Professoren einmal anders
Nach dem Abitur und einem halbjährigen Hochschulpraktikum in der Stahlindustrie begann ich 1954 mein Studium der Eisenhüttenkunde an der Rheinisch Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH Aachen). Sie hat den Rang einer Universität mit Promotionsrecht, auch wenn sie den Namen Hochschule
trägt. Nicht zu verwechseln mit den heutigen Fachhochschulen, die es damals noch lange nicht gab. Um die TH Aachen besuchen zu können, musste man das Vollabitur oder den Abschluss mit Prädikat einer sechssemestrigen staatlichen Ingenieurschule nachweisen. Das verkürzte Fachabitur gab es noch nicht.
Der Titel Ingenieur
war und ist gesetzlich nicht geschützt. Jeder konnte und kann ihn sich zulegen. Deshalb nahm mancher staatlich geprüfte Ingenieur anschließend das lange und vorwiegend wissenschaftlich orientierte Universitätsstudium auf sich, um den gesetzlich geschützten Titel Diplomingenieur
tragen zu dürfen. Dieser Titel ist nicht komplett inhaltsgleich mit dem Titel Diplomingenieur
einer heutigen Fachhochschule (FH). Letzterem müsste korrekterweise der Zusatz FH
angehängt werden — was aber meistens vergessen
wird.
Vor den Leuten, die das Universitätsstudium und das Diplomhauptexamen auf dem zweiten Bildungsweg schafften, sei es über die Ingenieurschule oder über das Vollabitur auf der Abendschule neben ihrer Berufstätigkeit, zog ich den Hut. Meistens waren es gestandene Menschen um die Dreißig und die allerbesten ihres Jahrgangs.
Ich denke, daran darf auch einmal wertfrei erinnert werden. Aber nun zu meinem eigentlichen Thema:
Unsere Professoren waren allermeist keine Lehrmaschinen, die ausschließlich den Nürnberger Trichter betätigten, sondern Originale mit unverwechselbaren Eigenschaften, jeder auf seine Weise. Fachlich hochkarätig, aber auch oft robust bis auf die Knochen und gar nicht zimperlich. Dennoch hochsensibel, immer gut für einen unvergesslichen Spruch. Ganze Kerle.
Ich fange mal mit dem ganzen Kerl
Frau Professorin Doris Sch. an. Bei ihr belegte ich allgemeine und spezielle Mineralogie und Lagerstättenkunde. Obwohl sie eine der ganz wenigen Hochschullehrerinnen für Studenten der technischen Disziplinen war, gab es für sie keine Probleme in punkto Anerkennung. Nicht nur deshalb, weil kolportiert wurde, dass sie auf einer Fachtagung in Titos Jugoslawien trinkfeste KP-Funktionäre und ehemalige Partisanenführer mit Rotwein unter den Tisch gesoffen
hätte. In jener Zeit war Trinkfestigkeit eine wichtige Eigenschaft, wollte man auch gesellschaftlich etwas gelten. Die gesetzlich festgelegte Grenze der Fahrtüchtigkeit lag noch bei ≥1,5 ‰ Alkohol und entsprechende Polizeikontrollen fanden kaum statt.
Frau Prof. Sch. konnte Mineralien und Erze so lebendig bringen, als wären es kostbare Edelsteine, obwohl sie auch deren chemische Zusammensetzungen und Kristallstrukturen, was als trockener Stoff galt, vermitteln musste. Ich habe sie auch zweimal im Rahmen meiner Fleißprüfungen zwecks Erlass der Studiengebühren erlebt. Die Prüfungen fanden nach Semesterschluss und nur samstags statt. Ich wartete in ihrem Sekretariat wie bestellt kurz vor 14 Uhr. Plötzlich ging die Tür zum Flur auf und Frau Prof. Sch. erschien mit vollen Einkaufstaschen und den damals noch üblichen Einkaufsnetzen. Ladenschluss war damals am Samstag schon um 14 Uhr.
Kommen Sie rein
, gebot sie mir, schritt in ihr Arbeitszimmer und lehnte Taschen und Netze an ihren Schreibtisch. Knallgelbe Apfelsinen und grasgrüner Kopfsalat leuchteten mich durch die Maschen der Netze an. Noch während sie sich hinsetzte, fragte sie: Erzählen Sie mir alles über Apatit, und wo gibt es Eisenerze und welche?
Ich antwortete flüssig und richtig. Dann musste ich ein Stück aus ihrer riesigen Mineraliensammlung bestimmen. Ihre Fragen zu den Sammlungsstücken galten unter Studenten als wahre Stolpersteine
. Doch ich hatte mich gut vorbereitet.
Nach ungefähr 20 Minuten brach sie die ansonsten sechzigminütige Prüfung ab und murmelte fast mütterlich: Ich seh' schon. Wer sich hier einer Fleißprüfung stellt, muss schon etwas können.
Sie gab mir eine Eins. Das war sehr wichtig, denn für die Befreiung von der Studiengebühr zählten Einsen und Zweien. Nur eine einzige Drei durfte dabei sein, und ich hatte ja noch mehr Fleißprüfungen bei anderen Professoren vor mir.
Professor Max P., Nestor (der Älteste) der Eisenhüttenkunde, zu meiner Zeit schon emeritiert (pensioniert), kam aber hin und wieder zu Sondervorlesungen. Bei den Reichswerken Hermann Göring in Salzgitter hatte er im dritten Reich das Soda-Entschwefelungsverfahren erfunden und großtechnisch angewandt (in das flüssige Roheisen wird nach dem Abstich am Hochofen Soda zugegeben). Mit seinem Verfahren kann man saure Erze verhütten, was ihm in der Fachwelt großen Ruhm einbrachte. Zur Auflockerung seiner Vorlesungen flocht er oft einen kleinen Bericht über seine Verhandlungen mit streikenden Arbeitern an den Hochöfen ein. Die Männer verlangten nämlich eine deftige Zulage, weil sie befürchteten, durch das Soda impotent zu werden.
Er gab auch eines seiner nicht ernst gemeinten Prüfungskriterien bekannt: Ein Eisenhüttenmann kann noch so besoffen sein, aber ein Eisen-Kohlenstoff-DiagrammIn verarbeitetem Eisen (Stahl und Gusseisen) ist stets eine gewisse Menge Kohlenstoff enthalten, dessen Anteil die Eigenschaften des Stahls und des Gusseisens bestimmt. Das Eisen-Kohlenstoff-Diagramm (EKD) ist ein Gleichgewichtsschaubild für das binäre System Eisen-Kohlenstoff, aus dem sich in Abhängigkeit vom Kohlenstoffgehalt und der Temperatur die Phasenzusammensetzung ablesen lässt.Klick für Wikipedia muss er immer noch in den Schnee pinkeln können. - Bekanntlich ist dieses Diagramm ziemlich kompliziert.
Professor Hermann Sch. war zu meiner Zeit der Eisenhüttenpapst in Deutschland und bekleidete auch hohe Positionen in der Industrie. Er managte Lehre, Forschung und Führung mit eiserner Disziplin und Tatkraft. Darüber hinaus zeigte er sich gegenüber seinen Studenten und den Männern an den Öfen
(ein geflügeltes Wort von ihm) volksnah und ggf. deftig in der Sprache. Z.B. verkündete er einmal auf einer Kneipe (studentisch Bierabend), der Mann habe nur ungefähr3000 Schuss im Leben. Er musste es ja wissen, weil er nach meiner Erinnerung dreimal verheiratet war. Beim dritten Mal fand am Vormittag die Trauung statt, und am Nachmittag hielt er seine Vorlesung.
Während der Prüfung im Hauptexamen wollte er unter anderem wissen, was bei fehlerhaftem Ofengang mit unberuhigtem Stahl in der Kokille (dickwandige, quaderförmige und wieder verwendbare Stahlform, in die flüssiger Stahl gegossen wird) passiert. (Er kocht dann über ungefähr wie siedende Milch im Topf. Der Kokillenmann (Arbeiter in der Gießgrube) nennt es Blumenkohl. Die Umgangssprache der Hüttenleute ist überhaupt sehr blumig. Meine drei Kommilitonen, die mit mir eine Prüfungsgruppe bildeten, und ich erklärten unserem Professor den Vorgang richtig, aber wissenschaftlich lang und breit, mit Diagrammen untermalt. Ihm dauerte es zu lange. Er nahm seine Taschenuhr und schwenkte sie an der Uhrkette wild herum und donnerte: Ihr habt Vorstellungen von der Eisenhüttenkunde wie die Theologen! Es gibt dann einen Blumenkohl! Schon mal gehört?
Wir im Chor: Natürlich, Herr Professor.
Er: Dann sagt es auch!
Durchgefallen waren wir deswegen beileibe nicht, es lag wohl nur an seinem Temperament und vielleicht an der drückenden Hitze in jenem Supersommer 1959. Wir alle, Prüfer und Prüflinge, trugen nämlich streng nach Etikette schwarzen Anzug mit silbergrauem Schlips und schwitzten wie in der Sauna.
Mit seinem Pendant an der Bergakademie in Clausthal-Zellerfeld, Professor Willi Ö., von dessen Studenten anerkennend Schlackenwilli genannt, weil er der Schlacke die Dominanz im Zusammenwirken von Stahlbad und Schlacke zuordnete, lieferte er sich hochwissenschaftliche Gefechte über die wahre Theorie der Stahlherstellung. Ich glaube, hätten wir 200 Jahre früher gelebt, würde er ihn wahrscheinlich zum Duell gefordert haben, wie es damals unter Professoren hin und wieder geschehen sein soll.
Professor Sch.-G. las Statik I und II sowie Dynamik. Er wirkte auf mich wie ein Grandseigneur schlechthin. Groß und schlank mit keckem Menjou-Bärtchen trug er immer einen Anzug aus feinstem Zwirn, dazu Weste und Stecktuch. Mit bühnenreifer Stimme, das R
alemannisch rollend wie etwa der Schriftsteller Martin Walser, trug er souverän seinen von uns Hüttenleuten so verhassten Stoff vor. Seine Prüfungen waren sehr gefürchtet, weil unberechenbar. Sie bestanden aus einem schriftlichen und einem freiwilligen mündlichen Teil. Wer im Schriftlichen alles richtig beantwortet hatte, bekam höchstens eine Zwei. Schon bei der geringsten Unrichtigkeit war eine schlechtere Note fällig. Aber man hatte die Chance, sich in der Mündlichen auf eine Eins zu verbessern — oder durchzufallen. Es war gefährlicher als russisches Roulette. Wer die Schriftliche verhauen hatte, musste notgedrungen in die Mündliche. Dort lag die Abschussquote
bei mindestens 50 %. Denjenigen Durchgefallenen, die die Prüfung im folgenden Semester wiederholen durften, eröffnete der Professor sein Urteil meistens wie folgt: Schauen Sie aus dem Fenster und was sehen Sie da? Vor seinem Fenster stand ein riesiger Laubbaum. Einen Baum, Herr Professor.
- Richtig, und hat der Baum Blätter?
- Nein, Herr Professor. - Richtig, und wenn der Baum Blätter hat, kommen Sie wieder.
Prof. Sch.-G. wurde nicht ohne Grund von Studenten Prof. Sch.-Grausam genannt.
Besonders dankbar bin ich gar keinem Professor, sondern einem Lehrbeauftragten für höhere Mathematik, Studienrat W. Er entwickelte in einem atemberaubenden Tempo an der Tafel ohne Manuskript die schwierigsten Formeln. Dabei so glasklar und verständlich, dass ich die höhere Mathematik im Gegensatz zum Unterricht auf dem Gymnasium nicht nur mechanisch lernte, sondern richtig verstand und dort sogar ein Fleißzeugnis erwarb.
Professor G., sein Fach: Maschinenelemente, war ein absolutes Phänomen in punkto visuelles Gedächtnis. Er kannte alle seine Studenten in jedem Semester absolut sicher — aber nicht deren Namen. Jovial und freundlich wie er war, grüßte er im Gegensatz zu anderen Professoren seine Studenten nach der ersten Vorlesung schon von weitem auf der Straße mit gezogenem Hut und einer angedeuteten Verbeugung.
Leider trug er seinen Stoff sehr umständlich und manchmal unverständlich vor. Aber man konnte eine schlechte oder mäßige Prüfungsklausurnote verbessern durch eine selbstgewählte Konstruktion einer Hüttenanlage mit Zeichnungen und Berechnungen als Hausaufgabe. Davon machte auch ich erfolgreich Gebrauch.
Die Konstruktion musste man bei ihm persönlich abgeben und in Grundzügen erklären. Bei älteren Semestern erkundigte ich mich vorher nach seinen Eigenarten, denn ich hatte etwas läuten gehört. Ich erfuhr folgendes: Oberschlesier, im ersten Weltkrieg schwer verwundet, Teilnehmer beim Sturm auf den Annaberg, im zweiten Weltkrieg furchtlos aufs Institutsdach gestiegen und mit einer Pistole auf feindliche Tiefflieger geschossen, hasst Kommunismus und Sowjet-Union.
Ein Kommilitone sagte sehr drastisch zu mir (es war das Zeitalter der langen Mähnen): Die besten Karten hast du bei ihm mit militärisch kurzen Haaren und einen toten Russen hinter dir her schleifend.
Dieses alles im Kopf klopfte ich bei Prof. G. an, um meine Konstruktion abzugeben und stellte mich mit Namen vor, wie es sich gehört. Er fragte: Matiba, Matiba, woher kommt dieser Name?
Da witterte ich meine Chance und antwortete: Mein Name kommt aus Schlesien; mein Vater ist Schlesier, Vertriebener nach dem ersten Weltkrieg, im Ruhrgebiet in der Stahlindustriegelandet und im zweiten Weltkrieg als Soldat in Russland gefallen.
In des Professors Augen blitzte es anerkennend auf. Das anschließende Examensgespräch verlief höchst angenehm. Doch als ich abschließend die Zeichnungen und Berechnungen wieder zusammen rollte, stellte ich fest, dass ich meinen Namen nicht darauf geschrieben hatte. Ich zog meinen Kugelschreiber und wollte es nachholen, aber Prof. G. sagte: Brauchen Sie nicht. Wenn ich Ihre Zeichnung sehe, sehe ich Ihr Gesicht.
Verblüfft steckte ich das Schreibwerkzeug wieder ein.
Nach etwa 14 Tagen sprach ich zusammen mit drei Kommilitonen bei Prof. G. vor, um die Zensuren zu erfahren. Er schaute uns kurz an und sagte jedem seine Note. Dann zog er aus dem hohen Stapel von Prüfungsarbeiten unsere Arbeiten heraus, ohne nach den Namen gefragt zu haben. Er erkannte die Arbeiten allein auf Grund unserer Gesichter. Unglaublich, aber wahr.
Das Institut für bildsame Formgebung leitete Professor S. Er war sehr beliebt bei den Studenten. Nicht nur galt er als ein hervorragender Mann des Geistes, sondern auch im rauen Betrieb an der Walzstraße konnte er mit Kraft und Schnelligkeit richtig zupacken. Auf Exkursionen, so erzählte man sich, zog er mitunter seine Jacke aus, nahm dem Umwalzer, der nach des Professors Meinung zu viel Schrott fabrizierte, die Zange aus der Hand und walzte ihm mehrere gute Stiche vor. Es muss ein Bild für die Götter gewesen sein, wie er dort im blütenweißen Hemd mit roter Fliege zwischen muskelbepackten Walzwerkern im durchgeschwitzten Blaumann
den glühenden Stahl in das richtige Kaliber wuchtete.
Auf einer Barbarakneipe der Fachschaft (Umtrunk der Professoren und Studenten am 4. Dezember zu Ehren der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Berg- und Hüttenleute) entwickelte sich in Bierlaune unter den einzelnen Disziplinen der Hüttenleute (Eisen- und Metallhüttenleute, Gießer und Walzwerker) ein Disput darüber, welche Disziplin von uns den ältesten Beruf darstelle. Prof. S. behauptete natürlich, dass es die Walzwerker seien. Er lieferte auch die unwiderlegbare Begründung dafür: Schon seit Adam und Eva haben die Menschen von rund nach oval kalibriert.
Leider ereilte ihn der Tod viel zu früh auf einer Dienstreise in Japan. Wir alle wünschten ihm aufrichtig, dass es in Gesellschaft einer Geisha geschah.