Woanders schmeckt es viel besser
Du darfst dir draußen Appetit holen, aber essen musst du zu Hause. Sie, liebe Leserin, lieber Leser, kennen diesen Spruch, der manchmal zwischen Eheleuten kursiert. Aber dessen Hintersinn ist nicht mein Thema, sondern eher der Spruch, über den Kinder ein leidvolles Lied singen konnten und können: Hier wird gegessen, was auf den Tisch kommt.
Oder ein anderer Spruch, den man eingehäkelt auf vielen Tischtüchern lesen konnte: Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen
. Dass er zwar inhaltlich richtig, aber grammatisch recht zweifelhaft war, hat niemanden gestört. Er fand sich selbst bei sogenannten gebildeten
Bürgern in der Wohnung.
Es ist ein Phänomen, dass es gewissen Kindern woanders immer besser schmeckt als zu Hause, egal was auf den Tisch kommt. Zu dieser Spezies gehörte auch ich. Dafür die Ursachen zu erforschen, überlasse ich getrost den Anthropologen. Ich selbst möchte nur durch einige Beispiele aus meiner Kindheit diese Tatsache belegen. Vielleicht findet sich der eine oder andere darin wieder.
Bis zu meinem siebenten Lebensjahr, als meine Schwester geboren wurde, fristete ich mein Dasein als Einzelkind. Meine Eltern waren zwar arm — wie die große Masse damals in der so genannten Erwerbslosenzeit —, aber sie boten ihrem Sohn alles, was in ihren finanziell ziemlich beschränkten Möglichkeiten lag. Ich wurde Gott sei Dank nicht verhätschelt, doch ich bekam zu essen, was ich wollte. Aber ich Dummkopf wollte ja nicht. Seltsamerweise sah ich nicht wie ein Spinnewipp- mageres Leichtgewicht -
Der Suppenkaspar
ist eines der pointiertesten und das wahrscheinlich bekannteste der Kapitel des Struwwelpeters
. Es erzählt in wenigen Versen die Geschichte eines Jungen, der sich weigert seine Suppe zu essen und daher innerhalb weniger Tage verhungert. [1] aus. Meine Eltern befürchteten trotzdem andauernd, ich würde verhungern. Mit anderen Worten, ich war ein sehr schlechter Esser — bis ich sechs Lenze zählte und der Zweite Weltkrieg ausbrach. Ab dann diktierte das staatliche Lebensmittelrationierungsamt, was zu den Mahlzeiten auf den Tisch kam. Herzlos erzog sie das verwöhnteste Kind zum Allesesser.
Bis dahin mäkelte ich an jedem Essen herum, stocherte auf dem Teller und bracht kaum etwas in den Mund. Besonders ekelte ich mich vor jeder Art von Gemüse, Kartoffeln und Trinkmilch. Fleischspeisen war ich jedoch zugetan. Meine Eltern brachten große Mühe und Geduld auf, mir das auch so wichtige Gemüse einzuverleiben, weil ja ausschließlich Fleisch für kleine Kinder angeblich, oder auch tatsächlich, nicht gut sein sollte.
Sie, liebe Leserin, lieber Leser, kennen vielleicht auch das Spiel, wenn so eine gesunde Gemüsemahlzeit
auf dem Tisch stand: Mutti nahm nach einer quälend langen Viertelstunde, in der ich untätig und verdrießlich vor meinem vollen Teller gehockt hatte, alles gute Zureden umsonst und das Essen schon fast kalt war, den Löffel und fütterte mich mit den Worten. Ein' für den Papa, ein' für die Oma, ein' für …
usw. Mit diesem Unterhaltungsprogramm
gelang es ihr vielleicht, drei Löffel Gemüse in meinen zugepressten Mund zu zwängen. Die Backen wurden immer dicker. Dort verweilte die Speise mehrere bange Minuten, um dann entweder mit Schütteln und Abscheu geschluckt oder ausgespuckt zu werden. Meistens geschah Letzteres.
Ein schönes Erlebnis erwartete mich, wenn Mutti mich zum Einkaufen beim Metzger mitnahm. Nach dem Bezahlen schnitt die dralle Metzgerfrauein Stückchen Wurst ab und machte mich kleinen Knirps glücklich, indem sie es mir über die hohe Theke nach unten reichte mit den Worten: Machse 'n Stücksken Wurst, StümmelStümmel = Abkürzung von Stümmelchen, Kosewort für ein kleines Kind [2]?
— Und wie ich das mochte! Meistens waren es Zipfel von Jagdwurst oder Blutwurst — meine Lieblingswürste.
In einer gemütlichen Plauderstunde gab einmal meine Mutter folgende Begebenheit zum Besten, an die ich mich selbst nicht erinnere, weil ich erst zwei Jahre alt war: Unsere Wohnung lag im dritten Stock, und das alte Ehepaar Voß, dem das Haus gehörte, wohnte im Erdgeschoss. Eines guten Tages war Frau Voß so unvorsichtig, mir ein Stückchen Wurst zu geben, das ich mit Behagen verputzte. Das hatte ich mir genau gemerkt. Immer, wenn meine enttäuschte Mutter nach dem Mittagessen meinen noch fast vollen Teller abräumen musste, krabbelte ich die Treppen hinunter und rief, der flüssigen Rede noch nicht, aber der entscheidenden Wörter schon mächtig: Wurst Voß, Wurst Voß!
so lange, bis Frau Voß mich erhörte oder meine Mutter mich schamhaft und entnervt als schreiendes Bündel nach oben schleppte.
Ein persönlicher Feiertag brach für mich an, wenn meine Mutter eine bekannte Familie namens Pawlowski besuchte. Mit ihren beiden Töchtern ungefähr in meinem Alter konnte ich herrlich spielen und toben. — Wir fuhren mit der Straßenbahn dorthin. Zu Fuß war es etwa eine Stunde. Als ich ungefähr vier Jahre alt geworden war und diese Strecke gehend bewältigen konnte, manchmal ein Stückchen auf Muttis Armen, benutzten wir Schusters Rappen. Das gesparte Fahrgeld legte meine Mutter unterwegs in billiger Blutwurst an. Diese Art Wurst hieß offiziell so und war billiger, dünner und enthielt weniger Speckwürfel als normale Blutwurst. Sie schmeckte köstlich. Auf dem Weg lag eine Metzgerei, die diese Blutwurst noch billiger als die Konkurrenz verkaufte. Ich kann Ihnen sagen, billige Blutwurst aus der Hand gegessen, in frischer Luft beim Gehen, das war ein Gedicht.
Damit war jedoch das Hauptproblem — nämlich meine Essunlust zu Hause — nicht gelöst. Aber Mutti erdachte eine List. Auf unserer Etage, Tür an Tür, wohnte unsere Nachbarin Tante Beißheim
. Ich ging oft zu ihr hinüber. Sie hatte viel lustigen Besuch, auch zum Mittagessen. Eines Tages, wieder saßen Gäste an ihrem Tisch, lud sie mich zum Mittagessen ein. Ich nickte — gegen Muttis strenge Weisung, bei anderen Leuten nicht zu essen. Mit großem Appetit leerte ich meinen Teller. Es gab Möhreneintopf, mit dem mich Mutti sonst jagen konnte. Riesengroß waren ihre Augen, als sie mich von Tante Beißheim abholte und erfuhr, was geschehen war. Nun die List. Fortan durfte ich zu meiner großen Freude viel öfter nach nebenan gehen und dort sogar zu Mittag essen. Erst Jahre später verriet mir Mutti — worüber wir herzlich lachten — dass sie mit der Nachbarin ein Abkommen getroffen hatte dergestalt, dass sie unser Mittagessen heimlich, ohne dass ich es merkte, hinüber gebracht hatte. Zu Hause hätte ich es kaum angerührt, dort aber — auf fremden Tellern — schmeckte es mir vorzüglich.
Ebenso schmeckte es mir, wenn wir die Johns besuchten, ein befreundetes, wenig betuchtes Bergmannsehepaar mit fünf Kindern. Sie hatten auch eine treue Katzenmutter, die jedes Jahr zweimal pünktlich in der äußersten Ecke der warmen Wohnküche mehrere rührend hilflose Junge warf, die wir streicheln und tragen durften. Voll Spannung schauten wir zu, wenn sie eine lebendige Maus heranschleppte und ihrem Nachwuchs die erfolgreiche Jagdtechnik beibrachte. Dort zwischen den Kindern und Kätzchen fühlte ich mich ausgesprochen wohl. Zusammen mit ihnen, die anscheinend immer Hunger hatten, aß ich alles, sogar einmal etwas angesäuerte Erbsensuppe. Wenn ich dort übernachten durfte, mit drei Kindern in einem Bett, die halbe Nacht lang uns Geschichten erzählend, lachend und singend, dann war mein Glück voll und ich vermisste in keiner Weise mein weiches, sauberes Einzelbett und Muttis leckeres Essen.
Dann brach der Krieg aus und lehrte mich, wie vorher schon gesagt, alles zu essen, egal, wann und wo es angeboten wurde. Das blieb bis heute, schauen Sie sich meinen Bauch an.
Der
Suppenkasparist eines der pointiertesten und das wahrscheinlich bekannteste der Kapitel des
Struwwelpeters. Es erzählt in wenigen Versen die Geschichte eines Jungen, der sich weigert seine Suppe zu essen und daher innerhalb weniger Tage verhungert.
[2] Stümmel - Stümmel=Abkürzung von Stümmelchen, Kosewort für ein kleines Kind