Berliner Ensemble in Moskau
Am 9. Mai 1957 war ich mit meiner Mutter in Moskau im Theater in der Vorstellung von Galilei
. Es waren die Gastspiele des Berliner Ensembles in der UdSSR und es war die erste Vorstellung.
Wir waren, wie man sagt, eingefleischte Theaterbesucher. In Moskau waren es viele, manchmal musste man in der Nacht an der Kasse stehen, um Karten zu ergattern. Mit dem Berliner Theater war es anders – die Theater waren damals noch nicht mit Radio ausgestattet, es gab noch keine Kopfhörer, und es waren sehr wenig Leute, die Deutsch sprachen. Vor dem Krieg hat man in den Schulen Deutsch unterrichtet, nach dem Krieg meistens Englisch, und die alten deutschen Lehrerinnen waren gestorben oder nach Sibirien verjagt worden. Also zuerst hat man sich nach den Karten nicht gedrängt, nachher waren sie ausverkauft, aber wir haben es geschafft, für alle Vorstellungen Karten zu bekommen. Es waren Stücke von Bertolt Brecht:
Mutter Courage, Leben des Galilei, Der gute Mensch von Sezuan, Der kaukasische Kreidekreis.
Brecht war 1956 verstorben, die Intendantin des Theaters wurde Helene Weigel, und in der Hauptrolle des Galilei glänzte Ernst Busch.
Wir staunten, wie viele bekannte Intendanten und Schauspieler zur Vorstellung gekommen waren. Die Aufführung selbst war für mich überraschend. Mitten auf der kahlen Bühne – nur hohe Holzwände – stand Galileo mit dem Rücken zum Publikum und sprach seinen Text, sodass jedes Wort verständlich war (damals war mein Gehör noch in Ordnung). Und der Text wurde vom Publikum als Rebellion gegen die bestehende Ordnung wahrgenommen. Gegen unsere sozialistische Ordnung …
Erst vor vier Jahren war Stalin gestorben, erst vor einem Jahr hatte Chruschtschow den Personenkult kritisiert. Unser Volk hatte sich von der Angst noch nicht befreit.
Gleich nach der Revolution ist in Russland auch im Theater vieles passiert. Man sprach vom innovativen, epischen Theater im Dienst der Revolution. In Moskau wurde das Theater unter der Regie von Vsevolod Meyerhold berühmt, er hat seine Biomechanik
propagiert. Im Kammertheater unter der Leitung von Tairov glänzte Alisa Koonen.
Stalins berühmte Definition, dass Kunst der Form nach national und dem Inhalt nach sozialistisch sein muss
, wurde erstmals 1925 geäußert, als er noch nicht als Hohepriester
galt.
Aber schon nach ein paar Jahren blühte der Personenkult, und alle Kunstarbeiter mussten in geordneten Reihen Schritt halten. Das Meyerhold-Theater wurde 1938 liquidiert, und er selbst wurde verhaftet, gefoltert und 1940 erschossen.
Nach dem Kriegsende erklärte man den Kampf gegen den schädlichen Einfluss des Westens, gegen Kosmopoliten. Das Tairovs Kammertheater wurde 1949 geschlossen.
Die Theater mussten Theaterstücke inszenieren, die westliche Kultur entlarvten, oder solche, die unsere Arbeiter im Kampf um hohe Produktivität zeigten. Für jede ausländische Komödie die ein Theater auf die Bühne brachte, mussten ein paar sowjetische ideologisch konsequente Stücke gespielt werden. Aber das Publikum wollte diese Stücke nicht sehen.
Heute hört es sich wie ein Witz an. Das Labor, in dem meine Mutter arbeitete, wurde gezwungen, Theaterkarten zu verteilen, jeder musste Karten kaufen. Mutter hat sich ein Theaterstück ausgesucht mit dem Namen Grüne Straße
, weil sie dachte, es würde vielleicht nicht so langweilig sein. Es war aber ein Stück über Eisenbahnarbeiter, die gegen Katzbuckeln gen Westen kämpfen, und die Grüne Straße
ist ein Zustand, in dem der Lokführer während der Fahrt immer grünes Licht hat. Mutter hatte Angst gehabt, den Theatersaal zu verlassen: Wer weiß, wie viele Denunzianten dort waren.
Aber auch in schlimmen Zeiten liefen in der UdSSR gute Theatervorstellungen. Talentierte Regisseure brachten auf die Bühnen Stücke von Tschechow, Ostrowski, Gogol, Gorki. Die Schauspieler waren gut ausgebildet. Und das Publikum stand Schlange während des Vorverkaufs und war sehr dankbar. Aber das Theater war sehr traditionell.
Und das, was das Berliner Ensemble zeigte, war ganz neu, wie ein Schluck frisches Wasser und sehr interessant.
Den größten Eindruck hatte auf mich Mutter Courage
gemacht. Es spielt im 17. Jahrhundert, überall in Europa wütet der Dreißigjährige Krieg. Die Bühne ist schwarz, schwarzer, sich drehender Boden. Mutter Courage - von Helene Weigel gespielt - zieht einen Planwagen. Sie ist eine Händlerin, Marketenderin, und der Krieg bringt ihr Einkommen. Das Leben ist aber hart. Zuerst hat sie drei ihrer Kinder dabei, zwei Söhne und eine Tochter. Die Kostüme sind aus groben, grauen Leinen, nur ein einziger roter Fleck auf der Bühne – die Stiefel der stummen Tochter. Ihr ältester Sohn ist stark, grausam, er passt gut zum Krieg. Der Schauspieler - sehr plastisch, eine Verkörperung der Bosheit des Mittelalters. Er wird wegen Raub und Mord verurteilt und endet am Galgen. Der Krieg nimmt ihr alle Kinder weg, und zum Schluss schleppt Mutter Courage allein ihren Wagen dorthin, wo man kämpft.
Das Berliner Ensemble hat großen Einfluss auf das russische Theaterleben gehabt. Ein paar Jahre später hat der Regisseur Juri Ljubimow ein neues Theater na Taganke
gegründet. Das erste Stück war Der gute Mensch von Sezuan
. Ljubimow propagierte die Ästhetik von Brecht, episches Theater. Taganka
, so nannte man das Theater, ist berühmt geworden. Dort habe ich auch den Galilei
gesehen, und es war der Regie des Berliner Ensembles sehr ähnlich .
Und damals, 1957, konnten wir nur staunen, wieso die damaligen Machthaber der DDR, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl solch ein Theater wie das Berliner Ensemble geduldet hatten. Sie waren doch noch orthodoxer als unser Chruschtschow, glaubten wir, so gesagt, heiliger als der Papst selbst.
Manche unserer tapferen Regisseure riskierten auch den Behörden eine Faust in der Tasche zu zeigen
, aber so offen und kühn wie das Berliner Ensemble wagte das niemand zu machen – nein, niemals!