Aprilscherz
im Dezember
Über den Ursprung der Aprilscherze gibt es verschiedene Versionen, aber nichts Genaues oder Überzeugendes. Auf jeden Fall weiß jeder, dass er sich am 1.April jedes Jahres vor den berüchtigten Aprilscherzen in Acht nehmen muss.
In Argentinien, so wie auch in anderen katholischen Ländern im spanischen Sprachbereich, gilt der 28. Dezember als der Tag, an dem man sich über andere Leute lustig machen darf, ohne dafür gescholten zu werden. Es genügt, wenn man hinterher sagt: Que la inocencia te valga
. Dies ist natürlich sehr schwer zu übersetzen, da es sich ja um eine Redewendung handelt. Wörtlich heißt es Lass die Unschuld Dir gelten
. In diesem Fall versteht man Unschuld als Naivität. Es könnte auch etwa bedeuten: ...wer
s glaubt wird selig!
Am 28. Dezember wird nämlich der Tag der unschuldigen Kindlein
gefeiert, in Erinnerung an das Massaker aller Kinder unter 2 Jahren in Bethlehem (Judäa), das vom König Herodes befohlen wurde zur Beseitigung
des neugeborenen Jesus aus Nazareth. Wer also an diesem Tag auf einen Blödsinn reinfällt, ist so arglos wie ein unschuldiges Kleinkind.
Meine Studienkameraden und ich haben uns ausgerechnet den 28. Dezember als Klassentrefftag ausgesucht. Als wir Ende 1943 unsere Ausbildung im Schiffbautechnischen Fach beendet hatten, wurde uns bewusst, dass wir auf leere Versprechen der damaligen Behörden reingefallen waren und mit unserem Beruf keine Zukunftschancen hatten.
Als wir damals auf der Technischen Hochschule Otto Krause
studierten, wurde uns eine neue interessante Karriere angeboten, für die gerade ein gravierender Fachkräftemangel bestand, nämlich Schiffbau. Wir würden sofort nach Vollendung unserer Prüfungen günstige Stellungen auf den Werften oder Entwurfsbüros erhalten. So groß sei der Bedarf, dass die Spezialisierungszeit von den vorgesehenen drei Jahren auf zwei komprimiert
worden sei.
Da es sich um einen spannenden Beruf handelte, waren es viele, die sich dafür beworben hatten. Jedoch war die Anzahl der ersten Schiffbaustudenten auf 40 beschränkt. So wurde eine strenge Vorauswahl eingeleitet, und nur Studenten mit den höchsten Durchschnittsnoten durften sich an der Bewerbung beteiligen. Ich hatte das Glück einer von den Unschuldigen
zu werden...
Nur zwei oder drei der Absolventen in 1943 haben tatsächlich ihren gewünschten Beruf ausüben können. Der allgemeine Schiffbau befand sich in einer Flaute und nur einige wenige Reparaturwerften stellten Personal ein. Ich konnte knapp ein Jahr auf einer kleineren Werft als Entwurfszeichner arbeiten. Dann ging die Firma Pleite und ich wurde zum Militär eingezogen. Schließlich ist es mir doch gelungen, meine berufliche Ausbildung im Fachjournalismus anzuwenden. Die meisten meiner Mitschüler mussten sich in anderen Bereichen orientieren. So stellten sie sich auf Importeure, Landwirte oder Unternehmer in verschiedenen Branchen ein.
Also feierten wir jeden 28. Dezember im der Bar La Victoria
auf der Avenida de Mayo unseren Jahrestag. Dieses Lokal wurde von den Herstellern der Sidra La Victoria (ein sprudelnder Apfelwein, der öfters in Argentinien anstatt Champagner getrunken wurde) betrieben und war in der Zeit um das Jahresende immer gut besucht. Nicht nur wegen der guten Getränke und den traditionellen Pan Dulce
Pan Dulce (süßes Brot) ist eine Art Panettone: eine italienische Gebäckspezialität mit Rosinen, Nüssen und glasierten Früchten zubereitet. (*), sondern auch weil an den warmen Dezember-Nächten Tische und Stühle auf den breiten Bürgersteig der glanzvollen Avenida de Mayo gestellt wurden und man an der frischen Luft den bunten Verkehr der Millionenmetropole betrachten konnte.
Jahr für Jahr trafen wir uns zu diesem feuchtfröhlichen Erinnerungstag und plauderten über unsere Tätigkeiten und Familienverhältnisse. Mit der Zeit wurde jedoch die Anzahl der Beteiligten immer geringer: man widmete sich mehr der eigenen Familie, und zu dieser Jahreszeit bevorzugte man die Ferienwohnung am Strand. Schließlich kam auch dieser Brauch zu einem Ende, wie so vieles auf dieser Welt.
Immerhin, es blieb unser beliebter Inocentes
-Tag, an dem wir uns selber auf den Arm
genommen hatten. Trotzdem war das natürlich kein Aprilscherz
.
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