Die Maschinenpistole
oder
Nachts sind alle Waffen grau
Wenn ich vor ungefähr 300 Jahren gelebt, wissenschaftlich gearbeitet und die folgende Geschichte zu Papier gebracht hätte, wäre die Überschrift möglicherweise so formuliert worden:
"Der Versuch einer exemplarischen Beschreibung möglicher - auch gefährlicher - Folgen eines allzu kurzen, quantitativ noch zu bestimmenden Abstandes zwischen Mensch und Gefängnismauer im Dunkeln mit offen getragenem Kinderspielzeug unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Liste der arretierten Personen und der Schwere der ihnen zur Last gelegten Verbrechen, verkündet zu Nutz und Frommen der braven Bürger"
Diese zwar korrekte, mit professoraler Ernsthaftigkeit abgefasste Überschrift könnte heutzutage, wo man möglichst kurz und knackig titelt, den falschen Eindruck erwecken, dass es sich um ein im wissenschaftlichen Elfenbeinturm ausgedachtes Lehrstück handelt. — Das ist es jedoch mitnichten. Bekanntlich schreibt ja das Leben selbst die besten Geschichten.
Wie üblich in der Erinnerungswerkstatt Norderstedt besteht meine Geschichte aus purer Erinnerung des wirklichen Geschehens, bestätigt nach strenger Überprüfung durch meine Frau, die damals unmittelbar beteiligt war. Selbstverständlich verzichte ich auf dramaturgische Effekte, dichterische Freiheiten und dergleichen, mit denen man erfundene Geschichten stützen muss, damit sie der geduldige Leser ohne einzuschlafen zu Ende liest. Das folgende Erlebnis ist auch ohne diese Hilfsmittel spannend genug.
Liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie mit dem Lesen bis hier gekommen sind, haben Sie die langweiligsten Stellen passiert. — Nun geht's richtig los:
Der alljährliche Winterdom in Hamburg hatte gerade begonnen. Wir schrieben Anfang Dezember des Jahres 1972 oder 1973, ganz genau weiß ich es nicht mehr. Auf viele Menschen, besonders auf Kinder, übte und übt der Dom eine fast magische Anziehungskraft aus. So auch auf Bernd, unser einziges Kind. Er besuchte gerade die 1. oder 2. Klasse der Grundschule mit großer Freude und zeigte sehr gute schulische Leistungen, von denen meine Frau und ich ziemlich angetan waren. Bernd merkte es natürlich und äußerte die Bitte: Gehen wir auf den Dom?
— Wir sagten leichten Herzens ja, weil auch wir Erwachsene uns diesen Riesenrummel — mit den immer neuen Attraktionen — gerne ansahen. Sohnemann nutzte die Gunst der Stunde und legte nach: Darf ich mir dort etwas alleine aussuchen?
— Auf meiner Stirn zeigte sich eine steile Falte, weil ich die Tücken der kindlichen Unvernunft kannte. Oh, Papa, du hast dich doch so über mein Zeugnis gefreut.
bettelte er.
Das stimmte, und ich antwortete zögernd: Na gut, aber such dir was Vernünftiges aus.
Am nächsten Sonntagnachmittag fuhren wir mit unserem blauen Opel Kadett zum Heiligengeistfeld, wo der Dom stattfindet. Es herrschte starker Andrang, und die nächst gelegenen Parkplätze waren alle besetzt. So parkte ich etwas weiter unterhalb der hohen Mauer des Untersuchungsgefängnisses an der Straße Holstenglacis. Heute gibt es dort schon lange diesen Parkplatz nicht mehr, das Gebiet ist gesperrt, und das hat auch mit den Ereignissen zu tun, über die ich gleich berichten werde.
Fröhlich gestimmt bummelten wir zwischen den unzähligen Buden und Fahrgeschäften umher. Auf einmal entdeckte Bernd einen kleinen Stand mit Luftballons und allerlei Kinderspielzeug. Zielsicher eilte er darauf zu und zeigte auf eine dunkelgrüne Maschinenpistole aus Plastik. Das Ding sah täuschend echt aus, und wenn man den Abzug fest durchzog, wurde Dauerfeuer simuliert. Damals war dieses Kriegsspielzeug noch nicht gesetzlich verboten. Ich erschrak. Einen solchen Wunsch hatte ich befürchtet, aber gehofft, dass er nicht so weit gehen würde. — Das ist nichts Vernünftiges,
blockte ich ab. Doch, Papa. Der Klaus, der Frank, der Christian und der Matthias und andere haben alle schon so eine Pistole. Deren Väter haben das erlaubt. — Und du hast es mir versprochen.
Das stimmte, ich hatte einige Jungen in unserer Gegend zu meinem Unwillen mit solchen oder ähnlichen Ballerbüchsen
gesehen. Das alleine wäre für mich kein Argument gewesen, unserem Sohn dieses Kriegsspielzeug zu erlauben trotz seiner erwartungsvollen Dackelaugen. Aber für mich zählte, dass ich ihm leichtsinnigerweise einen freien Wunsch zugesagt hatte. Zusagen muss man einhalten! So lautet einer meiner Lebens- und Erziehungsgrundsätze. Allerdings hatte ich meine Zusage mit der Einschränkung verknüpft, dass es etwas Vernünftiges sein müsse. Doch was ist vernünftig? Offensichtlich war eine knatternde Spielzeugmaschinenpistole unter sechs- bis siebenjährigen Jungen damals ein Statussymbol. Wie vernünftig ist ein Statussymbol? Wenn ich es ihm verweigere, würde er dann nicht unter Gleichaltrigen ziemlich an Ansehen verlieren? Das wollte ich nicht. Andererseits war ich gegen Kriegsspielzeug.
Diese Überlegungen hatte ich in Sekundenschnelle anzustellen und dann eine Entscheidung zu treffen. — Kurzum, meine Entscheidung fiel hauchdünn für kaufen
aus.
Hochbeglückt empfing Bernd seine Waffe
, ließ sie fast unentwegt knattern und gab sie nicht mehr aus der Hand. Inzwischen war es dunkel geworden, und wir traten den Heimweg an, das heißt, zuerst zu unserem Auto. Auf dem schwach beleuchteten Parkplatz angekommen, äußerte unser Filius: Ich muss Pippi.
Daraufhin führten wir ihn die wenigen Schritte zu den Büschen, die direkt an der Gefängnismauer standen. Um die Hände freizubekommen, gab er mir notgedrungen sein Lieblingsspielzeug.
Ich geh' schon mal damit zum Auto,
sagte ich gelangweilt zu den beiden und schlenderte alleine zum wenige Meter entfernten Wagen und legte die Plastikpistole in den Kofferraum. — Welche aufwühlenden Folgen das haben sollte, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht im Geringsten. Entspannt fuhren wir zu unserer Wohnung, die sich in einer schönen, neuen Wohnanlage in Hamburg-Schnelsen befand. Während der Fahrt bemerkte meine Frau so nebenbei: Heute sind aber viele Polizeiautos unterwegs.
— Das war mir auch schon aufgefallen und ich meinte arglos: Vielleicht sind die mal wieder hinter einem her. In Hamburg ist ja immer was los.
— Eine prophetische Aussage, wie sich bald herausstellen sollte.
Zu Hause lief das übliche Sonntagabendritual ab: Abendessen, Schulkind zu Bett bringen, Glas Bier auf den Tisch, Glotze an und gemütlich den mit Spannung erwarteten Fernsehkrimi um viertel nach acht im ersten Programm angucken.
Die Sendung lief höchstens zehn Minuten, der erste Mord war gerade geschehen, da klingelte es an unserer Wohnungstür. Etwas unwirsch wegen der späten Störung schaute ich nach, doch niemand war zu sehen, also musste der Besuch unten vor der Haustür stehen. Ich betätigte den elektrischen Summer, der die Haustür öffnen sollte. Aber außer einem lauten Rüttelgeräusch tat sich nichts, offensichtlich war die Haustür schon abgeschlossen. So schnappte ich den Haustürschlüssel und eilte in Hose und Pullover, beides glücklicherweise enganliegende Kleidungsstücke, die jeden versteckt getragenen Gegenstand hätten erkennen lassen, aus dem dritten Obergeschoss, wo unsere Wohnung lag, die Treppen hinunter. Draußen standen drei uniformierte Polizisten. Für mich war das nichts besonderes, denn als Bereichs- und Bezirksleiter im Amt für Arbeitsschutz stand ich bei der Polizei auf der so genannten Katastrophenliste und musste von Gesetz wegen — auch außerhalb meiner Dienstzeit — bei schweren und tödlichen Unfällen oder Bränden in Betrieben benachrichtigt und hinzugezogen werden, Ursache und Folgen des Schadensereignisses ermitteln und ggf. Maßnahmen zum Schutz für Leben und Gesundheit vor Ort hoheitlich staatlich anordnen. Dazu wurde ich dann telefonisch alarmiert und musste schleunigst zum Unfallort fahren. Wenn es aber äußerst schnell gehen sollte, durften mich die Kollegen von der Polizei mit dem Peterwagen abholen. Während mir dieses durch den Kopf ging und ich mich innerlich schon auf mehrere Stunden stressigen Nachtdienst einrichtete, schloss ich dennoch einigermaßen gelassen die Haustür auf.
Guten Abend, Sie wollen mich wohl abholen. Was ist passiert, und zu welchem Betrieb soll es denn gehen?
begrüßte ich die drei. Ihre Oberkörper unter den schweren Lederjacken erschienen mir seltsam kräftig.
Doch anstatt meine Frage zu beantworten, fragte derjenige, der das Dienstgeschäft führte (so heißt es korrekt im Beamtendeutsch): Sind Sie Herr Günter Matiba?
Nachdem ich bejaht hatte, fuhr er fort: Wir möchten Sie etwas fragen.
Tun Sie es, ich höre.
entgegnete ich.
Nicht hier, können wir das in Ihrer Wohnung besprechen?!
Das verwunderte mich, ebenso ihr Verhalten, indem sie so merkwürdig nahe bei mir standen, direkt auf Tuchfühlung.
Wenn es sein muss, dann kommen Sie mit hinauf
, war meine Antwort. Ich ging die Treppen voran und führte sie in unsere Wohnung, wo meine Frau sie freundlich mit den Worten begrüßte: Das ist ja schön, dass uns die Polizei besucht.
Doch die Männer blieben todernst und sagten kein Wort. Mit prüfenden Blicken sahen sie sich um, sie standen spürbar unter hoher Anspannung. Ich bot ihnen einen Platz auf der Couch und ein Glas Bier an. Das Getränk lehnten sie ab, zwei von ihnen nahmen Platz. Der Dritte blieb wortlos in der Tür stehen und beobachte alles genauestens von oben herab.
Um die Atmosphäre aufzulockern und endlich die Beamten zu ihrer Frage zu ermuntern, bemerkte ich im Plauderton: Wir waren heute auf dem Dom und sind noch gar nicht lange zu Hause.
Drei Augenpaare fixierten mich scharf, und der Wortführer entgegnete streng sachlich: Das wissen wir. Der Motor Ihres PKW ist noch warm.
Vor Staunen fiel mir fast das Kinn herunter, und ehe ich etwas sagen konnte, schlug seine Frage wie ein Hammer zu:
Haben Sie eine Maschinenpistole?
Mir fiel es wie Schuppen von den Augen und ich glaubte den Sinn der ganzen Aufführung zu erkennen. Doch ich fand alles grotesk übertrieben wegen eines harmlosen Kriegspielzeuges, aber woher sollten die Polizisten es wissen. Mir saß der Schalk im Nacken, ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und antwortete: Ja, möchten Sie sie sehen? Kommen Sie mit, ich zeig' sie Ihnen.
Gleichzeitig wollte ich mich ins Kinderzimmer begeben, wo Bernd — die Spielzeugpistole neben sich auf dem Kopfkissen — tief und fest schlief. Aber wie Sprungfedern schnellten die Polizeibeamten von der Couch hoch, hinderten mich am Betreten des Kinderzimmers, holten eigenhändig das Corpus Delicti
heraus — und überzeugten sich von dessen Harmlosigkeit, wobei ihre Anspannung sichtlich herunterfuhr. Um noch eins draufzusetzen, kam es ironisch über meine Lippen: Tut mir leid, meine Herren, dass ich nicht mit einer echten Waffe aufwarten kann.
Worauf sie konterten: Aber die sind echt und schussbereit, Herr Matiba.
In diesem Moment zogen alle drei ihre entsicherten Pistolen aus dem Achselholster und sicherten sie aufreizend langsam und sorgfältig. Dabei wurden auch dicke, schusssichere Westen unter ihren Lederjacken sichtbar. Daher kam ihr bulliges Aussehen. — Mein Sinn für Scherz und Ironie war im Nu verflogen. —
Aber es kam noch dicker. Der Wortführer klärte meine Frau und mich schnell über die ganze Wahrheit auf: Gudrun Ensslin, Mitbegründerin und ein führender Kopf der Bader-Meinhof-Bande, auch Rote Armee Fraktion, RAF, genannt, sitzt zurzeit in Hamburg in Untersuchungshaft am Holstenglacis. Eine junge Frau, eine wachsame Bürgerin, hat im Dunkeln an der Mauer des Untersuchungsgefängnisses einen Mann mit einer Maschinenpistole gesehen, sich das polizeiliche Kennzeichen des Wagens, Ihres Wagens, gemerkt und uns sofort benachrichtigt. Es bestand der dringende Verdacht einer Befreiungsaktion dieser Terrorbande. Bekanntlich wurde die inhaftierte Frau Ensslin Monate später tatsächlich von Komplizen befreit. Wir haben alle wichtigen Informationen über Sie eingeholt, eine Fahndung eingeleitet und ein Sonderkommando zu Ihrer Wohnung geschickt. — Aber nun muss ich schnell meinen Kollegen Entwarnung geben. Kommen Sie mit ans Fenster.
Ich folgte ihm, er gab mit Armen und Händen bestimmte Zeichen nach draußen. Im Nu wuchsen aus dem Dunkeln hinter Büschen und Hausecken viele Gestalten empor, Polizeibeamte mit Maschinenwaffen. Sehen Sie, der ganze Wohnblock ist umstellt. Gut, dass sie keine verdächtige Bewegung gemacht haben. Jetzt rücken wir ab
, sagte der Dienstgeschäftführende und verabschiedete sich korrekt und höflich.
In diesem Moment bekam ich tatsächlich weiche Knie, weil ich nun erst richtig den Ernst der Lage begriff und in welcher Gefahr ich geschwebt hatte. Denn in der Sache RAF verstand die Polizei aus den bekannten Gründen wirklich keinen Spaß, durfte sie auch nicht.
Von alledem hatte unser Bernd nichts mitbekommen, auch nichts von dem, was dann geschah. Er schlief den tiefen und gesunden Schlaf eines Kindes.
Im Gegensatz zu unserem Sohn hatten unsere Nachbarn sehr wohl den Polizeieinsatz bemerkt. Um erst gar nicht wilde Gerüchte und Getuschel aufkommen zu lassen, beschlossen meine Frau und ich, die Angelegenheit sofort offensiv anzugehen. Wir klingelten überall und luden unsere Nachbarn trotz der späten Stunde zu einem Umtrunk ein. Da wir eine gute Hausgemeinschaft pflegten, folgten fast alle unserer Einladung und ich erklärte ihnen ausführlich das Geschehen. Bei mindestens einer Flasche Weinbrand und etlichen Flaschen Bier feierten wir den guten Ausgang der Aktion bis in den frühen Morgen, wobei jeder irgendeine aktuelle Geschichte über Verbrechen und Mordtaten der RAF und ihrer Untergruppierungen erzählen konnte. Auch der tragische Tod eines Unschuldigen, der bei einem Polizeieinsatz gegen die RAF in seiner Wohnung unbewusst eine verdächtige Handbewegung an seiner weiten Jacke gemacht hatte und erschossen worden war, kam zur Sprache. Die Polizisten hatten sich in der Wohnungstür geirrt, so stand es in der Zeitung.
Am nächsten Morgen im Amt ging ich sofort zu meinem Amtsleiter und erstattete Bericht. Ich wollte, dass er es zuerst von mir erfuhr. Doch er war schon in der Nacht informiert worden und sagte zu mir: Ihr Bericht stimmt. Ich weiß alles, Sie sind glänzend rehabilitiert.
Sehr erleichtert nahmich meinen Dienst auf.
Und was war mit unserem Sohnemann, der das alles in kindlicher Unschuld ausgelöst hatte? — Nun, nachdem Bernd erfahren hatte, was in jener Nacht geschehen war, verlor er dieFreude an seinem Kriegsspielzeug und rührte es nicht mehr an. — Ist dieser schöne Erziehungserfolg, den ich von Anfang an angestrebt hatte, nicht aller Mühen wert gewesen?