Pauker, Priester, Pils, Penunzen und die schöne Minna
oder
wie der Vatikan einem Gastwirt in Langendreer zu erhöhtem Umsatz verhalf und der Vikar der Dumme war
Genau sechzig Jahre sind es her – ja und? Vieles ist mir gerade aus diesem Jahr 1953 in Erinnerung geblieben. Aber ich will mich auf das Schulische beschränken, weil es für mich im Vordergrund stand.
Das Wetter spielte hervorragend mit. Leider konnte das sommerliche Schwimmen in der städtischen Badeanstalt oder in der Ruhr in ihrem malerisch gelegenen Bett bei Burg Hardenstein nicht so oft wie in den früheren Jahren auf dem Freizeitplan stehen, weil strammes Pauken
angesagt war. Ich saß in der Oberprima (13. Klasse) und Anfang nächsten Jahres sollte ich die Reifeprüfung (Abitur) ablegen.
In der Unter- und Mittelstufe des Gymnasiums benötigte ich für die Hausaufgaben nur ein Minimum an Zeit, weil ich eine einfache, aber für mich sehr effektive Taktik anwendete. Ich passte nämlich während der Unterrichtsstunden wie ein Schießhund auf beim Durchnehmen des neuen Unterrichtsstoffes und ließ mich nicht ablenken durch den üblichen Schülerunsinn, d. h. Planung und Durchführung von Streichen. Deswegen konnte ich die Hausaufgaben schnell mit links erledigen.
In der Oberstufe wehte ein rauerer Wind. Der Lernstoff nahm extrem zu an Qualität und Quantität und wir Schüler waren ab Obersekunda (elfte Klasse) auf 5 Mädchen und 6 Jungen heruntergesiebt worden. Für unsere Region mit über 40.000 Einwohnern war das ein verschwindend kleiner Anteil. In puncto weiterführende Schulen gab es nur unser Gymnasium mit nur einer Klasse pro Jahrgang sowie eine Mittelschule. Also kein Vergleich mit heute.
In unserer langen Straße wohnte vor mir kein einziger Abiturient. In meiner gesamten Verwandtschaft und Bekanntschaft war ich der Erste, der das Abitur und später eine abgeschlossene Hochschulausbildung besaß. Infolge dessen herrschte gespannte Erwartung mit erhöhtem Druck für mich, die Reifeprüfung zu bestehen. Näheres dazu habe ich bereits in meiner Geschichte Wiederbeginn der Schule nach Kriegsende
beschrieben.
Die Lehrer verlangten hohe Leistungen und motivierten hauptsächlich durch Tadeln. Die meisten von Ihnen ließen erkennen, dass sie uns grundsätzlich als Versager betrachteten. Möglicherweise war es eine pädagogische Methode, um geistige Kräfte hochzupeitschen, und sie hatten Erfolg damit. Eine durchschnittliche Leistung mit richtigem Ergebnis wurde mit ausreichend
bewertet. Bessere Leistungen wurden argwöhnisch betrachtet, weil sie in den starken Verdacht gerieten, durch gerissenes Mogeln herbeigeführt worden zu sein. Die Lehrerschaft machte deshalb von vornherein – ohne jeden Beweis – einen Abzug von 10 % wegen Mogelns. Das war natürlich blankes Unrecht, weil so eine kleine Anzahl von 11 Schülern komplett kontrolliert werden konnte.
Glücklicherweise gab es damals den heute so gefürchteten Numerus clausus an den Universitäten nicht. Eine zusammengefasste Abschlussnote wurde nicht ermittelt. Die Einzelnoten spielten nicht die entscheidende Rolle für eine Zulassung zum Studium. Es hielt sich auch die Anzahl der Bewerber für Studienplätze in mäßigen Grenzen.
Richtig geärgert hat mich nur das Ausreichend
in Religion. Der Unterricht fand nach Konfessionen getrennt statt. Der evangelische Lehrer ließ uns die Kirchengeschichte auswendig rauf- und runterbeten und behalten, als wenn wir nicht schon genug andere Zahlen und Texte lernen mussten.
Dagegen vergab der katholische Pfarrer seinen Schülern schon ein Gut
für bloße Anwesenheit. Als ehemaliger Widerstandskämpfer und KZ-Häftling unter dem Naziregime war er für seinen Glauben schon zu Lebzeiten durch die Hölle gegangen. Seinen Schülern verriet
er Titel der Bücher, die der Vatikan auf den Index, Liste der verbotenen Bücher, gesetzt hatte, und dabei war eine Menge erotische Literatur, auf die wir uns natürlich mit Wollust stürzten. In unseren Augen war er ein Pfundskerl, Frömmler sahen ihn bestimmt anders.
Und noch etwas zeichnete ihn aus:
Als erster Pastor weit und breit weidete er seine Schäfchen
mit einem weißen VW Käfer anstatt per pedes apostolorum (Latein, auf den Füßen der Apostel). Ein Auto war 1953 eine Rarität, kein Lehrer besaß so ein Fahrzeug. Aber jeder gönnte es ihm. Bezahlt hatte er es sicher mit der Haftentschädigung und nicht mit dem Geld von Mutter Kirche.
In diesem Jahr beging unsere Schule ihr fünfzigjähriges Bestehen als höhere Lehranstalt. Schon lange vorher begannen genaue Vorbereitungen. Eine dicke Festschrift wurde geschrieben, Programm und Rednerliste erstellt, wichtige Gäste und alle Ehemaligen eingeladen, der Schulchor übte fleißig und alle Klassen bekamen ihre Aufgabe. Die Unterprima, verstärkt durch einige schauspielerisch begabte Obersekundanerinnen, sollte zu Ehren des Namensgebers unserer Schule, Gotthold Ephraim Lessings, sein Lustspiel Minna von Barnhelm
aufführen. Und uns, den Oberprimanern und Abiturienten, wurde die Ehre zuteil, die Honneurs zu machen.
Glücklicherweise besaß ich schon einen dunklen Anzug. Mit meinen 64 kg (im Boxen gerade mal Weltergewicht), bei einer Länge von 173 cm füllte ich soeben die Kleidergröße 48 aus. Der Festakt fand vormittags in der Lichtburg, Langendreers größtem Kino, statt. Ich lieh mir von meinem älteren Stiefbruder noch einen passenden Schlips und erledigte feierlich korrekt gekleidet mit meinen Klassenkameraden unsere Aufgaben, nämlich die Menschenströme diskret leiten, gegebenenfalls unartige Schüler der Unterstufe zur Ordnung bringen, die Honoratioren der Stadt und andere prominente Gäste ehrerbietig begrüßen und sie zu ihren Ehrenplätzen geleiten − eben repräsentieren. Alles klappte wie geschmiert.
Am Abend fanden in Langendreers größtem Lokal die schon genannte Theateraufführung mit vorherigen Reden über den Wert der musischen Bildung statt und anschließend der Kameradschaftsabend mit offenem Ende. Wir Oberprimaner machten wieder erfolgreich die Honneurs und den Ordnungsdienst. Der Saal war rappelvoll und die Luft zum Schneiden. Aber der fröhlichen Stimmung tat es keinen Abbruch. Die Aufführung war ein voller Erfolg, sogar mit Zwischenapplaus. Einmal wollte das Lachen kein Ende nehmen, als der Major von Tellheim allzu inbrünstig deklamierte: Minna, meine Minna!
Denn die meisten Zuschauer wussten, dass die beiden Personen, die die Minna und den Major spielten, auch privat ein dickes Liebespaar waren. Den größten Applaus bekam jedoch der polternde Wirt.
Gegen Ende des gemütlichen Teils der Veranstaltung erreichte mich die diskrete Nachricht, dass der katholische Pfarrer die Oberprimaner an der Theke erwartet, auch die evangelischen. Ich ging hin und der Priester stand schon dort und bestellte für uns eine Runde Pils. Man muss wissen, dass damals wie heute, glaube ich, im Ruhrgebiet und im Rheinland, die Theke der begehrteste und schönste Platz in einem Lokal ist. Darüber gibt es auch einen Karnevalsschlager. Jeder kann dort mit jedem quasseln, streiten oder lachen und dabei sein Bier und/oder einen Kurzen
trinken. Nur sogenannte Bildungsbürger, wozu auch Geistliche gehören, und Damen der feinen Gesellschaft, außer im Karneval, meiden diesen Ort, weil es sich für sie nicht schickt.
Aber unser Hochwürden störte sich nicht an solcher Etikette, trank mit uns und plauderte auf angenehme Weise. Wir witterten sofort unsere Chance, noch mehr Freibier zu bekommen, denn wir waren sehr klamm bei Kasse und zwangsläufig Nassauer. (Im Jargon: Nassauer hatten nasse Socken. Nasse Socken hatte derjenige, der sein Bier von anderen bezahlen ließ). Das Jahr vor dem Abi konnten wir nämlich nicht mehr in den Ferien auf einer der Zechen oder Baustellen als Hilfsarbeiter malochen und für die nötigen Penunzen selber sorgen. Ein gepflegtes Pils kostete damals 30 Pfennige. Wir verwickelten ihn also fortlaufend in Gespräche und stellten Fragen noch und noch über Gott und die Welt, die unser Gastgeber gerne und mit großem Erzähltalent beantwortete. Dabei ließ er, wie wir gehofft hatten, die zweite Runde kommen.
Als die Uhr zwei Minuten vor Mitternacht anzeigte, erinnerte ihn unser Klassensprecher, der später ebenso Priester wurde, daran, dass er am nächsten Tag die Frühmesse lesen müsse und jeder Priester vor der Messe an diesem Tag bekanntlich keinen Alkohol trinken dürfe. Hochwürden nahm es gelassen zur Kenntnis und belehrte ihn, dass der Papst für besondere Fälle eine halbe Stunde Verlängerung gewährt habe – und orderte noch eine Runde. Innerlich dankten wir dem Vatikan für diese weise Regel, von der wir bisher noch nichts gehört hatten.
Kurz vor Ende der Verlängerung zeigte unser korrekter Klassenkamerad missbilligend auf die Uhr, worauf der Pfarrer klar entschied: Ich kann jetzt dieses wichtige Thema, das wir gerade behandeln, nicht abbrechen. Der Vikar muss die Messe lesen. Noch eine Runde Pils.
Wir grinsten uns fröhlich an und stellten uns das dumme
Gesicht des Vikars vor.
Weil das Erzählen und die stickige Luft so durstig machten, bestellte unser Mäzen kurz vor der Polizeistunde (1 Uhr) die letzte Runde. Nachdem wir den Boden des Glases gesehen hatten, schwankten wir leicht und vergnügt nach Hause in der Erkenntnis, dass sich unter Gottes Fußvolk prima Kerle befinden. Hochwürden hatte inzwischen seinen Vikar telefonisch geweckt und ließ sich von ihm in seinem weißen VW Käfer ins Pastorat fahren.
Einige Monate später bestanden alle aus unserer Klasse die Reifeprüfung. Zur Ehrenrettung des Lehrerkollegiums muss ich ehrlich sagen, dass es sich dabei sehr fair verhielt. Wie allgemein üblich wollten wir danach die Lehrer und den Schulbetrieb so richtig durch den Kakao ziehen. Da hatten wir eine ganz neue Idee. Unser Jahrgang war der erste, der zu diesem Zweck und zur Überraschung aller keine Abizeitung herausgab, sondern stattdessen seinen Gästen auf der Abifeier ein von uns selbst geschriebenes und produziertes satirisches Hörspiel vom Magnetophonband vorführte, also die damals neueste Kommunikationstechnik anwendete – heute total veraltet.
Unser unvergesslicher Arbeiter im Weinberg des Herrn
(Zitat Papst Benedikt XVI.) bedankte sich auf seine Weise für diese innovative Leistung, indem er wiederum die konfessionellen Schranken niederriss und alle, auch unsere Klassenkameradinnen, zum Weinabend – und aus Platzmangel in den kirchlichen Kindergarten — einlud. So hockten wir mit unseren ausgewachsenen Körpermaßen auf den Zwergenstühlen, einen guten Jahrgang schlürfend, und amüsierten uns köstlich über seine Witze und Geschichten.
Natürlich habe ich aus diesem Jahr noch andere, meist schöne, Erlebnisse parat, aber darüber später in einer anderen Geschichte.