Milchgeschäft am Ochsenzoll
Jugendjahre im Dritten Reich
Geboren im Oktober des Jahres 1927, mussten meine Zwillingsschwester Ilse und ich bereits mit zehn Jahren meinen Eltern im Geschäft helfen. Mein Vater war der Milchmann Schmidt, der am Ochsenzoll sein Milchgeschäft hatte. Er war im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen und konnte dem neuen Machthaber Adolf Hitler
nichts abgewinnen. Er war Monarchist und kaisertreu geblieben und hätte am liebsten Kaiser Wilhelm wiedergehabt. Er ist deshalb auch nie in die NSDAP, er sagte zu Hause nur die Partei
, eingetreten. Vater hatte auch, als Hitler mit dem Autobahnbau und dem Bau der KDFDie nationalsozialistische Gemeinschaft Kraft durch Freude (KdF) wurde am 27. November 1933 als Unterorganisation der Deutschen Arbeitsfront (DAF) mit dem Ziel gegründet, den Totalitätsanspruch des NS-Regimes mit der Bildung einer wirklichen Volks- und Leistungsgemeinschaft aller Deutschen
zu erfüllen.-Schiffe begann, den Krieg vorausgesehen. Wenn das alles fertig ist, wird es auch genutzt werden, dann gibt es Krieg
war seine Voraussage. Er war ein Schwarzseher und hatte vieles negativ gesehen, hier hat er leider recht behalten. Er hatte so ein dickes Buch vom Ersten Weltkrieg, in dem wir liebend gern blätterten. Immer wieder hat er uns dann mit den Worten: Wir müssen keinen Krieg haben
, vor einem neuen Krieg gewarnt. Laut hat er das aber nie gesagt, das war gefährlich in dieser Zeit; er war een lütten Bangbüx
.
Vater besaß zwei dreirädrige Transporter, einen Tempo Hanseat, der in Neugraben bei Vidal & SohnDie Vidal & Sohn Tempo-Werk GmbH mit Sitz in Harburg wurde 1928 gegründet, um Lieferwagen zu bauen.Klick für Wikipedia … gebaut wurde und einen Borgward Goliath. Das war zu der Zeit sehr ungewöhnlich, und ein Reporter schrieb einmal in der Heimatzeitung von seinen beiden Pferden
Tempo und Goliath, worüber er sehr lachen musste. Der Schreiber hatte wohl nicht begriffen, dass diese beiden Pferde
, mit denen die schweren Milchkannen transportiert wurden, keinen Hafermotor
hatten, sondern mit Benzin betrieben wurden, das es auf Zuteilung für wichtige Betriebe
gab. Die Milch kaufte er direkt bei den umliegenden Bauernhöfen in Harksheide. Die Bauern lieferten die Milch direkt von der Kuh, so wie sie gemolken wurde, und sie enthielt viel Rahm und Fett. Im Geschäft wurde gebuttert und die aus der Milch gewonnene Butter extra verkauft. 1937 erließ der Führer
eine Anordnung, wonach die Milch an eine Meierei geliefert werden musste. Nun schöpft er den Rahm für seine Soldaten selber ab
sagte mein Vater. Im Milchladen verkauften wir jetzt Vollmilch mit einem Fettgehalt von vier Prozent nur noch an werdende Mütter und Kinder, alle anderen bekamen die entrahmte und fettarme Magermilch, die nach dem Buttern übrigblieb. Wir junge Mädchen im Alter von zwölf bis 13 Jahren waren alle noch nicht aufgeklärt, aber wenn eine junge Frau ohne Kinder Vollmilch einkaufte, wussten wir: Da kommt ein Baby.
Gegenüber unserem Geschäft floss die Tarpenbek und kreuzte den Schmuggelstieg. Die Tarpenbek war früher einmal die Grenze zu Dänemark gewesen. Die Nazis hatten den Straßennamen Schmuggelstieg
in Albert Leo Schlageter Weg
geändert. Der Lauf der Tarpenbek wurde ab hier in Richtung Hamburg vom Reichsarbeitsdienst (RAD) begradigt. Auch haben die Arbeitsmänner des RAD die Ufer mit Faschinen befestigt und Pflöcke eingeschlagen. Das habe ich als Kind noch gesehen.
Meine Mutter wurde einmal von der Frauenschaftsführerin, Frau Fuchs, aufgefordert, wie alle anderen an einer Zusammenkunft der Nationalsozialistischen FrauenschaftDie NS-Frauenschaft (kurz NSF) war die Frauenorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Sie entstand im Oktober 1931 als Zusammenschluss mehrerer nationalistischer und nationalsozialistischer Frauenverbände, wie dem bereits 1926 in Berlin entstandenen Deutschen Frauenorden (DFO). Fortan unterstand die Frauenschaft der NSDAP-Reichsleitung. Mädchen und junge Frauen fielen in die Zuständigkeit des Bundes Deutscher Mädel (BDM).Klick für Wikipedia … (NSF) teilzunehmen. Der Erste Mai wäre doch jetzt ein Nationalfeiertag des Deutschen Volkes
, da hätte sie doch frei und müsste nicht im Geschäft arbeiten. Meine Mutter erwiderte, dass dieser Tag der Einzige wäre, an dem sie mit der Familie einmal Kaffee trinken könnte, weil das Geschäft geschlossen hatte. Denn sonst hatten wir selbst am Sonntag das Geschäft geöffnet. Mein Vater schmückte wie alle anderen am ersten Mai das Haus mit einer Hakenkreuzflagge. Allerdings hing er die mickrige Flagge von der Straße kaum sichtbar aus dem Dachfenster. Nicht zu flaggen wäre für ihn gefährlich gewesen, das NS-Regime ließ Regimegegner sehr schnell verschwinden
Verschwinden
war die euphemistische Umschreibung damaliger Zeit für: Von der Gestapo abgeholt, festgenommen, verhaftet und im KZ eingesperrt. Viele wurden misshandelt, gefoldert und sogar ermordet. Ihr Schicksal wurde nie bekannt.. Viele unserer Bekannten dachten ähnlich wie mein Vater, aber sie sprachen nicht darüber, wenn wir Kinder dabei waren. Ich habe aber doch einiges von den Gesprächen mitbekommen. Die Erwachsenen mussten immer sehr genau darauf achtgeben, was sie sagten, damit die Kinder nichts ausplaudern konnten.
Wir wurden zwar in unserer Schule politisch nicht sehr bedrängt, obwohl der Direktor ein Parteiabzeichen trug. In anderen Schulen war es aber anders und auch manche Eltern waren sehr fanatisch und es hätte schlimm ausgehen können, wenn die Kinder zu Hause etwas weitererzählt hätten.
Wir Mädchen, meine Zwillingsschwester Ilse und ich, waren allerdings in der Hitlerjugend, im Jungmädelbund, später, mit 14 Jahren im Bund Deutscher Mädel (BDM) organisiert. Die Teilnahme dort war streng über die Schule organisiert, wir wurden nicht gefragt, ob wir dort eintreten wollten, die Teilnahme war Pflicht. Wenn wir aufgefordert wurden, zum Dienst
zu erscheinen, ließ uns unser Vater laufen, auch wenn er damit nicht einverstanden war. Wir brauchten an diesen Tagen den Eltern nicht im Geschäft oder im Garten zu helfen. Unsere BDM-Führerin war an ihrer rot-weißen KordelSommertracht der BDM-Unterbannführerin, an ihrer rot-weißen Kordel, die vom Halstuchknoten zur linken Brusttasche getragen wurde, zu erkennen.
Höhere Dienstgrade trugen grün-weiße Kordeln. zu erkennen, die sie an ihrer Tracht
, so wurde die Uniform genannt, trug. Sie war von ihrer Aufgabe ganz erfüllt. Wenn wir Dienst
hatten, wurden die Lieder gesungen aus dem Liederbuch Wir Mädel singen
, das von der Reichsjugendführung herausgegeben wurde. Wir machten Sport, das hieß damals Leibesertüchtigung
, Spiele und Wanderungen und lernten nähen, es war immer sehr kurzweilig und interessant. In Harksheide, am Forstweg, wurde ein HJ-Heim gebaut, das nach dem Krieg als Kindergarten genutzt wurde. Wir sind mit dem Fahrrad gerne dahin gefahren, weil uns dort etwas geboten wurde und wir dann auch zu Hause nicht arbeiten mussten.
Der Mai 1941 brachte große Veränderungen. Alle Kinder unserer Mittelschule wurden aus Furcht vor Bombenangriffen der Alliierten nach Zinnowitz auf der Insel Usedom evakuiert. Das nannte sich Kinderlandverschickung
Siehe: Rundschreiben des Reichsleiters M. Bormann an die obersten Reichsbehörden und Parteidienststellen vom 27. September 1940 Klick … und dauerte bis zu unserer Rückkehr im Oktober. Meine Schwester und ich wurden in diesem Monat 14 Jahre alt und waren ab da nicht mehr Jungmädel
, sondern BDM-Mädel. Meiner Meinung nach war die Furcht vor Bombenangriffen ein Vorwand, denn die Bombenangriffe auf Hamburg begannen erst 1943. Davon haben wir in Garstedt aber nicht viel mitbekommen. Ich erinnere mich, dass an einem Sonntagmorgen im Sommer 1943Operation Gomorrha
war der militärische Codename für eine Serie von Luftangriffen, die von der britischen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg beginnend Ende Juli 1943 auf Hamburg ausgeführt wurden. Es waren die damals schwersten Angriffe in der Geschichte des Luftkrieges.Klick … die Sonne gar nicht durch den Dunst kommen wollte, der den Himmel verdunkelte. In der Nacht hatte es einen schweren Bombenangriff auf Hamburg gegeben und der Rauch der brennenden Stadt hat selbst bei uns noch wie Nebel gewirkt, es wurde gar nicht richtig hell. Der Großmutter, die in Altona, in der Nähe des Hochbunkers am Heiligengeistfeld wohnte, war aber Gott sei Dank nichts passiert. Die Kinderlandverschickung diente meiner Meinung nach der Erziehung, weil sie uns so alle gut am Wickel
hatten. Jungen und Mädchen waren getrennt untergebracht, wurden aber teilweise gemeinsam unterrichtet. Im Oktober mussten wir zurück nach Hause, weil die Pensionen auf Usedom nicht beheizbar waren.
1945 sollten meine Zwillingsschwester Ilse und ich unser Pflichtjahr ableisten. Alle Pflichtjahrmädel waren von der Partei verpflichtet, in der Land- und Hauswirtschaft oder im Reichsarbeitsdienst als Abeitsmaiden ein Jahr unbezahlte Arbeit für das Volk abzuleisten. Meine Schwester durfte ihr Pflichtjahr zu Hause im Milchgeschäft der Eltern ableisten. Sie war damit in einem wichtigen Betrieb in der Hauswirtschaft tätig. Ich wollte eine Ausbildung zur Lehrerin oder Wirtschaftsführerin machen. Die vier Semester wären mir beim Reichsarbeitsdienst angerechnet worden. Doch es kam anders, im April 1945 wurde ich noch zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Ich sollte nach Süderbrarup, im Land AngelnAngeln (dänisch Angel, lateinisch Anglia) ist eine Halbinsel, die von der Flensburger Förde und der Schlei umgeben ist und sich auf der Kimbrischen Halbinsel befindet. Die Halbinsel liegt im Gebiet des Kreises Schleswig-Flensburg im Nordosten des Landes Schleswig-Holstein.. Der ganze Aufenthalt dort hat aber nur acht Tage gedauert, und ich weiß nicht mehr, was wir dort eigentlich gemacht haben. Wir wurden auch nicht mehr auf den Führer
vereidigt. Im RAD-Lager Süderbrarup war kaum noch etwas vorhanden. Aus unseren Betten war jede zweite Latte aus den Lattenrosten herausgenommen und zum Verfeuern verwendet worden. Wir mussten sehr vorsichtig ins Bett gehen, um nicht durch die Roste zu fallen.
Nach acht Tagen hat man uns wieder nach Hause geschickt. Da der Engländer schon wichtige Positionen besetzt hatte, konnten einige der Arbeitsmaiden aus dem Rheinland nicht mehr in ihr Zuhause zurückkehren. Ich bin mit der Eisenbahn bis kurz vor Neumünster gekommen, dort stoppte der Zug, weil der Bahnhof von den Alliierten bombardiert wurde. Uns kam ein Zug mit offenen Türen entgegen. Es blieb mir nichts weiter übrig, als den Zug zu verlassen und mit dem Gepäck über Feldwege einmal um ganz Neumünster herumzulaufen. Südlich Neumünsters haben die anderen Arbeitsmaiden und ich wieder einen Zug besteigen können, der uns weiter bis nach Hamburg brachte.
Nach dem Krieg hielt unser Vater die Familie mit Torfstechen über Wasser, wir alle halfen dabei mit. Wir mussten sehr aufpassen, dass keiner den Torf klaute. Keiner hatte etwas, und Brennmaterial war kostbar. Das kleine Moor in Harksheide hinter der Kirche gibt es heute nicht mehr. Wir Schwestern haben den Torf, den unser Vater gestochen hat, zum Trocknen aufgestellt. Schwere Arbeit war auch das Roden der Stubben. In der Nähe des Forstwegs war ein kleiner Fichtenwald gefällt worden, Fadens Tannen, die Baumstubben haben wir dort mühsam ausgegraben, gespalten und als Heizmaterial für den Winter getrocknet. So hatten wir in der kalten Jahreszeit eine warme Stube. Mein Vater hätte den Torfacker 1946 für 20 Pfennige den Quadratmeter kaufen können, Geld war genug da. Aber weil er den Acker hätte einzäunen müssen, hat er ihn nicht gekauft. Heute wäre das Grundstück ein Vermögen wert.
Die Nachkriegsjahre waren eine schlimme Zeit. Aber wir haben es gar nicht so empfunden. Alle waren arm, es gab keinen Grund, neidisch zu sein. Es war halt so.