Wir machen uns selbstständig
Sommer 1968, ich bin 35 Jahre alt, meine Frau Marion ist 27 und hochschwanger. Im August 1968 kommt unsere Tochter Harriet gesund zur Welt.
Wir sind beide bei der Firma Seifen-Hesse in Hamburg-Langenhorn angestellt. Meine Frau als Leiterin der Filiale in der Dorotheenstraße, in Hamburg-Winterhude und ich in den beiden Geschäften am Schmuggelstieg in Hamburg-Ochsenzoll. Die Läden liegen ungefähr 30 Meter voneinander entfernt. Aber beide Geschäfte haben ganz unterschiedliche Sortimente. In einem betreiben wir einen Handel mit Farben, Tapeten, Bodenbelägen, Dekostoffen, Rollos, Jalousien und Holzschutzmitteln. Sogar eine Farbmischanlage steht dort zur Verfügung. Im zweiten Laden am Schmuggelstieg verkaufen wir Seifen, Geschirr, Geschenkartikel und Papierwaren, Reinigungsmitteln, Eimer, Besen und mehr.
Diese beiden Geschäfte verkaufte unser Chef, Herr Hesse an uns nach fast zehn Jahren. Als ich 1958 bei Hesse anfing, sagte mein Chef damals: Wer zehn Jahre bei uns ist, bekommt eine goldene Uhr und irgendwann verkaufe ich meine Läden an
. Die Firma Hesse betrieb weitere Filialen in Hamburg-Othmarschen, Bad Oldesloe und in Kiel. Da ich aber bei der Übernahme der Geschäfte meine zehn Jahre noch nicht voll hatte, bekam ich auch keine goldene Uhr.meine
Herren
Bargeld oder Spargeld hatten wir keines mehr, weil wir kurz vor Übernahme der Läden von Hamburg, Eppendorfer Baum nach Harksheide umgezogen waren, um dichter bei den Läden zu sein. Wir mussten dort an den Vermieter 5.000 D-Mark verlorenen BaukostenzuschussSiehe Verordnung über wohnungswirtschaftliche Berechtigung:
Verlorene Baukostenzuschüsse sind Geld-, Sach- und Arbeitsleistungen an den Bauherrn, die zur Deckung der Gesamtkosten dienen und erbracht werden, um den Gebrauch von Wohn- oder Geschäftsraum zu erlangen oder Kapitalkosten zu ersparen, ohne daß vereinbart ist, den Wert der Leistung zurückzuerstatten oder mit der Miete oder einem ähnlichen Entgelt zu verrechnen oder als Vorauszahlung hierauf zu behandeln. Verlorene Baukostenzuschüsse sind auch Geldleistungen, mit denen die Gemeinde dem Eigentümer Kosten der Modernisierung erstattet oder die ihm vom Land oder von der Gemeinde als Modernisierungszuschüsse gewährt werden. für die neue Wohnung bezahlen.
Der Schmuggelstieg war als Ladenstraße ideal. Es gab schon lange das Fahrradgeschäft Hertel gleich am Anfang, und in den Buden folgte ein Ofensetzer, der alles verkaufte, was für einen Kanonenofen erforderlich war. Dann war da noch Amida Stein mit ihrem Schallplattenladen, die riesige Auswahl war weithin bekannt. Daneben Frau Linau mit ihrer Hutmode, alles Handarbeit und sehr chic, oder der Grönwold-Modesalon, fein und edel, schöne Mode. Ein Laden mit Kemm'schen braunen Kuchen, dann eine Bäckerei, die Firma Seifen-Hesse,
und Tante Erni
, eine Kaffee-Rösterei, mit ihrer Ochsenzoller Mischung
war ebenfalls weit bekannt. Hier gab es alle Kaffeesorten, ganze Bohnen oder frisch gemahlene, gleich für zu Hause zum Kaffee mit frischem Kuchen vom Bäcker nebenan. Hosen-Kähler, er sprach viel und schnell und stieß beim Sprechen leicht mit der Zunge an. Jede Hose wurde sofort gekürzt oder geändert. Auf jeden Fall muss Kurzwaren-Weber
erwähnt werden. Hier gab es Knöpfe – Knöpfe – Knöpfe, der Wahnsinn, und Hosentaschen, Reißverschlüsse. Es gab alles, und was es nicht gab, wurde besorgt. Wer nicht weiter wusste, dem wurde auch geholfen. Hildebrand – eine echte Kneipe, und ein türkischer Gemüseladen mit viel fremder und ausgefallener Ware, damals noch sehr ungewöhnlich – gleich neben uns.
Kay Sabban, Schauspieler, lernte seine Texte laut auswendig, während er den Schmuggelstieg mit großen Schritten auf und ab ging. Wir selbst mit unserem eigenen Geschäft waren ja auch nicht ganz ohne. Der Schmuggelstieg war keine Verkehrsstraße, nur Fußgänger und Radfahrer waren erlaubt. Bei gutem und trockenem Wetter hing überall was an den Läden, oder stand davor, dann sah der Schmuggelstieg aus wie ein Basar.
Am Morgen, wenn die Geschäfte öffneten, waren alle beschäftigt, die Straße zu fegen, die Fenster zu putzen und Neuigkeiten auszutauschen. Gegenüber war die katholische Kirche St. Annen mit einer tollen Kegelbahn unter dem Pastorat. Für den Ochsenzoll
steht noch heute die kleine Strohdachkate an der Segeberger Chaussee, das Zollhaus, heute unter Denkmalschutz. Rinder wurden hier über die Grenze zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein getrieben. Häufig aber auch am Zoll vorbei, eben durch den Schmuggelstieg.
In den 1960er Jahren war der U-Bahnhof Hamburg-Ochsenzoll die einzige Verbindung von und nach Hamburg. Hier war Endstation. Busse gab es keine. Wer zum Krankenhaus Ochsenzoll, zum Hotel Tomfort, oder in die entgegengesetzte Richtung zum damaligen Spitzenrestaurant Behnke wollte, musste die Strecke zu Fuß bewältigen oder eine Droschke nehmen. Heute steht dort ein gerade fertiggestellter großer Neubau an der Langenhorner Chaussee. Ebenso fuhr man mit der U-Bahn bis Ochsenzoll in die Sommerfrische und spazierte zum Altonaer Hof, einem beliebten Ausflugsziel mit großem Kaffeegarten. Gegenüber dem Bahnhof war die Keksfabrik Seidel, die einmal pro Woche Keksbruch an jedermann billig verkaufte.
Wer also aus Hamburg kam und seinen Wohnsitz auf der anderen Seite der Grenze hatte, wählte in den meisten Fällen den Schmuggelstieg als kürzeste Verbindung.
Ein Damoklesschwert
hing allerdings immer über uns. Die Stadt Hamburg wollte irgendwann das Provisorium
weghaben, denn die Buden waren illegal. Das hieß, da jeder seine Bude selbst gebaut hatte, müsste er sie auch selber wieder entfernen oder die Abbruchkosten dafür tragen. Die Läden standen jetzt schon fast 20 Jahre. Das war unser Risiko!
Wir lieferten alles, was groß, sperrig, schwer oder umständlich zu handhaben war, dem Kunden direkt ins Haus. Rollos, Gardinenbretter und -stangen wurden von uns montiert. Bei Bodenbelägen verhielt es sich ganz eigenartig. Große und schwere Rollen mussten wir selten in die Erdgeschosswohnungen, sondern immer irgendwie nach ganz oben liefern und sie passten auch nie in den Fahrstuhl. Die schweren Rollen mussten also auf den Schultern nach oben getragen werden.
Wenn mich Kunden fragten: Wann kommen Sie denn?
, war meine Antwort: Heute, und heute geht bis 24 Uhr
. Wir kamen manches Mal wirklich so spät, dass wir schon selbst ein schlechtes Gewissen hatten. Auch brachten wir Musterbücher und berieten die Kunden im Hause. Sicher fragen Sie jetzt, liebe Leserin, lieber Leser, wer hat denn das alles bewegt, verkauft, montiert und geliefert?
Heinzelmännchen wie dazumal in Köln gab es zu der Zeit doch auch schon nicht mehr – oder?
In der ersten Zeit war ich bei den Farben und Tapeten allein tätig. Frau Hoppe aus Wakendorf II führte den Seifenladen und hatte sich richtig gut eingearbeitet, sie war umsichtig, hatte große Freude und handelte selbstständig. Es kam noch eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern, Frau Wulf aus Langenhorn dazu, sowie eine gestandene Frau aus dem Garstedter Kirchenweg, Ruth Bengsohn. Irgendwann waren wir auch in der Lage, uns eine Hilfe für die Reinlichkeit zu leisten. Das machte Alma Stäcker aus Friedrichsgabe. Sie hatte schon ein Großteil ihres Lebens hinter sich, hatte viel gesehen und erlebt, leicht war es nie. Aber sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und nahm kein Blatt vor den Mund. Immer wenn es ihr möglich war, brachte sie mir einen Topf voll Schwarzsauer mit. Mmmmh – das war große Klasse, da musste auch der Teller abgeleckt werden.
Zu der Zeit hatten wir auch einen Laufjungen aus dem Forstweg in Harksheide. Er war mit seinem Fahrrad und einem Anhänger, auf dem zwei Metallbügel montiert waren, im Einsatz. Er konnte am Tage fahren und auf den Bügeln Bodenbelege transportieren.
Einen Wagen hatten wir zu der Zeit noch nicht. Die Geschäfte und der Bahnhof waren für uns in gut 20 Minuten zu Fuß zu erreichen. Ich wollte ja auch nie ein Auto haben. Als Herr Hesse noch mein Chef war, hatte er mich aber schon vor Jahren bedrängt, den Führerschein zu machen. Er hatte sich überlegt, die Filialleiter sollten ihre Filialen mit den Wareneffekten im Hauptgeschäft in Langenhorn selbst packen und transportieren. Da der Chef den Führerschein bezahlen wollte, gab es für eine Ablehnung meinerseits keinen echten Grund. Ich habe den Schein gemacht, die Prüfung auch bestanden, aber lange hat es gedauert und teuer wurde es auch. Als dann die Rechnung kam fragte mein Chef nur, ob er auch einen Gebrauchten
dazu bekäme.
Da hatte ich also einen Führerschein, aber die Philosophie meines Chefs hatte sich geändert. Es wurde weiterhin vom Hauptgeschäft ausgeliefert, noch hatten wir ja unseren Laufjungen. Aber das war kein Dauerzustand. Durch seine guten schulischen Leistungen gelangte er zu höheren Weihen. Nun wurde es Zeit für mich, mir ernsthaft Gedanken zu machen, wie wir unsere Waren ausliefern wollten. Zwei Jahre war ich ohne Fahrpraxis, Ahnung von Autos hatte ich wenig. Wir gingen zu Hugo Pfohe in der Barmbeker Straße und entschieden uns für einen gebrauchten Ford-Kombi. Jetzt fuhr ich morgens mit dem Wagen in die Firma, und am Tage, bei Leerlauf, stellte ich die auszuliefernden Aufträge zusammen.
Um 18 Uhr, nach Ladenschluss, belud ich den Wagen, fuhr ins Arriba-Bad, schwamm dort 500 Meter, stieg aus dem Wasser, rein in den Wagen und lieferte aus. Nach dem letzten Kunden fuhr ich zurück in die Firma, rechnete die Kasse ab und ging mit der Tresorkassette zur Bank am Bahnhof. Danach war Feierabend, ich fuhr nach Hause und machte mir ein warmes Mittagessen zum Abend. An diesem Punkt war abzusehen, dass es auf lange Sicht nicht möglich sein würde, weiter alles allein zu bewältigen, und es geschah etwas.
Denn eines guten Tages stand ein junger Mann in der Tür, elegant gekleidet mit dunklem Gehrock, Hut und einem schwarzen ledernen Aktenkoffer in der Hand und fragte: Suchen Sie einen teuren Mann?
Ich war verdutzt, überrollt, ich sammelte mich wieder und verneinte. Er gab mir seine Karte und ging ebenso höflich, wie er gekommen war. Das war Manfred Stock aus der Greifswalder Kehre in Harsksheide.
Am Abend schilderte ich dieses Erlebnis meiner Frau und ging davon aus, sie würde ähnlich wie ich reagieren. Weit gefehlt, sie hörte sich alles an, lächelte und sagte: Der ist gut, du brauchst doch Hilfe, hör dir das doch erst mal an
. So haben wir uns mit Herrn Stock in seinem Hause verabredet.
Wir haben uns geeinigt, sind über die Jahre sehr gut miteinander ausgekommen und waren zusammen fast unschlagbar. Ich muss sagen, vieles beherrschte er besser als ich.
Einmal hat uns eine ältere Kundin aus dem Kielort in Harksheide zum Dank für die gute Beratung und Hilfe zu einem Tafelspitz mittags eingeladen. Sie sagte: Sie machen Ihren Laden zur Mittagspause etwas früher zu, damit Sie Zeit und Ruhe beim Essen haben
. Das hat uns beiden gutgetan, denn der Tafelspitz war ihr wirklich gut gelungen.
Schön war auch, wenn im Seifenladen neues Geschirr oder Porzellan geordert werden musste. Das geschah in der Regel nach Feierabend, damals war das um 18 Uhr. Da kamen alle immer gern mit, es gab so viel Neues zu sehen. Es war die Zeit der kräftigen Farben: rot, dunkelblau oder tannengrün, ich glaube, es nannte sich Piroschka
Keramik von Villeroy & Boch, Serie Piroschka
.
Wichtig waren auch die Einkäufe, die Frau Hoppe und meine Frau für die Weihnachtszeit tätigten, unter anderem Kerzen, Tannenbaumschmuck, ferner die vielen Geschenk-Kartonagen, 4711 Echt Kölnisch Wasser, Tosca, Nonchalance, Uralt Lavendel, Tabac und viele mehr, diese vielen beliebten Düfte, die heute kaum noch im Vordergrund stehen.
Zum Abschluss des Jahres als Tüpfelchen auf dem i
: Silvester mit Feuerwerk, Knallerei, Tischdekoration, sowie Hüten und Masken. Bei dem Trubel war auch Herr Stock noch drüben im anderen Geschäft bei den Damen. Am letzten Tag des Jahres gönnten wir uns alle einen guten Schluck Schampus, teilten den verbliebenen Rest an Feuerwerkskörpern auf oder verknallten ihn vor dem Laden.
Dann begann eine neue Zeit!