Die Franzosen als Besatzungsmacht
Als am 8. Mai 1945 der Krieg endlich zu Ende war, wurde in Berlin gefeiert. Die Russen hatten in dem Restaurant Falkentaler Steig Ecke Frohnauer Straße — das es heute noch gibt — eine Feldküche zur Versorgung der Soldaten aufgestellt. War die Speisung
beendet, wurde der Rest an die Bevölkerung verteilt. Auch wir standen in der Schlange mit Essgeschirr und Topf. Jeden Tag. Mein Vater ging mit uns in den Wald Pilze suchen und finden. Außerdem pflückten wir die Ebereschen, die viel Vitamine enthalten, aber ohne Zucker sauer sind. Zu Hause wurden selbst die Kartoffelschalen ohne Fett geröstet und verspeist. Pünktlich am 1.Juli 1945 begann wieder die Schule in Alt-Hermsdorf. Ein langer Weg bis zur Schule.
Eines Tages beobachten wir die Russen, die mit ihren Panjewagen mit den Pferden zum Tränken fuhren. Wir hielten sie an und fragten, ob sie uns zur Schule mitnehmen könnten. Das klappte und wir genossen
die Fahrt und bekamen manchmal noch Schokolade. Auch unsere Frage, ob sie uns nach der Schule wieder nach oben fahren könnten, wurde bejaht. Der Transport war also sichergestellt. In der Schule selbst hatte sich einiges geändert. Es wurden Vertrauensschüler gewählt, die den Lehrer unterstützten. In meiner Klasse war ein Schüler, der erklärte, Sohn eines Kommunisten zu sein und so von den ehemaligen Nazis verlangte, dass sie ihm täglich ihr Pausenbrot abzuliefern hätten. Als Druckmittel bediente er sich der stärksten Klassenkameraden, die ihn betreuten und selbst natürlich davon profitierten. Von dem besten Schüler, ein kleiner aber schlauer Junge, durfte er allein abschreiben.
Erst also die Nazidiktatur und nun die des Proletariats. Ich hatte nicht nur Hunger, sondern eine fürchterliche Wut. Einmal ergab sich die Gelegenheit, dass ich diesen Burschen außerhalb der Schule allein erwischte. Ich stellte ihn zu Rede und erklärte ihm, dass ich kein Nazi gewesen sei und genauso Hunger habe wie er, und das Pausenbrot mir nicht nur zustehe, sondern von meiner Mutter für mich zugeteilt wurde. Er lachte mich aus und sagte, ich soll das Maul halten. Das war zu viel für mich. Ich schlug zu und verprügelte ihn so, dass er zu heulen anfing. Von dem Augenblick an war alles geregelt. Jetzt war er allein, denn seine Gehilfen
hatten sich auch getrennt und der Musterschüler behielt sein Wissen für sich.
Neben unserem Haus am Falkentaler Steig stand ein unbewohntes Einfamilienhaus, das teilweise durch Bomben zerstört worden war. Wir Kinder der Straße spielten auch in der Ruine. Eines Tages sahen wir drei junge russische Soldaten auf dem Grundstück, die mit ihren Pistolen aus Zeitvertreib auf Ziegelsteine schossen. Wir bedeuteten ihnen, dass es besser wäre, auf Blechdosen zu schießen wie sonst mit Bällen, die auf Jahrmärkten nach Dosen geworfen wurden. Überall lagen leere Blechdosen herum, die wir schnell zu Pyramiden stapelten. Nun wurde gezielt auf die Dosen geschossen. Das machte richtig Lärm und Spaß. Ein Russe bedeutete mir, dass ich schießen sollte. Leichter gesagt als getan. Die große Militärpistole war mit einem Halfter an der Pistolentasche befestigt. Ich musste mich also ganz eng neben ihn stellen. Außerdem hatte ich bis dato noch nie mit einer Pistole geschossen. Ich nahm die schwere Waffe in die Hand, zog von oben nach unten und drückte ab. Mit dem Rückschlag hatte ich nicht gerechnet. Ich stürzte und riss den Russen mit um. Er lag unten und ich obendrauf. Einen Moment Ruhe und dann fing der Russe an zu lachen. Wir standen auf und umarmten uns. Die anderen lachten alle mit.
Wo der Falkentaler Steig rechts in Richtung Frohnau abbiegt, stand seinerzeit eine prächtige Villa mit einem riesigen Garten, die einem Arzt gehörte. Sein Sohn ging mit mir in dieselbe Klasse. Also trafen wir uns nicht nur, um Schulaufgaben zu machen, sondern auch, um die Freizeit zu genießen. Der Vater war viel gereist und lange Zeit in Afrika gewesen. Von dort hatte er Pfeil und Bogen mitgebracht. Im Garten stand eine riesige Schießscheibe aus Stroh geflochten, auf die geschossen werden musste. Der Bogen war so groß wie ich im Stehen. Keine leichte Aufgabe, aber es machte unheimlich Spaß. Anleitend stand uns natürlich der Herr Vater zur Verfügung. Und es gab Kuchen! Außerdem hatte mein Klassenkamerad eine sehr nette Schwester. So konnte man die Freizeit auch genießen.
Doch plötzlich änderte sich alles. Die Russen zogen ab und es folgten die Franzosen als Besatzungsmacht. Die Villa des Arztes wurde beschlagnahmt und aus dem Restaurant wurde ein Kasino für Offiziere. Wir erhielten Einquartierung in der Wohnung, mussten ein Zimmer an eine Französin im Militärdienst abgeben, die jeden Tag Besuch von Offizieren bekam. Klingelte es und meine Mutter machte auf, grüßte der Franzose mit Heil Hitler
und wartete nur darauf, ob meine Mutter den Gruß erwiderte. Da aber hatte er bei meiner Mutter Pech!
Eines Tages gab es Lärm aus dem Zimmer der Französin. In dem Zimmer, das eigentlich meiner Cousine gehörte, befand sich ein Wandbett in einer Nische. Zur Abdeckung führte unterhalb der Decke eine Stange entlang, an der ein Vorhang hing. Am Tage wurde der Vorhang gewöhnlich zugezogen. Einer der französischen Kavaliere wollte wohl seine Fähigkeiten unter Beweis stellen und hatte versucht, an der Stange Turnübungen zu vollziehen. Das aber hielt die Stange nicht aus und so stürzte der Knabe ab. Das tat weh!
Wie gewohnt erwartete die Bevölkerung jetzt vor dem Kasino die restlichen Speisen der neuen Herren
. Doch es geschah etwas anderes. Die Tür des Kasinos öffnete sich und zwei Soldaten trugen die Kübel mit dem restlichen Essen hinaus und schütteten es in den Rinnstein. Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett wateten sodann durch die Speisen. Große Enttäuschung über die Kultur der Franzosen.
Mein Onkel kündigte die Rückkehr seiner Frau und Tochter aus Bayern an. Wir mussten uns also ein neues Quartier suchen. Mein Vater hatte sich schon bemüht, vom Wohnungsamt die Zusage zu erhalten, eine Wohnung in Kreuzberg, und zwar am Urban, mieten zu können. Allerdings wohnten noch zwei Familien als Untermieter in der Wohnung mit insgesamt 5 Zimmern. Es handelte sich um eine sogenannte Offizierswohnung aus der Kaiserzeit. Die beiden Familien zogen bald aus und die Wohnung musste aufwändig saniert werden, denn überall waren noch Kriegsschäden, wie zum Beispiel eingedrückte Wände, vorhanden. Auch im Bad, das in der ehemaligen Speisekammer eingerichtet worden war, gab es Schäden, denn die Wanne stand nur auf Holzklötzen auf dem Bretterfußboden.
Im kleinen Zimmer nebenan, hörte ich plötzlich einen Schrei aus dem Bad. Meine Schwester war mit der Badewanne halb umgekippt. Offenbar hatte sich ein Holzklotz gelöst. In der Folge musste auch das Bad saniert werden. Dazu wurden die Bretter entfernt und man konnte die Balken und dazwischen Stroh als Dichtmaterial sehen. Zunächst durfte man zwar das Klo benutzen, musste aber auf den Balken bis dahin balancieren. Meine liebe Schwester saß also auf dem Thron
, als wieder ein Schrei ertönte. Als ich hinzueilte, sah ich, dass meine Schwester beim Aufstehen mit dem Fuß nicht auf den Balken, sondern daneben getreten hatte und somit den Durchbruch durch die Decke nach unten geschaffen hatte. Unten saß auch der Mieter just zu dieser Zeit auf dem Klo, als der Kalk von der Decke rieselte und ein Bein zu sehen war. Der war so erschrocken, dass er wie am Spieß schrie, weil er glaubte, dass die ganze Decke einstürzen würde.
Schöne große Räume, 3,80 m hoch mit Stuck rundherum und Durchgangstüren von Raum zu Raum. Wie bei den Fürsten. Dazu der weite Blick auf den Landwehrkanal. In den Zimmern die riesigen Kachelöfen, die allerdings bis zu 80 Briketts verschlangen
und doch kaum Wärme lieferten. Das war schon eine besondere Atmosphäre.
Wir schreiben also das Jahr 1946. Ach ja, meine Großmutter Marie, Stiefmutter meines Vaters, die während des Krieges bei unseren Verwandten in Schlesien wohnte, ist auf dem Treck nach Berlin gestorben und irgendwo am Straßenrand begraben worden.
Und noch eins. Ich hatte nie einen Kindergeburtstag. Am 24. Dezember waren alle Kinder zuhause. Nur meine Cousine Erika besuchte mich hin und wieder mit ihrer Tante, weil ihre Eltern in dieser Zeit das Fest vorbereiteten. Diese Verbindung hielt ein Leben lang. Mein Vater achtete aber darauf, dass morgens mein Geburtstagstisch gedeckt war.
10 Jahre meines Lebens im Schnellzug durchfahren, die aber nachhaltig die folgende Zeit beeinflussten. Nun der Neubeginn mit Konfirmandenunterricht in der Stadtmission, Schule und Lehrer ganz anderer Art, Ausbildung und viele Prüfungen sowie der Erwerb des Führerscheins der Klasse 1 gegen den Willen meines Vaters.
Insgesamt eine Zeit, die mich geprägt hat, wie die Liebe zur Natur und zur Literatur und daraus folgend der Hang zur Geschichte. Ein Volk, das keine Geschichte will, hat auch keinen Anspruch auf die Zukunft.
Tradition ist Bewahrung des Feuers
und nicht
Anbetung der Asche
(Gustav Mahler)