Notlandung in Norderstedt
Es gibt Tage in meinem Leben, die ich nicht vergessen kann, obwohl sich für mich nichts besonders Schlimmes oder nichts besonders Gutes ereignet hat. Ereignet haben sich lediglich extrem überraschende Begebenheiten, so ungewöhnlich in ihrer Art und so kurz aufeinander, dass sie mir nicht einmal im Traum eingefallen wären. Man kann auch sagen, eine unglaubliche Verkettung vorhersehbarer und unvorhersehbarer Tatsachen. Ich denke, liebe Leserin, lieber Leser, dass auch Ihnen solche Tage nicht fremd sind.
Einer dieser Tage war Montag, der 22. November 1993. Ich stand damals noch voll im Berufsleben und sah üblicherweise zur Feierabendzeit nicht auf die Uhr, wenn eine wichtige Arbeit zu Ende gebracht werden musste. An diesem Tag hatte ich jedoch einen privaten Termin strikt einzuhalten, denn für 17 Uhr stand im Kalender die jährlich wiederkehrende Vorsorgeuntersuchung mit allem apparativen Aufwand bei meinem Hausarzt in Norderstedt. Also schloss ich kurz vor 15 Uhr 30 meinen Schreibtisch ab, hastete die Treppen vom fünften Stock eines der Behördenhochhäuser im Einkaufszentrum Hamburger Straße, in der sich unser Amt befand, hinunter und eilte zu meinem Auto, das ungefähr zehn Minuten entfernt irgendwo in einer Nebenstraße stand. Die morgendliche Suche nach einem Parkplatz geriet immer zu einem aufregenden Glücksspiel, weil ich nie vorher wusste, wo ich in diesem städtischen Ballungsgebiet eine leere Stelle am Straßenrand finden werde.
Dann hinein in den Moloch
Berufsverkehr (Neudeutsch: rush hour) Richtung Norderstedt. Zum großen Teil ging es über die Langenhorner Chaussee, eine der am stärksten frequentierten Straßen in Hamburg. Sie ist nur einspurig (je Richtung) ausgelegt, wird aber zweispurig befahren, sonst liefe nichts mehr. Wer einmal am Spätnachmittag außerhalb der Ferienzeiten diese Strecke gefahren ist, weiß, wovon ich rede. Ich konnte froh sein, wenn ich diese 20 Kilometer - trotz aller fahrtaktischen Finessen — in gut einer Stunde geschafft hatte.
So erreichte ich auch an diesem Tag mit ziemlich viel Adrenalin im Blut wenige Minuten nach 16 Uhr 30 unser Einzelhaus und wollte auf die gepflasterte Auffahrt einbiegen. Ich hatte mir gedanklich zurecht gelegt, mich schnell ein bisschen frisch zu machen, den Krankenschein aus dem Scheckheft zu reißen, die Chipkarte war noch nicht gebräuchlich, und sofort zum Arzt weiterzufahren. Inzwischen war es sehr dämmerig geworden, und ich sah zu meinem Erstaunen mitten auf der Auffahrt etwas großes Dunkles liegen, wie ein praller Strohsack oder so ähnlich. Ich sprang ungeduldig aus dem Auto, ging näher heran - und wollte meinen Augen nicht trauen. — Ich schloss und öffnete sie wieder. Aber es war kein Trugbild, sondern Wirklichkeit: Vor mir saß ganz ruhig eine wilde Gans, eine Graugans. Den langen Hals steil aufgerichtet sah sie mich ohne Scheu voll an. Wahrscheinlich hatte sie in ihrer Heimat, die in den nordischen Weiten liegen musste, noch nie einen Menschen gesehen.
Meine Vermutung, dass dieser Vogel aus nördlichen, vielleicht arktischen Gefilden stammen könnte, hatte einen ganz realen Grund. Solange meine Frau und ich in Norderstedt wohnten, habe ich im Frühjahr und Herbst unzählige Vogelschwärme genau über unser Haus hinweg fliegen sehen, immer von Ost-Nord-Ost nach West-Süd-West oder umgekehrt, je nach Jahreszeit. Wir müssen wohl unter der sog. Vogelfluglinie, die von Dänemark über Fehmarn durch Schleswig-Holstein führt, gebaut haben.
Meistens hören wir Wildgänse mit ihren unverkennbaren gäg, gäg
-Rufen, die an helle Trompetentöne erinnern, ulkige Töne wie die, die kurz vor einem Konzert Trompeter ihren Instrumenten beim Einstimmen entlocken
. Fasziniert schaute und schaue ich immer noch ihren Flugformationen zu, die dauernd wechseln. Mal bilden sie einen Keil, mal eine Kette, die oft an den Enden ausfranst
, das heißt einzelne Gänse reißen von der Kette ab, dann holen sie sie wieder ein.
Oftmals höre ich ihre schmetternden Stimmen sogar in dunkler Nacht und bewundere ihren Orientierungssinn, der meines Wissens trotz einiger plausiblen Theorien noch nicht wissenschaftlich eindeutig geklärt ist.
Nun war eine von ihnen auf unserem Grundstück gelandet. Warum? Die Mutter aller Fragen.
Warum hatte sie sich unter den -zig Landschaften und den vielen, vielen Grundstücken, die unter ihrer Flugbahn liegen, ausgerechnet unseres ausgesucht. Eine Zwischenlandung? Gar eine Notlandung? Wohl eher. — Sie musste bestimmt sehr erschöpft oder verletzt sein, sonst hätte sie sich ein gänsefreundlicheres Plätzchen Erde als unsere Auffahrt ausgesucht. Ich hatte ja nichts dagegen, aber musste es gerade jetzt sein, da ich in großem Zeitdruck wegen des Arzttermins war? Den durfte ich nicht versäumen. Andererseits musste ich mich auch um meinen hilfsbedürftigen Gast, die Graugans, kümmern. Ich befand mich in der Zwickmühle. Was tun?
sprach Zeus.
So beschloss ich, das arme Tier zuerst einmal schnell weg von der Auffahrt in einen gesicherten Bereich zu bringen. Also näherte ich mich ihm vorsichtig. Ich hatte gelesen, dass ein gesundes Wildgänsepaar durchaus in der Lage sei, sein Gelege gegen kleinere Raubtiere, sogar gegen Füchse, erfolgreich zu verteidigen. Auch aus Erfahrung im Kindesalter wusste ich, wie schmerzhaft die Flügelschläge unserer Hausgänse sind, und mit welcher Kraft ihre Schnäbel in die Haut kneifen können. Aber ich hatte auch Methoden gelernt, um das zu verhindern.
So packte ich blitzschnell ihren Hals direkt unter dem Kopf und hatte somit ihren gefährlichen Schnabel unter Kontrolle. Gleichzeitig presste ich mit der anderen Hand ihren Rumpf samt Flügel, ehe sie mit ihnen schlagen konnte, gegen meinen Körper. Aber zu meinem Erstaunen erhob das Tier keine Gegenwehr, und ich sah sofort warum. Ein Bein hing schlaff herab. Also verletzt. Ob bei einem Unfall oder Kampf gebrochen oder durch die Schrotkugel eines Jägers oder sonst wie konnte ich nicht feststellen. Doch ihren Blick werde ich nicht vergessen. Gänse sind sehr wachsam, und wenn man in ihre Nähe kommt, suchen sie immer konzentrierten Blickkontakt, Auge in Auge, mehr als andere Tieres, außer Ziegen, die schauen ebenso aufgeweckt. Aber aus ihrem Blick konnte ich mehr als Wachsamkeit herauslesen. Ein gewisses Vertrauen - und als wenn sie mir sagen wollte: Keine Angst, ich beiße dich nicht.
Ich muss gestehen, es klingt naiv, aber so war es.
Beim Anheben überraschte mich unser Gast
durch zwei Eigenschaften. Erstens seine erstaunlichen Ausmaße, besonders die Länge der Flügel und des Halses. Zweitens sein verhältnismäßig geringes Gewicht. Ich kannte ja bisher nur unsere eher plumpen, schweren und fetten Hausgänse, die als knuspriger Braten Weihnachten so herrlich schmecken.
Behutsam trug ich den armen Lazarus
in unseren Hintergarten und setzte ihn auf den Rasen. Dort, von hohen Hecken und Bäumen umgeben, konnte er (oder war es eine sie?) sich ungestört erholen und seine Hauptnahrung Gras fressen.
Auf die unerbittlich kreisenden Zeiger meiner Armbanduhr schielend, hetzte ich ins Haus. Meiner verdutzten und völlig ahnungslosen Frau - sie hatte innerhalb des Hauses davon überhaupt nichts mitbekommen — berichtete ich hastig im Telegrammstil, was vorgefallen war. Währenddessen riss ich einige Brotschnitten in kleine Brocken und füllte einen Napf mit Frischwasser. Damit raste ich wieder nach draußen und legte alles vor die sitzende Gans. Meine Frau folgte mir, weil sie die Geschichte einfach nicht glauben konnte und bekam jetzt vor Staunen den Mund nicht mehr zu.
Mir war klar, das Tier konnte nicht bei uns bleiben. Es musste sehr bald in fachkundige und vor allem tierärztliche Hände. Aber ich hatte wirklich keine Zeit mehr, mich darum zu kümmern. So bat ich meine bessere Hälfte, telefonisch die Institutionen oder Menschen herauszufinden, die sich mit kranken Wildtieren auskennen. Zugegeben, eine schwierige Aufgabe.
Wen soll ich denn fragen?
flehte sie.
Ruf die Polizei an, oder das Rathaus oder den Zoo oder… und lass deine Phantasie spielen!
rief ich ihr im Davoneilen zu, schmiss mich in mein Auto und brauste los.
Nach knapp zwei Stunden, der Arzt hatte mich auf Herz und Nieren geprüft und weiterhin für lebensfähig befunden, kehrte ich nach Hause zurück. Mein erster Weg führte mich in den Hintergarten. Dort saß die Gans unbeweglich wie ein Denkmal im hellen Vollmondlicht und schaute mir gelassen ins Gesicht. Brot und Wasser hatte sie nicht angerührt.
Ich eilte ins Haus. Dort überreichte mir meine Frau stolz wie Oskar einen Zettel mit einer Telefonnummer und verkündete: Das ist Herr…, der Meister des städtischen Betriebshofes Falkenhorst. Der kümmert sich um solche Tiere und holt sie ab. Hans (ein Nachbar) hat mir beim Suchen gute Tipps gegeben.
Ich erinnerte mich. Auf meinen Spaziergängen hatte ich am angegebenen Ort, heute heißt er Emanuel-Geibel-Straße, einen kleinen Teich an einem kurzen Graben oder Bach im Einzugsgebiet des Flüsschens Tarpenbek West, umgeben von einem hohen Drahtzaun, gesehen. Dort tummelten sich verschiedene Arten Wasservögel. Dass es städtisches Gelände war, wusste ich bisher nicht, aber das musste die richtige Adresse sein. Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Während ich noch meine Frau für ihren Erfolg lobte, wählte ich die Nummer. Es meldete sich der bewusste Herr. Ich schilderte kurz die Lage und fragte, ob er zuständig sei und das Tier übernehmen wolle. Er antwortete: Selbstverständlich
. Aber bei seinem nächsten Satz hatte ich das Gefühl, dass der Sorgenstein zwar von meinem Herzen, aber auf meine Zehen gefallen ist:
Ich würde ja gerne mit dem Transporter kommen und das Tier abholen, aber ich liege mit einer fiebrigen Grippe im Bett. Einen Mitarbeiter kann ich auch nicht schicken, alle haben schon Feierabend.
Warum musste dieser wichtige Mensch gerade heute krank sein?!
Und nun?
konnte ich nur stammeln.
Sie müssen das Tier schon selbst vorbeibringen
, tönte es aus dem Hörer.
Ich habe keine Ahnung, wie man eine wilde Gans in einem Personenauto transportiert. Sie wird mit ihren Exkrementen die Polster versauen und mich durch ihr Flattern beim Fahren behindern, das ist lebensgefährlich
, jammerte ich.
Stecken Sie sie in einen Sack, das klappt dann
, war sein letzter Rat, mit dem er hustend das Gespräch beendete.
Das leuchtete mir ein, aber woher einen Sack nehmen? Finden Sie mal in einem modernen Stadthaushalt einen Sack, liebe Leserin, lieber Leser. Gott sei Dank erinnerte ich mich an einen alten, leeren Getreidesack, den wahrscheinlich ein Mähdrescher verloren und ich vor mehreren Jahren auf einem Feldweg beim Spaziergang gefunden und (gewitzt durch die schlechten Zeiten in und nach dem Krieg getreu dem Motto: man weiß ja nie, wann man etwas noch gut gebrauchen kann) nach Hause mitgenommen hatte. Im Keller fand ich ihn nun in einer dunklen Ecke wieder. Er war tatsächlich den Putz- und Aufräumaktionen meiner Frau entgangen. Ich konnte durchatmen.
Ganz ruhig näherte ich mich mit dem Sack der sitzenden Gans. Als ich noch gut 1 m von ihr entfernt war, geschah das Unglaubliche. Sie stand blitzschnell auf, aber ganz unaufgeregt (anders als aufgescheuchte Hühner) und breitete ihre Schwingen aus. Dann erhob sich dieser vermeintlich hilflose, große Vogel mit einer verblüffenden Eleganz und Leichtigkeit — ohne Anlauf — wie ein Hubschrauber — in den frostigen Himmel, flog über dem Garten wie zum Abschied eine Ehrenrunde, nahm majestätisch Kurs auf den silbrig glänzenden Vollmond und verschwand in der Nacht. — Ein märchenhafter Anblick!
Ich weiß nicht warum, aber unwillkürlich musste ich in diesem Moment an die bunten Illustrationen des Märchens Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen
von Selma Lagerlöf denken. Plötzlich sah ich das Bild vor mir, wie der in ein Wichtelmännchen verwandelte Nils auf dem fliegenden Gänserich Martin durch die Lüfte reitet und sich den Wildgänsen anschließt.
Mir ging auch noch etwas anderes durch den Kopf, nämlich dass diese Wildgans weder so ein Ding wie den Erntesack noch mein Gespräch mit dem Betriebsmeister kennen konnte. Woher wusste sie also von unserem Plan? — Aber sie kannte ihn offensichtlich und wählte lieber die riskante Freiheit als das behütete Leben mit tierärztlicher Versorgung in einem Käfig, obgleich sie vorher eine gewisse Zutraulichkeit gezeigt hatte. Oder bildete ich es mir nur ein? — Ob sie wohl ihren Schwarm wiedergefunden hat? Ich wünsche es ihr sehr.
Nun war da noch der wartende Herr… auf dem Betriebshof, besser gesagt, in seinem Krankenbett. Ich rief ihn noch mal an und machte ihm mit all meiner Überzeugungskraft, die ich aufbieten konnte, klar, dass die Wildgans nicht in unserem Bräter Platz gefunden hat, sondern aus eigener Kraft in den Nachthimmel verschwunden ist. — Er hat mir die seltsame Story geglaubt wahrscheinlich deshalb, weil ich Beamter bin. Und Beamte dürfen nicht lügen weder im Dienst noch im Ruhestand, in welchem ich dieses geschrieben habe.
Verstehen Sie nun, liebe Leserin, lieber Leser, warum ich diesen Tag nicht vergessen kann, obwohl doch eigentlich nichts Großartiges passiert ist?