Die traurige Gegenwart
Meine lieben Freunde, wir sind alle Zeitzeugen nicht nur der alten Zeiten, sondern auch der Gegenwart.
Die Gegenwart ist für mich so traurig, ich bin enttäuscht und depressiv, habe meinen Optimismus auf der Strecke verloren.
Ja, ich bin Jüdin, ich sitze vor dem TV und muss mir ansehen, wie die arabischen jungen Leute auf den Straßen deutscher Städte bei Demos scheiß Juden
skandieren.
Schlag die Juden, rette Russland (bey zhidov, spasai Rosssiyu)
– das war der Slogan der Schwarzen HundertSchwarze Hundert bzw. Schwarze Hundertschaften war die übergreifende Bezeichnung für rechtsextreme und monarchistisch-nationalistische Organisationen in den letzten Jahrzehnten des Bestehens des Russischen Reiches, darunter den Bund des russischen Volkes. Die Mitglieder dieser Organisationen wurden als Schwarzhunderter bezeichnet. Die Organisationen werden dem Phänomen des Präfaschismus zugeordnet.Klick für Wikipedia während der Pogrome, die meine Oma in der Ukraine am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erleben musste. Und die andere Oma musste vor den Faschisten im Jahr 1937 aus Wien flüchtenLesen Sie auch:Schicksal im letzten Jahrhundert - im Gedenken an meine Großmutter Sophie
von Elena Orkina.
Ich selbst habe den Antisemitismus in der UdSSR erlebt. Es war ein staatlicher Antisemitismus, im Volk war er auch verbreitet, aber auf die Straßen konnte er nur mit Erlaubnis der Regierung kommen, wir haben doch in einer Diktatur gelebt. Kurz davor waren wir 1953Die sogenannte Ärzteverschwörung war Ende 1952 von Josef Stalin und einigen Gefolgsleuten erfundenes Komplott. Medizinern vor allem jüdischer Herkunft hätten angeblich geplant, Stalin und andere Führer der Sowjetunion auszuschalten. Die Aufdeckung
führte zu zahlreichen Verhaftungen und Hinrichtungen. Zu Beginn der Entstalinisierung nach Stalins Tod im März 1953 gaben die neuen Sowjetführer zu, dass es sich bei der Verschwörung
um eine gezielte Desinformationskampagne gehandelt hatte. Die Affäre war sowohl Ausdruck von Machtkämpfen innerhalb der sowjetischen Nomenklatura als auch des zur Zeit des Sowjetkommunismus weit verbreiteten Antisemitismus.Klick für Wikipedia, doch dann ist Gott sei Dank StalinLesen Sie auch: Mein Abschied von Stalin
von Elena Orkina krepiert.
1993 ist meine Familie nach Deutschland ausgewandert. Damals hat die Bundesrepublik viele russische Juden aufgenommen, um die blutige Geschichte wiedergutzumachen. Für mich war es eine schwere Entscheidung, aber ich war überzeugt, dass Deutschland seine Vergangenheit überwunden und die faschistische Ideologie ausgerottet hat.
All diese Jahre war ich Deutschland dankbar für seine Gastfreundschaft, für das schöne Leben, das uns ermöglicht wurde.
Wir Kontingentflüchtlinge
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von Elena Orkina, so hat man uns genannt, mussten uns den strengen Regeln anpassen. Wir konnten nicht unseren Wohnort frei wählen, meine Familie musste fünf Jahre lang in Schleswig-Holstein verbleiben. Jede Abwesenheit, jede Reise musste gemeldet werden. Alle, die unter 65 Jahre alt waren, mussten arbeiten, jeden Job annehmen, sonst drohte das Sozialamt mit Kürzung der Hilfe. Ich selbst habe mehr als einhundert Bewerbungen geschrieben, bevor ich in der MusikhalleLesen Sie auch: In der Musikhalle als Platzanweiserin und Garderobenfrau
von Elena Orkina angestellt wurde. Aber wir haben uns integriert, das Leben wurde schön, wir hatten die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen.
Natürlich bekam ich immer einen Stich ins Herz, wenn ich gesehen habe, dass jede Synagoge polizeilich bewacht werden muss. Nichts zu machen – es gibt immer kranke, verrückte Menschen, von denen man alles befürchten kann. Und niemals auf deutschen Straßen habe ich einen Juden mit Kipa gesehen. Die Kipa wird nicht nur von gläubigen Juden getragen, sie zeugt auch von der Zugehörigkeit zum Volk, ebenso wie ein Hut mit Gamsbart bei den Bayern. Aber russische Juden, und nur solche trifft man überwiegend in Deutschland, haben in der Geschichte gelernt, Angst zu haben, ihr Judentum zu verstecken, um nicht mit dem Antisemitismus konfrontiert zu werden.
Aber die letzten paar Jahre ist alles schlimmer geworden. Man sagt, es gibt drei Ursprünge und drei Arten des Antisemitismus. Der rechte Antisemitismus – das ist verständlich – ist Hitlers Erbe, und der hat auch die Vorurteile des Volks geschickt ausgenutzt.
Der linke Antisemitismus, für mich etwas Neues. Aber die linken Extremisten haben schon eine längere Geschichte. Sie haben die UdSSR bewundert, weil es das Land der Arbeiter war, und haben die blutigen Prozesse von 1937 gerechtfertigt, siehe Romain RollandRomain Rolland (* 29. Januar 1866 in Clamecy, Département Nièvre; † 30. Dezember 1944 in Vézelay, Burgund) war ein französischer Schriftsteller, Musikkritiker und Pazifist. Er wurde 1915 als dritter Franzose mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.Klick für Wikipedia, FeuchtwangerLion Feuchtwanger (geboren am 7. Juli 1884 in München; gestorben am 21. Dezember 1958 in Los Angeles) war ein deutscher Schriftsteller. Er zählte in der Weimarer Republik zu den einflussreichsten Persönlichkeiten im Literaturbetrieb. Er ist vor allem durch seinen Roman Jud Süß bekannt geworden und gilt heute als einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, dessen Werk Einfluss auf zeitgenössische Dramatiker wie Bertolt Brecht hatte.Klick für Wikipedia und andere. In demokratischen, wohlhabenden Ländern wohnend, träumten sie vom Sozialismus
, den wir, einfache Bürger der UdSSR, an eigener Haut erleben mussten. Jetzt wüten sie in den USA – alles enteignen und teilen!
. Und sie haben die Politkorrektheit
erfunden, sie soll die Gerechtigkeit und den gesunden Menschenverstand ersetzen. Die Medien, aus Angst, politisch unkorrekt zu werden, berichten entsprechend der Neuigkeiten. Im Fall des Nahen Ostens klingt es so: Im Titel steht: Erneut wurde der palästinensische Gazastreifen vom israelischen Militär bombardiert.
Und nur im zweiten Satz steht, dass es eine Antwort auf den massiven Raketenbeschuss der Hamas auf israelische Städte ist. Aber die meisten Leser kommen nicht zum zweiten Satz. Letzten Montag habe ich mit meiner Freundin in Aschkelon telefoniert. Plötzlich ein wildes Heulen im Apparat. Entschuldige, es ist die Sirene, in einer Minute fallen die Raketen, ich muss ins Treppenhaus.
Treppenhaus ist ein sicherer Ort, dort haben sie zwei Stühle parat. Eigentlich muss man in den Keller laufen, aber sie wohnen im vierten Stock, sind 89 Jahre alt, und den Fahrstuhl darf man im Fall eines Alarms nicht benutzen. Aschkelon ist eine Stadt am Meer, in der Nähe ist der Gazastreifen. Dort wohnen meistens Rentner, in den letzten Jahren auch Franzosen, die aus Frankreich geflüchtet sind.
Und der dritte Antisemitismus ist nach Deutschland von muslimischen Flüchtlingen aus arabischen Ländern importiert. In der letzten Zeit ist es eine ganze Menge geworden. Ich weiß nicht, ob es für sie auch solche strengen Regeln gibt wie vor dreißig Jahren für uns. Viele kamen ohne Papiere, keiner weiß Bescheid mit welchen Absichten. Müssen sie am angewiesenen Ort leben, müssen sie arbeiten? Manche fahren nach Syrien zu Islamisten und kämpfen dort und kommen dann wieder nach Deutschland. Manche werden hier zu Terroristen. Man sagt, der Sicherheitsdienst hält sie im Visier
. Ist es so? Wie konnte solch einer im Visier
gehaltener in Berlin mit einem LKW in die Menschenmenge hineinfahren? Oder in Dresden ein homosexuelles Paar angreifen und einen Mann töten? Lernen sie die Sprache? Wollen sie alle integriert werden, oder sind es zu viele für eine Integration? Wollen wir sie integrieren? Haben wir es geschafft
oder eher nicht?
Einige arabische Länder proklamieren ihr Ziel: Vernichtung Israels als Staat, er soll von der Karte des Nahen Ostens verschwinden, es ist auch das Ziel von Hamas. Und ein Teil des arabischen Volkes ist von Antisemitismus, Judenhass geprägt. Diesen Hass haben sie nach Deutschland gebracht. Mit diesem Hass wächst die Jugend in manchen Familien auf, bringt ihn dann in die Schulen, auf die Straßen. Ohne den Holocaust hätte 1948 der Staat Israel nicht gegründet werden können, und Deutschland steht zu seiner Verantwortung für die Existenz Israels als Staat. Dass 82 Jahre nach der Kristallnacht
Die Novemberpogrome 1938 – bezogen auf die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 auch Reichskristallnacht oder Kristallnacht, Jahrzehnte später Reichspogromnacht genannt – waren vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden in Deutschland und Österreich.Klick für Wikipedia und 75 Jahre nach Kriegsende auf den Straßen deutscher Städte wieder antisemitische Parolen klingen und Judenhass demonstriert wird, ist für die Bundesrepublik wirklich eine Blamage. Und deshalb eifern die Parteien miteinander in Reden für die Sicherheit Israels, für sein Recht auf Existenz und Selbstverteidigung. Nur Gysi hat das Wort aber
genutzt. Es sind aber nur Reden.
Ich bin auch für Demokratie und Toleranz
. Aber die Demokratie darf nicht für Hassdemos genutzt werden und Toleranz nicht missbraucht für Straftaten, die nicht bestraft werden.
Ich möchte nicht prophezeien, aber ich habe Angst, dass Antisemitismus nur der Anfang ist, dann sind die Ungläubigen an der Reihe (Allahu Akbar!), Politiker und Intellektuelle, Homosexuelle, Andersdenkende. Ich habe Angst. Und Sie?
Ich habe Angst, dass die Situation so wie in Frankreich wird, dass die Straßen, Bahnen und Busse ganz unsicher werden, dass Deutschland ganz anders wird als vor dreißig Jahren.
Deshalb habe ich Depressionen, und die Pandemie wirkt noch dazu. Könnten Sie mich trösten?
PS: Probieren Sie, Ihr Auto zuhause zu lassen und steigen Sie am Hauptbahnhof in die S-Bahn nach Billstedt. Ich habe Angst, so wird die Zukunft Deutschlands aussehen. Für meine politische Unkorrektheit entschuldigen Sie mich, bitte!
Liebe Elena,
ich habe noch nie verstanden, warum es einen Hass auf Juden gibt. Alle, die ich schon seit meiner Kindheit gefragt habe, konnten mir keine, oder nur abstruse Antworten darauf geben.
Ich habe in den letzten Jahren ein Teil meiner Meinung vollkommen geändert. Während ich früher in der Tradition vom Alten Fritz
(Jeder soll nach seiner Façon selig werden) die Toleranz ganz oben anstellte: Keine Toleranz der Intoleranz
, sehe ich es heute einiges anders. Auch die Toleranz muss an einem bestimmten Punkt aufhören. Wenn ich weiterschreibe, werde ich aber auch politisch unkorrekt. Insofern teile ich viele deiner Ansichten, dabei möchte ich dich so gerne trösten.
Liebe Grüße, Margot
Liebe Lena,
das ist wirklich sehr traurig. Du bist auf jeden Fall nicht allein mit Deiner Wahrnehmung und Deinen Ansichten. Fühle Dich umarmt.
Liebe Grüße, Pia
Liebe Elena,
genau deswegen gibt es die Erinnerungswerkstatt. Auch wenn wir für unsere Berichte, den Besuchen in Schulen, Vorträgen und dem Verlegen von Büchern kaum Rückmeldung bekommen, hege ich doch die Hoffnung, dass wir damit in den Köpfen der nachfolgenden Generationen ein paar Raupen
placieren, aus denen im Laufe des lebens wunderschöne Schmetterlinge
werden. Ich habe es in der Nachkriegszeit erlebt, dass jüngere deutsche Geschichte nicht gelehrt wurde. Politische Bildung entsteht aber aus dem Verständnis für die Ereignisse der Vergangenheit. Wer die Vergangenheit nicht versteht, kann die Zukunft nicht gestalten.
Deshalb gibt es die Erinnerungswerkstatt und mich freut es ganz besonders, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Lass uns in diesem Sinne weitermachen und hoffen, dass unsere Arbeit etwas bewirkt.
Liebe Grüße, Hartmut