man ihnen ein Gegenmittel injiziert, und was es ist. Unsere Männer wollten immer bei den Frauen die Beatmung von Mund zu Mund üben. Jedes Jahr waren es die gleichen Fragen bei der Prüfung, und komischerweise ist nichts davon im Gedächtnis geblieben. Nach der Theorie hatten wir Workshops im Keller. Dort mussten wir ein schnelles Aufsetzen einer Gasmaske üben. Dann musste man in Gasmasken eine Trage mit dem Opfer schleppen. Es war eine harte Arbeit, aber die Rolle des Opfers war noch schlimmer, man konnte bei lautem Gelächter auf dem harten Boden landen.
Solche Übungen waren aber ein gutes Mittel gegen die Angst. Deshalb glaube ich, hatten die Menschen im Westen während der Kubakrise mehr Angst als wir Sowjets. Wir hatten doch sowieso keinen Einfluss auf die Politik.
Das Einzige, was gegen Atombomben half: Sich in ein weißes Laken wickeln und langsam zum nächsten Friedhof kriechen. Und wieso langsam? Um keinen Stau zu bilden.
Und heute?
Wieder habe ich Angst.
Ich habe keine Angst um mich selbst, ich habe Angst um meine Angehörigen. Meine beiden Enkel sind Asthmatiker mit schlechter Gesundheit. Meine Enkelin hat vor Corona eine panische Angst. Nach dem 13. März hat sie noch probiert, zur Schule zu gehen. Aber nachdem sie die Maske anzog, konnte sie nicht mehr atmen, musste nach dem Inhalator greifen. So sitzt sie seit März zu Hause, war nur ein paar Mal zum Arzt gegangen. Und meine Tochter arbeitet in einer Firma, die mit Showbusiness zu tun hat. Seit März ist sie auf Kurzarbeit, weil es keine Shows mehr gibt. Ich habe Angst, dass die Firma bankrott geht, und mit 50 wird es ihr nicht leicht sein, eine neue Stelle zu finden.
Und ich selbst? Ich habe recht lange gelebt, viel Gutes und Schlechtes überlebt. Irgendwann muss man auch Abschied nehmen. Natürlich möchte ich in Würde sterben, im eigenen Bett und ohne künstliche Beatmung. Aber was soll es? Ich lebe noch, gehe spazieren, freue mich, wenn es schneit, kann Angst und andere Emotionen fühlen und über sie schreiben. Ist doch gut?
Unsere Regierung und die Medien leisten große Arbeit, um dem Volk Angst einzujagen. Darin haben sie Erfolg. Aber die Angst wird irgendwann vergehen.
Allmählich beginnen die Menschen, sich über Diskussionen wegen der Rechte von Geimpften oder der Impfpflicht lustig zu machen, bei solch einem Mangel am Impfstoff. Am Dienstag, 12. Januar 2021, war meine Tochter morgens um acht Uhr am PC, um für mich einen Termin für die Impfung zu vereinbaren. Nach 40 Minuten kam eine Meldung: Probieren sie es am nächsten Dienstag um 8 Uhr.
Vielleicht sollte man öffentliche Übungen im Freien durchführen; wie man die Maske schnell anlegt, wie man mit Maske die Nase putzt, wie man mit Desinfektionsspender umgeht. Wie man Hände waschen muss, steht doch in jeder öffentlichen Toilette. Vielleicht sollten solche Plakate auch für jeden Haushalt obligatorisch werden? Und wie gut wirkt gegen Angst ein Plakat im WC an der Einkaufsstraße am Langenhorner Markt: Wegen der Corona Pandemie ist das WC an Wochenenden geschlossen
?
Mit einer Dosis Humor und Optimismus werden wir die schweren Zeiten überleben.
Und wenn nicht, bleibt uns immer die Möglichkeit, eingewickelt in ein weißes Tuch zum Friedhof zu kriechen. Ein Stau wird sich nicht bilden, wir sind doch jetzt daran gewöhnt, Abstand zu halten …
Anhang:
Buchtipp, Michail Gorbatschow:
»Was jetzt auf dem Spiel steht: Mein Aufruf für Frieden und Freiheit«
Dreißig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist der Frieden in der Welt wieder in Gefahr. Der US-Präsident kündigt das Abrüstungsabkommen mit Russland, Europa zerfällt, China drängt nach vorn und eine Welle von Nationalisierung und Ideologisierung gefährdet die Freiheit und die Selbstbestimmung der Völker.
Michail Gorbatschow, der letzte große Staatsmann der Revolution von 1989, warnt angesichts der gefährlichen Weltlage vor einem Krieg aller gegen alle. Er beschreibt die Unfähigkeit und den Unwillen der aktuellen politischen Führer, an internationalen Lösungen zu arbeiten.
[…] Meine Einstellung zu Atomwaffen hat sich früh herausgebildet, schon Mitte der fünfziger Jahre als Mitglied des kommunistischen Jugendverbands, wo ich in meiner Heimatregion Stawropol Parteiarbeit machte.
Eines Tages wurde uns Aktivisten ein Film über den Zivilschutz im Falle eines Atomkrieges gezeigt. Der Film beschränkte sich nicht darauf, Diagramme und Schaubilder zu präsentieren. Es waren echte Bilder von realen Atomwaffentests. Die Druckwelle, die ein Gebäude in Stücke riss, Bäume, die entwurzelt wurden und durch die Luft wirbelten, totes Vieh und schwarzer Wind - es waren furchtbare Bilder. Der Versuch, beim Zuschauer den Eindruck zu erwecken, man könne einen Atomkrieg überleben, erschien mir absurd (O-Ton: »Es ist notwendig, sich von der Explosion abzuwenden … sich auf den Boden zu legen … sich mit einem weißen Laken zu bedecken …«) Nach der Vorführung sagte ich nur: »Hängt euch ein weißes Laken um und kriecht direkt zum Danilovskij-Friedhof!«
Wer an den Mythos glaubt, Atomwaffen hätten »die Welt gerettet«, den möchte ich daran erinnern, dass während des Kalten Krieges mindestens einmal ebendiese Waffen die Welt an den Rand eines Nuklearkriegs brachten.
Kürzlich veröffentlichte Dokumente belegen, wie nahe die Menschheit in der Kubakrise 1962 dem Abgrund gekommen war. Alles hing am seidenen Faden. Die Welt wurde schließlich nicht durch Atomwaffen gerettet, sondern durch die Besonnenheit der Führer beider Länder - John Kennedy und Nikita Chruschtschow.
Ich bin mir sicher: Beide haben ihre Meinung über Atomwaffen danach geändert. Sie haben fortan in ihren Reden aufgehört, die Atombombe zu loben. Auch schlössen sie einen Vertrag, durch den Atomtests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser zukünftig verboten waren. Dies hat nicht nur die Entwicklung der Waffentechnik verzögert, sondern auch die Umwelt bewahrt vor tödlichen Substanzen, die bei Atomexplosionen freigesetzt werden. […]
Auszug aus dem Buch von Michail Gorbatschow: »Was jetzt auf dem Spiel steht: Mein Aufruf für Frieden und Freiheit«