Heimat
Kapitel 2: Heimatgefühle
Das Heimatgefühl wächst auf dem Nährboden guter Erlebnisse und Erinnerungen, sagen viele. Aber das kann nach meiner Erfahrung nur die eine Seite der Medaille sein. Ich frage mich, wirkt sich auch negatives Erleben auf das Heimatgefühl aus? — Wie ich in meiner Geschichte Heimat, Teil 1
berichtete, hatte ich früher starkes Heimweh nach dem Ruhrgebiet, obwohl ich mich auch an sehr schlimme Erlebnisse dort erinnere, z.B. den Bombenkrieg mit allen seinen Schrecken. — Heimatgefühl und Heimweh sind wahrscheinlich mit dem Verstand und wissenschaftlichen Methoden gar nicht zu erklären und zu verstehen, obwohl dabei Biophysik, Biochemie und Neurologie eine große Rolle spielen, aber nicht nur sie. — Aber was denn noch? — Wahrscheinlich ein unlösbares Rätsel.
Das Empfinden für eine bestimmte Heimat ist genetisch nicht vererbbar, lehrt die Entwicklungsgeschichte. Gut so, weil sonst alle Menschen dauernd Heimweh hätten. Denn im Laufe der Hunderttausende von Jahren langen Menschheitsgeschichte sind unsere Vorfahren auf Wanderschaft gezogen und haben aus verschiedenen Gründen ihr geliebtes Wohngebiet, ihre Heimat, verlassen — entweder freiwillig oder erzwungen. — Im Gegensatz zur Genetik kann dieses Empfinden sehr wohl durch Erzählungen und Sagen nachfolgenden Generationen überliefert werden. Leider auch durch verantwortungslose Demagogen, die kriegerische Zwecke verfolgen, wie z.B. die jüngste Geschichte leidvoll gezeigt hat.
In keinem mir bekannten Gesetz ist der einklagbare Anspruch auf Heimat festgeschrieben. Wenn dieser Begriff verwendet wird, dann sind damit konkrete Dinge gemeint, nachprüfbare Fakten wie Haus, Grundstück, Aufenthaltsrecht, Schutz vor Vertreibung usw.
Aber das Heimatgefühl, das wahrscheinlich alle Menschen entwickeln, ist eine unbestrittene Tatsache, nur kann es niemand normgerecht nachprüfen. Es gibt dafür keine objektive Messlatte. Dennoch kann es mit Urgewalt die Menschen ergreifen. In unzähligen literarischen Werken ist die Heimat ein Thema, es gibt die schönsten Gedichte und Lieder über sie. Hier nur zwei Beispiele, ohne die anderen herabzusetzen:
Wer von der älteren Generation erinnert sich nicht an das Lied mit dem Refrain: Heimat, deine Sterne, sie strahlen mir auch am fernen Ort … usw.
Ein paar Zeilen weiter heißt es. … Nichts kann sich mit dir vergleichen! Dir gilt mein Lied in der Ferne, Heimat.
Wenn das während des Krieges im Rundfunk erklang, etwa im Wunschkonzert für die Wehrmacht
wurden millionenfach die härtesten Herzen weich und die Augen feucht — an der Front und in der Heimat.
Oder denken Sie an den Gefangenenchor aus der Oper Nabucco, der in flehenden Tönen herzzerreißend klagt: Teure Heimat, wann seh' ich dich wieder, dich, nach der mich die Sehnsucht verzehrt?
Als in den 50er und 60er Jahren noch in jeder Kneipe ein Musikautomat (englisch: music box) mit sehr vielen Schallplatten stand, konnte man für einen Groschen (10 Pfennig) eine Platte spielen lassen. Viele Apparate enthielten diesen Titel. Ich hatte damals einen Kollegen in der Stahlindustrie, einen Ingenieur, der ließ bei jedem Kneipenbesuch mit Glitzern in den Augen diese Platte mindestens fünfmal spielen. Er war ein Heimatvertriebener. Als ich ihn einmal fragte, woher er komme, schüttelte er nur den Kopf und brachte den Namen nicht über seine Lippen. Das Thema sprachen wir dann nie mehr an.
Dass dieses Lied seinen anrührenden Charme auch für Menschen, die keine Flüchtlinge oder Vertriebene sind, über alle Zeiten behalten hat, erfuhr ich vor wenigen Wochen auf dem Feuerwehrfest im Nachbarort Wilstedt. Wie es sich bei solchen Anlässen gehört, spielte die Blaskapelle munter und kräftig Märsche und andere fröhliche Musik. Der gemischte Chor intonierte deutsches Liedgut und moderne Weisen. Auf einmal stimmte er Teure Heimat ...
an. Augenblicklich spürte ich, wie bei den Zuhörern die ausgelassene Fröhlichkeit in eine andächtige Stille umschlug. Neben mir stand auch ein jüngerer Feuerwehrmann, eine holsteinische Eiche
. Mit verklärtem Blick raunte er mir zu: Das ist schön. Das Lied könnte ich immer wieder hören.
Ich nickte verständnisvoll.
Dass die Heimat nicht immer auf dem Land liegen muss, singen Lolita und Freddy Quinn in dem Schlager, der ein Ohrwurm geworden ist: Seemann, deine Heimat ist das Meer …
Mir ist nicht bekannt, dass ein Seemann das bisher dementiert hätte.
Heimat muss auch nicht zwangsläufig auf dem Planeten Erde zu finden sein. Religiöse Menschen, glauben fest, dass ihre Heimat, sie meinen die ewige, im Himmel ist. Der Himmel in diesem Sinne ist für sie das, was im englischen heaven und nicht sky heißt. So manche Christen sprechen auch von dem himmlischen Jerusalem. Sie zeigen damit ihre große Sehnsucht nach Gott und dem ewigen Leben, denn für sie kommt der Mensch von Gott und kehrt nach dem Erdenaufenthalt zu ihm zurück. Dieser Glaube ist in vielen Religionen zu finden. Indianer glauben an Manitu und seine ewigen Jagdgründe. Manche, die sich Moslems nennen, können es offensichtlich gar nicht abwarten und beenden ihr irdisches Leben als sogenannte Märtyrer. Für gläubige Juden ist Jerusalem die Heimat schlechthin, im konkreten wie im transzendenten Sinne. Für Buddhisten ist das Nirwana die geistliche und ewige Heimat.
Ganz neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse regen uns dazu an, die Heimat des Lebens gar nicht auf der Erde zu vermuten, sondern irgendwo im Weltall. Denn mit Hilfe von Weltraumsonden wurden in einem Kometenschweif biochemische Stoffe gefunden, ohne die irdisches Leben nicht möglich ist. Die Kosmologen haben schon seit langem gewusst, dass wir aus Sternenstaub gemacht sind, aber für lebenswichtige organische Stoffe außerhalb unserer Mutter Erde
gab es bis vor kurzem noch keinen Beweis.
Dass auch Tiere offenbar so etwas Ähnliches wie Heimatgefühle oder Heimaterinnerungen haben, ist bekannt. Pferde, Rinder, Schafe und andere Haustiere finden mit schlafwandlerischer Sicherheit ihre gewohnten Ställe. Bienen fliegen immer zu ihrem Stock zurück. Von entführten oder entlaufenen Hunden und Katzen gibt es genug Beispiele, dass sie unglaublich lange und fremde Strecken zurücklegten und nach Wochen oder Monaten zu Herrchen oder Frauchen zurückkehrten. Zugvögel nehmen lange und gefährliche Flugstrecken in Kauf, um an dem Ort ihrer Geburtsheimat wiederum ihre Jungen aufzuziehen. Der unfehlbare Orientierungssinn der Brieftauben gibt uns immer noch Rätsel auf. Selbst Fische machen lange Züge durch Meere und Flüsse zu den Laichplätzen, an denen sie aus dem Ei geschlüpft sind. Denken Sie nur an die Lachse und Aale. Würde man ihnen den Weg zu ihrer Kinderstube versperren, müsste die Art aussterben.
Wie stark dieses Gefühl der Verbundenheit mit dem Zuhause bei Hunden ist, zeigte sich mir, als ich ungefähr 17 Jahre alt war, eindringlich am Verhalten unseres ersten Familienhundes, namens Heidi. Sie war ein mittelgroßer, schlanker Mischling mit gutmütigem Wesen und kurzem, gelblichem Fell. Sie hatte die Aufgabe, nachts unseren Kleintierstall, der abseits im Garten stand, vor menschlichen und tierischen Räubern zu bewachen. Das tat sie gut und tagsüber durfte sie sich auch in der Wohnung aufhalten und wurde von uns spazieren geführt. Als einmal meine kleine Schwester mit ihr Gassi
ging, nahm Heidi aus unbekanntem Grund Reißaus. Mehrere Tage suchten wir sie intensiv, aber ohne Erfolg. Traurig hatten wir sie schon für immer verloren geglaubt, als ich mit dem Fahrrad an einem Schrebergartengelände vorbei fuhr. Plötzlich schoss seitlich aus dem Gebüsch mit schrillem Jaulen ein gelber Blitz auf mich los und riss mich vom Sattel. Es war unsere Heidi. Immer wieder sprang sie freudetrunken wie eine Wilde an mir hoch. Ans Fahren war wegen Heidis Sprüngen nicht zu denken. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit Rad und Hund nach Hause zu rennen. Dort in der Wohnung ging das Theater weiter. Heidis Wiedersehensfreude war im wahrsten Sinne umwerfend und unbeschreiblich. Wie ein Sturmwind wirbelte sie bellend und winselnd durch die Wohnung und beschnüffelte zur Begrüßung ungestüm alles, was sich im Raum befand. Meine Mutter musste aufpassen, nicht zu Boden gerissen und dort weiter abgeleckt zu werden. Aber geistesgegenwärtig gab sie unserer Heimkehrerin schnell etwas zu fressen und zu trinken, worauf sich das ausgehungerte Tier wie im freien Fall stürzte. Auf diese Weise wurde die wildeste Phase der Begrüßungsorgie beendet und unsere gegenseitige Freude nahm ruhigere Züge an.
Heidi konnte ihre Gefühle nur zeigen, aber nicht für die Nachwelt festhalten. Das habe ich nun für sie getan, das treue Wesen.