Der Timon Club in Buenos Aires
Der Timon Club von Buenos Aires ist eine traditionelle Institution, der prominente Teilnehmer des maritimen Bereichs angehören. Der Sitz dieses Vereins ist ein ehrwürdiges Patrizier-Haus im alten Stadtviertel San Telmo, knappe 1000 Meter vom Regierungspalast entfernt.
Der Name Timon
(Steuerrad) symbolisiert die Zusammensetzung der Mitgliederschaft des Vereins. Dieses ist im Logo, dem Steuerrad im grünen Wimpel, erkennbar.
Das Klubgebäude ist ein zweistöckiges Haus mit großzügigen Räumlichkeiten. Im Erdgeschoss befinden sich zwei große Empfangs- oder Speisesäle, eine Bar, die Garderobe, Küche und Toiletten. Im Obergeschoss befinden sich die Sitzungsräume sowie die Wohnung des Hausmeisters, der gleichzeitig der Pächter des Klub-Restaurants war. Überall ist der Prunk vergangener Zeiten zu sehen. Prächtige Gardinen, noble Holzschnitzereien und überdimensionierte Spiegel mit vergoldeten Rahmen.
Mitte der 1960er Jahren bin ich dem Timon Club beigetreten. Der Präsident des Vereins, Inhaber einer mittelgroßen Schiffswerft, hatte mich zu einem der regelmäßigen Mittagsessen, die jeden Donnerstag im Restaurant des Klubs veranstaltet wurden, eingeladen. Es fiel ihm nicht schwer, mich als Mitglied zu gewinnen. Zum Stammtisch gehörten hauptsächlich die Vorstandsmitglieder und einige der frequentierenden Teilnehmer an. Man setzte sich an einen runden Tisch, der r 10 bis 12 Personen Platz bot. Sollte die Gästezahl größer ausfallen, wurden zusätzlich normale
Tische angebaut.
Das Verhalten im Timon Club ähnelte sehr dem eines britischen Klubs. Angemessene Kleidung war erforderlich, die Präsenz von Frauen total ausgeschlossen, und es herrschte ein respektvolles Ambiente. Vor jeder Veranstaltung - das Mittagessen am Stammtisch eingeschlossen - wurde einer der Anwesenden aufgefordert, die Zielsetzungen des Klubs - eine Art von Credo - vorzulesen.
Der Text lautet wie folgt:
Zielsetzungen
Gegenseitiges Kennenlernen aller führenden Kräfte im maritimen Bereich und Förderung der harmonischen Beziehungen zwischen allen Beteiligten zu ermöglichen.
Unterstützung aller Initiativen, die in der Republik Argentinien der Förderung der Industrie und der Wirtschaft sowie der Entwicklung und des Fortschritts der Häfen dienen.
Die Treffen im Timon Club so zu gestalten, dass sie eine Tribüne für technische und normative Themen auf dem Gebiet des Maritimen und der Häfen werden.
Organisation von Konferenzen über Probleme des Maritimen Bereichs und der Häfen.
Verbreitung von Informationen über Entwicklung der Häfen und der Schifffahrt.
In diesem Sinne wurden monatliche Konferenzen mit prominenten Referenten bei einem Abendessen organisiert. Wie es sich zu einem britisch
geprägten Klub gehört, wurde hier ein striktes Protokoll eingehalten. Jeder der geladenen Gäste bekam seinen Platz an der langen Tafel zugewiesen. In der Mitte, zur Rechten des Präsidenten, der Redner. Dann folgten zu beiden Seiten die ranghöchsten Gäste, je von einem Mitglied begleitet.
Die Aufstellung dieser Tischordnung war eine sehr delikate Angelegenheit. Man durfte die Ansprüche der Anwesenden nicht übergehen, einen würdigen
Platz an der Tafel zu bekommen. Diese Verantwortung fiel dem Exekutiven Generalsekretär des Klubs zu. Zur Zeit meines Beitritts war dieses Amt von einem echten Gentleman britischer Herkunft besetzt, der seine Pflichten als Vollstrecker dieser Gepflogenheiten sehr ernst nahm. Als er starb ,wurde ich in dieses Amt gewählt und weilte viele Jahre als solcher bis kurz vor meiner Auswanderung nach Deutschland.
Um den praktischen Verlauf dieser Veranstaltungen kümmerte sich die einzige Frau, die Zugang zu den Räumlichkeiten des Klubs hatte. Sie war eine Art von Haushälterin, die auch den Verwaltungskram
des Vereins erledigte. Im Obergeschoss verfügte die schon ältere Dame über ein kleines Büro. Zur Mittagszeit saß sie an einem abgelegenen kleinen Tisch im Speisesaal, fern von den Mitgliedern.
Señorita Gianni, wie sie genannt wurde, stellte zusätzliches Küchenpersonal und Kellner für die monatlichen Abendessen ein und sorgte dafür, dass Tischtücher und Blumenschmuck ausreichend vorhanden, die Menükarten gedruckt, Einladungen verschickt worden waren, und vieles mehr. Sie war immer sehr engagiert und hilfsbereit. Die wahre Seele einer Männerdomäne. Als sie starb, wurde sie im Klubgebäude aufgebahrt. Eine Ehre, die keinem Mitglied sonst gewährt wurde.
Zu meinen Verantwortungen als Exekutiver Generalsekretär kam noch die Aufgabe, mich als Ghostwriter für den Präsidenten zu betätigen. Don Pepe
, wie er liebevoll im Klub genannt wurde, hatte mich im Laufe der Zeit gefragt, ob ich ihm behilflich sein könnte eine Rede zu entwerfen, da ich ja mehr Erfahrung in der Schreibtechnik hätte. Natürlich war ich damit einverstanden. Was ich nicht wusste, war, dass ich ihm danach die Texte für alle
Reden schreiben würde. Sei es für eine Festrede oder eine Andachtsrede, eine Laudatio oder sogar eine Grabrede. Das Komische dabei war, dass jedes Mal, wenn er sich über den Applaus seiner Zuhörer freute, er mir auf die Schulter klopfte und sagte: Na, Ernesto, wie war ich?
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Tragischerweise ist es auch meine Aufgabe gewesen, bei seiner Bestattung die entsprechenden Abschiedsworte vorzutragen.
Im Allgemeinen habe ich sehr schöne Erinnerungen an meine Zeit im Timon Club.
Im August 1969 wurde ich eingeladen, einen Vortrag über die Rolle der Fachpresse in der Maritimen Aktivität
zu halten. Bei dieser Gelegenheit überreichte mir Don Pepe
eine Medaille, die mich als Mitglied des Klubs akkreditierte.
Auch persönliche Ereignisse verbinden mich mit dieser Institution. Im Jahre 1973 feierte ich mit meiner Frau die Silberne Hochzeit. Angesichts der hohen Zahl der zu ladenden Gäste (rund 150) wäre es in unserer Wohnung zu eng geworden. Also beschlossen wir, die Klubräume in Anspruch zu nehmen. Da es sich um eine private
Feier handelte, wurden die strengen Restriktionen ausgesetzt und auch Frauen durften die heilige
Stätte betreten.
Auf Grund meiner geschäftlichen Beziehungen befanden sich unter den Gästen neben Verwandten und Freunden auch hochrangige Persönlichkeiten aus dem maritimen Bereich. Meine größte Freude war jedoch, meine Frau und die beiden erwachsenen Töchter in ihren langen Festgarderoben zu sehen.
Als 1975 mein erster Enkelsohn - Pablo - zur Welt kam, feierte ich dieses Ereignis in Begleitung der Stammtischkollegen vom Klub, indem ich eine 30 cm lange Zigarre anzündete. Verständlicherweise kam ich nicht dazu, diese Riesen-Zigarre bis zu Ende zu rauchen, aber die Erinnerung daran blieb den Anwesenden noch lange erhalten.
Als ich mich 1992 entschloss, das Land für immer zu verlassen, musste ich leider dem Timon Club meinen Austritt mitteilen. Als Antwort darauf bekam ich einen Brief mit der Verkündigung meiner Ernennung als Ehrenmitglied des Klubs in Anerkennung meiner ständigen Unterstützung der Zielsetzungen der Institution
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Ein rührender Abschluss einer rund 25-jährigen Klubmitgliederschaft.