Atomenergie in Milchflaschen
Die Überschrift mag vielleicht etwas eigentümlich klingen, aber Mitte des vergangenen Jahrhunderts habe ich tatsächlich dieses Angebot vom damaligen Staatspräsidenten Argentiniens, General Juan Domingo Perón, im Rundfunk von Buenos Aires mit angehört. Im Februar 1951 teilte er der Bevölkerung stolz mit: in der Atomaren Versuchsanstalt auf der Insel Huemul wurden erfolgreich thermonukleare Reaktionen unter technisch kontrollierten Bedingungen durchgeführt
. Weiter behauptete der Regierungschef: Die so entstandene Energie wird bald der Bevölkerung zur Verfügung stehen, und zwar frei Haus geliefert, so wie täglich die Milchflaschen ausgetragen werden
.
Tatsächlich hatte sich in den ersten Nachkriegsjahren ein deutscher Physiker namens Ronald Richter bei Perón vorgestellt und ihm ein neues Verfahren für den Energiegewinn mittels der Kernfusion angeboten. Der argentinische Regierungschef, ein großer Bewunderer der deutschen technischen Kapazität, war sofort begeistert von der Idee und Richter durfte seine Forschungsarbeiten im Aerotechnischen Institut von Cordoba beginnen, wo schon ein anderer Deutscher, Ing. Kurt TankLesen Sie auch den Artikel über die Arbeit von Kurt Tank: Begegnungen…
[Klick], seine Düsenjägerprojekte ausführte .
Ende 1949 wurde für den so genannten Professor Richter auf der Insel Huemul in Bariloche eine aufwändige Versuchsanlage eingerichtet. Die herrliche Touristenregion wurde als Sperrgebiet und die dort ausgeführten Arbeiten als streng Geheim
erklärt.
Die am Fuß der Anden liegende Ortschaft Bariloche, mit ihrem prächtigen Nahuel-Huapí-See, gilt als die argentinische Schweiz
und wird von Touristen aus aller Welt besucht. Nun gehörte
ein wesentlicher Teil dieser Landschaft dem deutschen Professor und seinen Mitarbeitern, die ungestört und aufs Beste versorgt, dort ihre Forschungen ausführen durften. Schließlich standen sie ja unter dem Schutz des mächtigsten Mannes Südamerikas.
Nach knapp zwei Jahren geheimer Arbeit kam dann die oben genannte welterschütternde Verkündigung der gelungenen Energiebeschaffung durch Kernfusion, die jedermann billig zur Verfügung stünde. Dazu hatte Richter erklärt, dass im Gegensatz zu anderen Ländern, wie die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und Großbritannien, die von ihm angewandte thermische
Methode auf die kontrollierte Freisetzung von Atomenergie basierte. Unter Erzeugung von sonnenähnlicher Hitze von mehreren Millionen Grad, sei eine Kettenreaktion ohne Verwendung von Uran erzielt worden...
Inzwischen wurde Richter das argentinische Staatsbürgerrecht zugesprochen und er galt als der Wissenschaftler, der Argentinien in den Kreis der Atommächte eingeführt hatte. Peron musste jedoch einräumen, dass es noch einiger Ergänzungsforschungen benötige. um das Projekt wirtschaftlich umzusetzen. Inzwischen wurde noch die Comisión Nacional de Energía Atómica (Nationaler Ausschuss für Atomenergie) etabliert, welche die Aufgabe hatte, das Huemul Projekt zu unterstützen. Diese Behörde begann aber, an der ganzen Sache zu zweifeln und leitete eigenständig ein Untersuchungsverfahren ein, das hauptsächlich die Befähigung von Professor Richter feststellen sollte. Informationen aus aller Welt wurden eingezogen und schließlich begab sich eine Sonderkommission nach Huemul, um vor Ort die Fakten zu überprüfen.
Man kam schnell zu dem Ergebnis, dass es sich um einen Betrug handelte, da mit der zurzeit verfügbaren Technik diese Art von Energiegewinnung nie habe zustande kommen können. Die Berichte waren überwältigend und unwiderlegbar, so dass wenige Monate später das Projekt abgeblasen wurde. Seitdem bekam die Insel Huemul im Volksmund die Bezeichnung Huele a mula (es stinkt nach Maultier). Mula
gilt in Argentinien als Synonym für Betrug. Der Ausdruck stammt von den Zuckerrohr-Plantagen her, wo die Pächter, die per Kilo Ernte bezahlt wurden, öfters die Mula (das Maultier) mit auf die Waage stellten. Also machte man sich mit dem Namensvergleich über die Regierung lustig.
Perón war absolut not amused, als Lachnummer der Nation dargestellt zu werden, beschloss aber die ganze Affäre unter den Teppich zu kehren, und bald wusste niemand mehr etwas davon ...
Als Perón 1955 durch einen Militärputsch gestürzt wurde, verließen Richter und alle anderen deutsche Schützlinge des Regimes schleunigst das Land. Die Versuchsanstalt auf der Insel Huemul wurde stillgelegt und stattdessen das Institut für Physik von Bariloche gegründet. Letzteres entstand in Vereinbarung mit dem Nationalen Ausschuss für Atomenergie und der Nationalen Universität von Cuyo. Hier konnte sich dann eine junge Generation von Physikern orientiert in Atomforschung ausbilden.
Alles dies führte schließlich zum Einstieg Argentiniens in die normale
Atomenergieerzeugung. Bereits 1974 ging das Kernkraftwerk Atucha (in der Nähe der Stadt Rosario) in Betrieb. Am Bau war zu einem großen Teil die deutsche Kraftwerkunion AG beteiligt und die Anlage hatte eine Nettoleistung von über 330 MWe. Ein weiteres Kraftwerk, Atucha 2, wurde in Embalse errichtet, aber wegen des chronischen Geldmangels in Argentinien konnte es nur bis zu 80% fertig gestellt werden. Die Projekte Atucha 3 und 4 liegen noch auf dem Reißbrett.
Als Zeitzeuge hatte ich das Privileg, diese Entwicklung mitzuerleben und bin nun in der Lage ein dunkles Kapitel der argentinischen Politik an die neuen Generationen weiterzugeben.
Dachte ich! Dann las ich zu meiner Überraschung in den heutigen Medien, dass mit kleinen Veränderungen alles wieder von Vorne anfängt....
Erinnerung an die Zukunft
Tatsächlich steht im Hamburger Abendblatt vom 22. Mai 2009 (genau an meinem 85. Geburtstag) folgendes:
Man stelle sich vor, ein Durchschnittshaushalt würde seinen jährlichen Strombedarf aus zwei Litern Wasser und 250 Gramm Gestein decken
. Weiter berichtet die Zeitung, dass Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Greifswald glauben, dass das möglich ist. Sie bauen an einem Reaktor, in dem Atomkerne nicht gespalten, sondern geschmolzen werden — wie es seit Milliarden Jahren auf der Sonne geschieht. Hallo! Das hatten wir doch schon vor fast sechs Jahrzehnten im fernen Argentinien!!
Die Kernfusion wirkt verlockend als eine quasi unerschöpfliche Quelle Sonnenenergie auf Erden. Doch die Kritiker dieser Technologie überzeugt das nicht - so der Zeitungsbericht. Die technologischen Probleme bei der Entwicklung eines funktionsfähigen Fusionsreaktors sind unüberwindbar.
Auch die Verfechter der Fusionsforschung legen sich nicht darauf fest, wann es genau ein wirtschaftlich nutzbares Fusionskraftwerk geben wird. Man spricht von etwa 50 Jahren.
Also bleiben die Theorien nach wie vor umstritten.
Vielleicht gelingt es einem meiner Nachfolger, diese Story im nächsten Jahrhundert zu vollenden...