Kinderlandverschickung
Ein aufschlussreiches Gespräch mit Frau Greta Plett.
Frau Plett, Sie sagten, Sie waren während des Krieges durch die so genannte
Kinderlandverschickung
mit ihrer gesamten Schulklasse nach Mader, das lag wie Sie sagten, im Böhmerwald, also im heutigen Tschechien, gewissermaßen evakuiert worden. Erklären Sie uns doch bitte, was das für eine Organisation war und was man sich darunter vorzustellen hatte.
Ja, ich weiß nicht, ob dieses Wort heute wirklich noch irgendjemandem etwas sagt. Ich glaube, man muss heute mindestens 75 Jahre alt sein, um es noch zu verstehen.
Die
Kinderlandverschickung
war eine Maßnahme der Hitlerregierung, um Kinder aus den großen Städten, die, wie meine Heimatstadt Hamburg, den Bombenangriffen stark ausgesetzt waren, in ungefährdete, ländliche Regionen zu bringen. Aus meiner Schule kamen einzelne Klassen komplett nach Mader im Böhmerwald in das dortige KLV-Heim.
Wann war denn das und wie alt waren Sie damals?
Wir schrieben das Jahr 1940/41. Ich war zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Für mich bestand mein Leben damals aus: Haben wir morgen Schule oder geht der Alarm, also die Bombenangriffe auf Hamburg über eine bestimmte Stundenzahl? Maßgebend dafür war, wann der Beginn des Alarms war, also das Einsetzen der Sirene und wann die
.Entwarnung
kam
Können Sie uns das vielleicht etwas näher beschreiben?
Ich versuche es einmal: Der
Fliegeralarm
war ein längerer, schwingender Ton, den es auch heute noch bei Feueralarm gibt. Die Entwarnung
war ein gleichlauter, lang anhaltender Ton. Wir Kinder, die wir in irgendwelchen Luftschutzkellern saßen, sei es im Hochbunker oder in Röhrenbunkern oder im eigenen Haus, haben uns natürlich sehnlichst gewünscht, dass diese Zeit zumindest bis zur dritten oder gar vierten Schulstunde reichen würde. Leider - wie ich heute eingestehen muss - war das sehr oft der Fall. Oder, wenn der Fliegeralarm eine noch längere Zeitgrenze überschritt - ich weiß heute nicht mehr genau welche - dann hatten wir am nächsten Tag überhaupt keinen Unterricht!
Wenn man das hört, ist es ja eigentlich leicht zu erklären, warum die
Kinderlandverschickung
ins Leben gerufen wurde.
Das ist natürlich nur eine kleine Einleitung - oder soll ich besser sagen - Erklärung dafür. Wie ich eingangs erwähnte, bin ich nach Mader im Böhmerwald verschickt worden. Ich wollte dies unbedingt, aber ich hätte besser auf meine Mutter hören sollen!
…wieso dies?
Mein Vater war im Krieg, er war bei der Marine, bei einem - wie wir immer sagten -
Himmelfahrtskommando
, und zwar beim Minensuchkommando. Nur ganz kurz, aber für mich, die ich unendlich an meinem Vater gehangen habe, von unendlicher Bedeutung. Mein Vater geriet zwar erst 1944 in Frankreich in amerikanische Gefangenschaft. Er wurde nach Texas gebracht und kam nach einigen Schwierigkeiten im Herbst/Winter 1945 zu meiner Mutter und mir zurück.
Aber, was ich eigentlich zum Ausdruck bringen wollte, war, ich bekam großes Heimweh nach meiner Mutter und schrieb ihr das auch. Meine Mutter wollte mich daraufhin auf eigene Kosten zurückholen, was auch geldlich gar nicht so einfach war. Sie bekam ja nicht das Gehalt meines Vaters, sondern nur das, was die Wehrmacht den Frauen zugestanden hatte.
Das stell ich mir gar nicht so einfach vor, wo Sie doch sagten, Sie wären mit der gesamten Schulklasse nach Mader verschickt worden. Wie sollte denn Ihre Mutter das anstellen?
Sie musste natürlich einen Antrag stellen, warum sie mich zurückholen wollte und sie begründet ihn eben mit dem
Heimweh
ihrer Tochter! Und denken Sie sich: Unvorstellbar für die heutige Zeit war die Antwort des Amtes: … ein deutsches Mädchen hat kein Heimweh!
Dies werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Damals habe ich diesen Satz nicht voll verstanden. Was hatte es denn mit der Nationalität eines Kindes zu tun, wenn es schlicht und einfach Heimweh
nach der Mutter hat?
Und wie ging's dann weiter?
Ich hatte dann irgendwie alles in allem trotzdem Glück. Ich war ein sehr schlankes Kind - immer. Ich nahm aber vermutlich durch mein Heimweh Kilo um Kilo ab und bekam einen ernsten Hautausschlag am ganzen Körper. Der Arzt, der uns Kinder in diesem Heim betreute, lehnte die Verantwortung für mich für den Fall, dass ich weiterhin dort bliebe, ab, es sei denn, ich käme schnellstmöglich nach Haus. Da wir eine Schulabgänger-Klasse im Heim hatten, die im Februar 1941 nach Haus kam, bin ich mit dem Transport nach Hamburg zu meiner Mutter zurückgekommen. In der Obhut meiner Mutter habe ich mich dann auch sehr schnell wieder erholt. Der Hautausschlag - so etwas hatte ich weder vorher noch hinterher - war auch sehr schnell vergessen. Ich nahm trotz allem - na ja, wir wollen einmal sagen, viel gab es ja nicht zu essen, aber meine Mutter hatte aus wenig viel gezaubert -ich nahm also langsam, aber stetig grammweise wieder zu.
Ich war bislang der Meinung, dass die
Kinderlandverschickung
eine Art von Erholungskur für Kinder im so genannten Dritten Reich
war, dass aber ganze Schulklassen monatelang vielleicht auch jahrelang gewissermaßen von zu Hause weg- evakuiert waren, war mir bislang unbekannt.
Frau Plett, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
Grundlage der Kinderlandverschickung (KLV) war ein Führerbefehl von 1940.
Quelle: Rundschreiben des Reichsleiters M. Bormann an die obersten Reichsbehörden und Parteidienststellen vom 27. September 1940; Wiedergabe nach Dabel, G.; KLV-Lager 1940 bis 1945; Freiburg 1981, S. 7.