Geburtstag? - Nein, danke!
So vornehm zurückhaltend, wie es in der Überschrift steht, habe ich mich am 30. Januar 1938 nicht ausgedrückt, sondern derber und heftiger. Ich will keinen Geburtstag haben! Ich will nicht fünf Jahre werden!
brüllte ich den Protest gegen meinen Geburtstag hinaus in die Welt, immer und immer wieder.
Alle Gäste guckten sich verdutzt an, hielten verlegen und unschlüssig ihre Geschenke in den Händen und wussten nicht so recht, ob sie mir doch gratulieren oder lieber weggehen sollten. Ich galt bisher als liebes und folgsames Kind. Nun waren alle perplex. Meine Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel hatten sich fein gemacht, waren teils von weit hergekommen und wollten mich mit allerlei neuen Spielsachen und erlesenen Süßigkeiten erfreuen. Doch ich wies alle und alles zurück und verkündete meine Abneigung gegen diesen Geburtstag lautstark und unmissverständlich. Meine Eltern entschuldigten sich bei den Gästen für mein unbegreifliches Verhalten und feierten mit ihnen. Es war Sonntag, und alle hatten gute Laune mitgebracht.
Als es mir langsam dämmerte, wie unabwendbar mein Alter und wie erfolglos mein Protest war, kullerten mir in ohnmächtigem Zorn die Tränen über die kindlichen Wangen. Was war nur in mich gefahren, dass ich mich dermaßen daneben benahm?
Dabei hatte ich es doch so gut - damals als Einzelkind von wirklich lieben Eltern und als erster und bis dahin einziger Enkelsohn meiner Großeltern und noch einziger Neffe meiner jungen Onkel und Tanten, die jüngste Tante war erst zwölf Jahre alt. Es herrschte noch tiefer Frieden. Ich bekam zu essen, was ich wollte. Mein Vater war wie Millionen andere Männer nicht mehr erwerbslos und hatte wieder eine Arbeitsstelle und ein zwar schmales, aber auskömmliches Einkommen. Die meisten Menschen um mich herum sahen optimistisch in die Zukunft, das spürte ich sogar als kleines Kind. Adolf Hitlers Kriegsgelüste waren dem Mann auf der Straße
wahrscheinlich nicht wirklich erkennbar. Die Sudetendeutschen waren noch nicht heim ins Reich
geholt, deutsche Truppen noch nicht kampflos wie auf einer Parade, zum Teil wie Gäste begrüßt, in Prag einmarschiert. Auch der Anschluss Österreichs an das Großdeutsche Reich
stand noch bevor.
Doch ich saß da, stemmte mich gegen mein Älterwerden und wollte meinen Geburtstag nicht annehmen. Nach meiner Erinnerung war es mir sehr, sehr schrecklich zumute. Ich wusste und weiß bis heute nicht warum. Es war einfach ein furchtbares Gefühl, das ich nie vergessen werde. Aber genau so schrecklich war es mir, weil ich nicht wusste, warum es mir schrecklich war.
Zum Glück kehrte dieses schlimme Gefühl nie mehr zurück. Alle meine späteren Geburtstage habe ich mit gelassener Freude und Dankbarkeit verbracht. Heutzutage besonders, weil ich mein Alter zwar mit gut verheilten Narben auf dem Körper und der Seele, aber bei akzeptabler Gesundheit erreichen durfte, wo doch bei vielen Gleichaltrigen die Lebensuhr schon abgelaufen ist oder das Siechtum eingesetzt hat.
Aber ich kenne auch Gleichaltrige, die ihren Geburtstag nicht als Feiertag, sondern eher als Trauertag empfinden. Manche leiden dann wie ein geprügelter Hund. Sie werden ganz schlimm überwältigt von der simplen Erkenntnis, dass die Baustellen
am und im eigenen Körper einen immer größeren Umfang annehmen, die Kräfte schwinden und die Haut verwelkt.
Ich kenne auch eine Dame, für die Silvester der traurigste — weil letzte - Tag des Jahres ist. Wenn andere lustig sind, das alte Jahr feuchtfröhlich verabschieden und das neue Jahr laut und freudig begrüßen, verkriecht sie sich und ist maßlos traurig. Eine rationale Erklärung dafür hat sie nicht.
Auch ich habe bis heute, nach 72 Jahren, keinen schlüssigen Beweis dafür, welche — volkstümlich ausgedrückt - Laus mir damals über die Leber gekrochen ist
, die — neudeutsch ausgedrückt - so viel Protestpotential in mir erzeugt hat, dass ich mich gegen so etwas Unabwendbares wie das Lebensalter stemmen musste und die Erinnerung daran mich nicht loslässt.
Aus heutiger Weitsicht vom hohen Greisenthron
wage ich, einige Vorerlebnisse — rein spekulativ - als Erklärung heranzuziehen, die ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in meinen folgenden Kurzgeschichten zum Lesen anbieten möchte.
Lieb und folgsam zu sein, galt damals in meiner Umwelt als höchste Tugend für ein kleines Kind. Aufmüpfiges Verhalten, wie an jenem Geburtstag, galt als frech, verwerflich und strafwürdig.
Eine antiautoritäre Erziehung war absolut undenkbar. Kleine Kinder sollten dicke und rote Backen (Wangen) haben, dann galten sie als gesund.