Meine Konfirmation 1947
Sonntag, den 23. März 1947, war die Lernerei im Konfirmandenunterricht und in dem davorgeschalteten Katechumenenunterricht endlich vorbei, und ich wurde mit meiner Jahrgangsgruppe konfirmiert, ungefähr 80 Jungen und Mädchen. Ich muss aber gestehen, dass mir dieses Lernen nicht das abverlangte, was der strenge Schulunterricht forderte. Alle Evangelischen, soweit getauft, machten damals selbstverständlich mit, ob kirchenfern oder kirchennah. Die Vorteile lagen auf der Hand. Außerdem glaubten nicht wenige Erwachsene in jener Zeit kurz nach dem schrecklichen Weltkrieg, dass Gott sein Strafgericht über Deutschland schicken werde oder dass gar bald das Ende der Welt bevorstünde. Jeder wollte natürlich dann zu den so genannten Auserwählten gehören. Staatliche Jugendweihe war uns unbekannt, selbst den verschwindend wenigen Dissidenten und Sektenmitgliedern.
Einen Sonntag vorher hatten wir Prüfung vor der gesamten Gemeinde und vor allem vor den gestrengen Augen des Presbyteriums (Versammlung der Presbyter = Kirchenältesten), heute in Nordelbien Kirchenvorstand genannt. Nicht nur unsere Zulassung zur Konfirmation stand dabei auf dem Spiel, sondern auch das Renommee unseres Pastors. Der hatte es nicht leicht gehabt mit einer so großen Horde pubertierender Jugendlicher. Die Frechsten von uns brachten manchmal ihre Pusterohre aus ausgehöhlten Holunderzweigen mit in den Unterricht und bliesen die Beeren auf die Mädchen. Bei den Katechumenen musste bisweilen der Küster mit einem derben Wanderstock energisch auf den Fußboden klopfen. Aber unser Pfarrer Agena schaffte es mit seiner Souveränität und seinem geschliffenen Verstand immer wieder, die Disziplin weitgehend aufrecht zu erhalten und uns viel religiöses Wissen, vor allem Lieder- und Bibeltexte beizubringen, von dem ich mein ganzes Leben zehre. Sonntags im Gottesdienst konnte er, obwohl durch einen Lungensteckschuss im ersten Weltkrieg schwer behindert, dank seiner exzellenten Sprechtechnik ohne Mikrofon ein Kirchenschiff füllen. Obendrein hatte er einen zusätzlichen Gemeindebezirk, dessen Pfarrer sich noch in Kriegsgefangenschaft befand, übernehmen müssen.
Die Prüfung verlief folgendermaßen:
Der Geistliche las die biblische Geschichte über die Taufe des Kämmerers aus dem Morgenland vor. Anstatt darüber zu predigen, stellte er uns Fragen. Keiner konnte sich drücken. Ich kam siebenmal dran und konnte alles richtig beantworten. Darauf war ich mächtig stolz. Meine Lernstrategie hatte sich wiederum bewährt: In den Unterrichtsstunden gut aufpassen, nicht jeden Schülerquatsch mitmachen, umso weniger Zeit und Energie musste ich zu Hause aufwenden fürs Wiederholen und Einprägen. Auf mein Kurzzeitgedächtnis konnte ich mich damals fest verlassen. Insoweit ging ich voller Selbstvertrauen in die Prüfung.
Der Tag der Konfirmation, ein bleibendes, emotionales Erlebnis:
Zum ersten Mal in meinem Leben trage ich einen (geliehenen) Schlips und einen dunklen Anzug mit langer Hose. Den Stoff hatte mein Opa zwei Jahre vorher während der Chaostage, als amerikanische Truppen unser Gebiet eroberten und es keine zivile Ordnung gab, von den Gelsenwerken (eine riesige chemische Fabrik) organisiert
. Es ist trister, grauer Stoff, aus dem die Staubfilter in den Abgasanlagen gemacht sind. Meine Mutter ließ ihn im Rahmen eines damals üblichen Tauschgeschäftes dunkelblau färben und mir daraus den Konfirmationsanzug schneidern, den ich zu besonderen Anlässen noch 2 bis 3 Jahre getragen habe. Er ist so schneidig ausgefallen, dass selbst der Pfarrer beim gemeinsamen, feierlichen Einzug in das Gotteshaus feststellt: Der Günter sieht aber schön aus.
Glänzend schwarze Schuhe Größe 40 hat mir mein angeheirateter Onkel Josef für diesen Tag geliehen. Die anderen Jungens sind infolge der Mangelwirtschaft zum Teil abenteuerlich angezogen, viele in kurzen Hosen. Die Mädchen, meistens schon körperlich besser entwickelt, tragen durchweg recht anmutige Kleidchen. Leider macht niemand ein Gruppenfoto, denn wer besitzt überhaupt noch einen Fotoapparat?
Weil unsere evangelische Kirche in Bochum-Werne infolge der Bombenangriffe und Artillerietreffer nur noch als Ruine steht, finden die Gottesdienste im einzigen einigermaßen intakten, leider kleinsten Gemeindehaus im Ort, im Oberlinhaus, statt. Meine Verwandtschaft ist groß, und alle, die kommen konnten, sind da -in ihrer besten Kleidung. Der Mann einer Cousine meiner Großmutter, Onkel Hans, sogar im Cutaway mit Zylinder. Leider fehlen meine beiden Taufpaten, wie fast alle Männer, die im Krieg an der Front gekämpft haben. Der eine ist gefallen, der andere vermisst. So kurz nach Kriegsende schmachten auch noch Millionen in Kriegsgefangenschaft.
Ich bin aufgeregt bis unter die Haarspitzen, ganz im Gegensatz zur Prüfung. Warum nur? Eine böse Ahnung? — Der Gemeindesaal ist brechend voll bis auf den letzten Stehplatz, die Luft zum Schneiden dick. Der Posaunenchor bläst, was die Lungen hergeben. Mächtig erschallt das Lied Großer Gott, wir loben dich! Herr, wir preisen deine Stärke!
Alles sehr feierlich und ergreifend.
Doch dann, oh Schreck, eine Panne! - Ich bin nämlich eingeteilt als linker Flügelmann in meiner Bankreihe und soll meine Gruppe, die halbe Bankreihe à 4 Konfirmanden, als erste zum Altar führen. Schön ruhig und gemessen
, hatte der Pastor uns eingeschärft. Als unsere Bank an der Reihe ist, springt jedoch der rechte Flügelmann, der näher zum Altar sitzt, entgegen der Absprache sofort auf und eilt mit seiner Gruppe vorzeitig nach vorne. Um ein peinliches Gewühl am Altar zu vermeiden, bleibe ich mit meiner Gruppe kurz entschlossen sitzen. Die Gemeinde hätte die Verwechslung gar nicht bemerkt. Aber der Pfarrer, der die vielen großen Papierbögen mit den Konfirmationssprüchen genau nach vereinbarter Ordnung gestapelt hat, stutzt, schickt einen strafenden Blick zu mir herüber und grummelt: Ihr wart doch zuerst dran
. Ich möchte am liebsten in den Boden versinken, obwohl ich nichts dafür kann. Gelassen sortiert der Gottesmann die Blätter um, und als ich mit meiner Gruppe vor dem Altar knie, empfinde ich die ruhige Hand des segnenden Pfarrers auf meinem Kopf wie die von Jesus selbst. Das Blatt mit meinem Konfirmationsspruch (den ich noch nie vergessen habe) erscheint mir wie die Eintrittskarte zum Himmelreich.
Das Festmahl zu Hause findet im ausgeräumten Schlafzimmer statt, das nicht zu beheizen ist. Aber durch die vielen Menschen wird es bald warm. Die Möbel sind bei unseren Nachbarn nebenan für einen Tag untergebracht. Bei größeren Festen halfen wir uns gegenseitig immer aus. Meine Mutter hatte schon Monate vorher Lebensmittel gehamstert und gehortet. Außerdem hatte ich einige Hühner und Kaninchen geschlachtet. So werden wir alle trotz der Hungerzeit richtig satt. Es gibt auch noch Kaffee, echten Bohnenkaffee, Kuchen und später Abendessen.
Mir ist langweilig zwischen den vielen Erwachsenen und ich möchte lieber mit den anderen Jungens auf der Straße Fußball spielen. Außerdem muss ich den ganzen Tag diese ungewohnten, piekfeinen Klamotten tragen. Aber etwas Abwechslung ist mir doch vergönnt durch den unerlässlichen Stalldienst. Dreimal am Tag muss ich unsere Tiere füttern und für Futter sorgen. Für die Mümmelmänner
, die jeden Tag einen großen Sack frisches Gras fressen, habe ich gestern einen Sack zusätzlich auf Vorrat gerupft, damit ich an meinem Ehrentag nicht wie immer in der freien Natur Gras suchen muss.
Da fast alle meine Gäste teil- oder total ausgebombt waren und nicht viel besitzen, bekomme ich keine Sachgeschenke, wohl aber eine ansehnliche Summe Geld, ungefähr 880 Reichsmark. Doch das nützt mir wenig. Geld ist nicht viel wert. Ich überlasse es meiner Mutter. Das geschenkte Geld reicht auf dem schwarzen Markt gerade für ein Pfund Bohnenkaffee und ein paar schöne Haarspangen für meine kleine Schwester Doris. Mutti braucht den Kaffee für die halben Nächte, die sie wach bleiben muss, um ihre Arbeit zu schaffen. Ich gönne ihr ihn, weil sie das alles ohne unseren im Krieg gefallenen Vater so wunderbar geschafft hat.
Mit der Konfirmation ist man als evangelischer Christ bekanntlich als vollwertiges Glied der Gemeinde aufgenommen und kann kirchliche Ämter, wie zum Beispiel das Patenamt, übernehmen. Auch war man damals erst dann zum Heiligen Abendmahl zugelassen. Dieses Sakrament fand aus Zeitgründen für uns frisch Konfirmierte einen Sonntag später statt. Ebenfalls für mich ein unvergessliches Ereignis. An den Schluck Rotwein aus dem silbernen Kelch, den ersten in meinem Leben, werde ich mich immer erinnern.