Die Vertreibungen zwischen 1923 und 1944/45
In Europa und vor allem in den deutschsprachen Ländern wird unter dem Stichwort Vertreibung
vor allem die Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden. Der gesamte Komplex wird oft nur im Zusammenhang der Diktaturen von Hitler und Josef Stalin gesehen, gehört aber zu den Folgen des Ersten Weltkrieges und der Durchsetzung des Nationalstaatsprinzips in den Pariser Vorortverträgen (Versailler Vertrag):
- die oben erwähnten Deportationen unter sowjetischer Herrschaft, unter anderem im Baltikum 1940 oder die Auflösung der Wolgarepublik 1941;
- die Vertreibung eines Teils der Juden aus Deutschland durch immer weitergehende Formen der Ausgrenzung seit 1933 bis 1941; danach wurden die Juden im deutschen Machtbereich ermordet;
- Deutschland: die deutsche Besiedlung von zuvor ganz oder teilweise polnischen Gebieten im Zweiten Weltkrieg (
Warthegau
) und die vorangegangene Vertreibung von rund 650.000 Polen im Jahre 1941 aus ihrer westpreußischen Heimat in das so genannte Generalgouvernement. Eine weitere, Vertreibungsaktion betraf 110.000 Polen im Raum der südostpolnischen Stadt Zamosc (beide Zahlen stammen aus ofzizieller polnischer Quelle von 2004). In beiden Regionen wurden dann Deutsche aus Osteuropa angesiedelt, darunter die Eltern des heutigen Bundespräsidenten Horst Köhler, der 1943 in der Nähe von Zamosc geboren wurde. Der Internationale Militärgerichtshof (Nürnberger Kriegsverbrechertribunal
) hat diese Vertreibungen nach 1945 als Kriegverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschlichkeit streng geahndet. Auch die Neuansiedlungen wurden als Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung bestraft (vgl Vertreibung und Völkerrecht). Aus Völkerrechtlicher Sicht kommt dieser Entscheidung große Bedeutung zu, weil Urteile internationaler Gerichtshöfe verbindliches Völkerrecht (hard law
bzw.ius cogens
) definieren und damit klargestellt wurde, dass die Vertreibung der Deutschen in den Jahren 1945 bis 1948 bereits zur Tatzeit gegen verbindliches Völkerrecht verstieß. - Die 1941 vertriebenen Polen konnten ab Anfang 1945 wieder in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückkehren. Es handelt sich damit um eine der wenigen vollständig wiedergutgemachten Vertreibungen in Europa. - die durch Hitler und Mussolini 1939 vereinbarte Umsiedlung der Südtiroler, die so genannte Option. Dabei wurden die Südtiroler gezwungen, zwischen der Aufgabe ihrer Heimat und der Aufgabe ihrer deutschen Sprache und Kultur zu wählen. Wer sein Volkstum behalten wollte, musste Südtirol verlassen. Unter dem Eindruck der intensiven Propaganda der beiden Diktatoren entschieden sich gut 83 Prozent für das Verlassen der Heimat. Nur ein weit kleinerer Teil musste Südtirol dann tatsächlich verlassen, fast alle konnten wieder zurückkehren.
- die durch Hitler und Stalin 1939 vereinbarte Aussiedlung von Deutschen aus Gebieten unter sowjetischer Herrschaft, insbesondere aus Estland und Lettland, sowie dem Balkan; die meisten von ihnen wurden in polnischen Gebieten (südliches Westpreußen, Posener Land
Warthegau
, vereinzelt auch in anderen Teilen Polens) angesiedelt. - Finnland/Karelien: Anfang der 1940er Jahre wurden die finnischen Karelier gleich zweimal vertrieben. Erstmals nach der Niederlage Finnlands im sowjetisch-finnischen Winterkrieg, dann - nach ihrer Rückkehr 1941 - erneut 1944 mit der Wiedereroberung Kareliens durch die UdSSR. Die Vertreibung der Karelier wurde auch nicht symbolisch wiedergutgemacht, Karelien ist heute ein Teil Russlands.
- Sowjetunion: Erzwungene Umsiedlung von Völkern, die als politisch unzuverlässig angesehen wurden, durch Stalins Regierung vor allem in der ersten Hälfte der 1940er Jahre. Hierzu gehört die Deportation der Tschteschenen, Inguschen, Krim-Tataren, Wolga-Deutschen, ingermanländer Finnen sowie vieler Esten, Letten, Litauer und Ukrainer. Alle diese Völker wurden innerhalb des sowjetischen Machtbereich deportiert. Den Krim-Tataren gelang Ende der 1980er Jahre die Rehabilitierung, ein großer Teil ist auf die Krim zurückgekehrt. Die polnische Volksgruppe in Litauen, im westlichen Weißrussland und in der Westurkraine (in der deutschen Literatur oft ungenau als
Ostpolen
bezeichnet), wurde teilweise nach Osten (Zentralasien) deportiert, teilweise 1945/46 nach Westen (Polen) vertrieben, teilweise konnte sie auch in ihrer Heimat verbleiben.
Die Flucht und Vertreibung der Deutschen (1944 bis 1948)
Bereits ab Sommer 1941 forderten die polnische und tschechoslowakische Exilregierung (Edvard Beneš)Nach einiger Zeit als Privatperson im Exil gründete Edvard Beneš in London im Jahre 1940 die Tschechoslowakische Exilregierung und beanspruchte das Präsidentenamt wieder für sich. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges wurde Beneš von den Alliierten schließlich als tschechoslowakischer Präsident anerkannt. Intensiv arbeitete er nun auf die Wiederherstellung der Tschechoslowakei in den Grenzen vor dem Münchner Abkommen und der möglichst vollständigen Vertreibung der insgesamt 3,4 Millionen Deutschen hin. in London Grenzkorrekturen nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland. Dies sollte ausdrücklich die Entfernung der deutschen Bevölkerung aus diesen Gebieten wie auch aus dem restlichen Staatsgebiet einschließen. Die Motive für diese Forderung waren vielfältig: Außer Macht- und Besitzstreben sollten die geforderten Gebiete eine Entschädigung für die Verluste an Gütern und Menschen während der Besatzungszeit bieten, wie es vor allem die polnische Exilregierung in London forderte. Zum anderen zielte insbesondere Stalin auf eine Verkürzung ihrer Westgrenze, um sie – im Falle einer neuerlichen Angriffs – leichter gegen Deutschland verteidigen zu können. Neben diesem militärstrategischen Argument konnte Stalin darauf hoffen, mit der Vertreibung und Enteignung von Millionen Deutschen Polen und die Tschechoslowakei dauerhaft von der Sowjetunion als Garantiemacht des neuen Status quo abhängig machen zu können. Mit diesem Kalkül hatte das zaristische Russland und später die UdSSR bereits im Nordkaukasus Vertreibungen als Mittel der Politik angewandt.
Die geforderte Vertreibung der Deutschen wurde mit ihrem Verhalten während der Besatzung begründet und mit dem Prinzip des ethnisch reinen Nationalstaates. Hinzu kamen, insbesondere in Polen, sozioökonomische Ziele. Weite Gebiete Ostmitteleuropas galten damals als überbevölkert. Die Verdrängung der Deutschen und (im Falle Polens) die Expansion nach Westen und Norden sollte auch dazu dienen, überschüssige
Menschen ansiedeln zu können. Aus heutiger Sicht ist dieses bereits von den Nazis verwendete Argument (Stichwort: Volk-ohne-Raum-Propaganda
) allerdings widerlegt. In vielen Teilen der Welt weisen dicht besiedelte Gebiete einen höheren Wohlstand auf als dünn besiedelte. Dies gilt auch im direkten Vergleich zwischen Deutschland und Polen. Infolge der Vertreibung leben in Deutschland heute doppelt so viele Menschen pro Quadratkilometer. Dennoch ist der Wohlstand Deutschlands deutlich höher.
Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 setzte Stalin die Abtrennung der bereits 1939 bis 1941 sowjetisch besetzten polnischen Ostgebiete an die UdSSR durch. Dies hat vielfach zu der Annahme geführt, die Annexion der deutschen Ostgebiete durch Polen sei von Anfang an als ein Ausgleich für den Verlust im Osten gedacht gewesen. Doch diese Erklärung wurde erst später Teil der sowjetischen Rechtfertigungspolitik. Die polnischen Ostgebiete waren mit Ausnahme der Region Lviv mehrheitlich weißrussisch und ukrainisch besiedelt, die Polen dort nur eine (allerdings millionenstarke) Minderheit.
Tatsächlich forderten seit 1939 nicht nur die polnischen Kommunisten erhebliche deutsche Gebiete ohne ihre angestammte Bevölkerung, sondern auch die bürgerlich-polnische Exilregierung in Londen, wenn auch in wesentlich geringerem Umfang (es ging um Teile Ostpreußens und Schlesiens). Die Forderung der Oder-Neiße-Linie gab es allerdings nicht. Im Nachhinein wurde versucht, die Annektionen damit zu rechtfertigen, dass Jahrhunderte zuvor Slawen in diesen Gebieten gesiedelt hatten und es sich daher um eine Wiedererlangung
ehemals polnischen Landes gehandelt habe.
Im Potsdamer Abkommen 1945 wurden die neuen Staatsgrenzen in Ostmitteluropa von den Aliierten allenfalls indirekt und vorläufig festgeschrieben, indem die Gebiete jenseits von Oder und Neiße polnischer Verwaltung unterstellt wurden. Bereits einige Wochen zuvor hatte die UdSSR die Verwaltung dieser Gebiete in einem einseitigen Akt an Polen übertragen. Außerdem findet sich in dem Protokoll der bemerkenswerte Hinweis, dass die Regierungen der USA und Großbritanniens bei einer kommenden Friedenskonferenz den sowjetischen Anspruch auf das Gebiet um Königsberg (nördliches Ostpreußen) unterstützen wollten. Für die übrigen Gebiete jenseits von Oder und Neiße fehlt ein solcher Hinweis in Bezug auf Polen.
Mit den Beschlüssen von Potsdam schien die den bürgerlich-antikommunistischen Exilregierungen gegebene Zusage zur Aussiedlung der Deutschen nun, angesichts des wachsenden Einflusses der Kommunisten in Polen und der Tschechoslowakei, nicht mehr zu gelten. Der Text des Potsdamer Protokolls (vgl. Potsdamer Abkommen) enthält daher nur wenige klare Formulierungen: Er bot der polnischen und tschechoslowakischen Regierung und ihrem Verbündeten Stalin die Möglichkeit, die bereits laufende Vertreibung als vereinbart zu betrachten, und dennoch den Westalliierten die ab dem Frühjahr 1946 auch genutzte Chance, sich auf die Behauptung zurückzuziehen, so sei es nicht gemeint gewesen. Die Umsiedlungen sollten in einer 'humanen' Art geschehen; tatsächlich führte die internationale Kontrolle dazu, dass die Zwangsaussiedlung ab Anfang 1946 in wesentlich geordneterer Form vor sich ging als in den Wochen und Monaten vor der Konferenz. Dennoch kam es auch danach noch zu zahlreichen Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung und sehr vielen Todesfällen in den Internierungslagern und Gefängnissen.
Bei den Vertreibungsgebieten handelte es sich um:
- an Polen durch die Alliierten zuerkannte Teile des ehemaligen Deutschen Reiches und Danzigs, wie (das südliche) Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, der Neumark Brandenburg, Schlesien;
- den nördlichen Teil Ostpreußens, von Stalin der russischen Teilrepublik angegliedert;
- Gebiete, die seit 1919 dem Deutschen Reich abgesprochen wurden, in denen aber nach wie vor viele Deutsche lebten (beispielsweise das östliche Oberschlesien);
- das zwischen Deutschland und Litauen lange umstrittene Memelland;
- weitere deutsche Siedlungsgebiete in den baltischen Staaten;
- das Sudetenland, also die nördlichen, südlichen und westlichen Randgebiete der böhmischen Länder (vgl. Tschechoslowakei);
- Gebiete der damaligen Sowjetunion, neben einer weitläufigen Streubesiedlung vor allem die deutsche
Wolga-Republik
; - mehrere Regionen in Südosteuropa, vor allem in Ungarn, Rumänien (Siebenbürgen, Banat), Kroatien (Slawonien), Serbien (Wojwodina) und Slowenien (Maribor (Marburg a.d.Drau), Ljubljana (Laibach), Cilli, Gottschee, s.a. Jugoslawien).
Etwas über 14 Millionen Deutsche waren zwischen 1944/45 und 1950 von Flucht und Vertreibung betroffen. Mehrere Hunderttausend wurden in Lagern inhaftiert oder mussten - teilweise jahrelang - Zwangsarbeit leisten. Die Anzahl der Vertriebenen
, deren Schicksal nicht geklärt werden konnte, betrug nach den beiden großen, im Auftrag des Deutschen Bundestages durchgeführten Untersuchungen von 1958 und 1965 rund 2,1 Millionen (vgl. Gesamterhebung). Mehrere Millionen Frauen aller Altersgruppen wurden vergewaltigt. Das gesamte private Eigentum der Ost- und Sudetendeutschen wurde entschädigungslos konfisziert, auch das öffentliche und kirchliche, deutsche Eigentum in diesen Gebieten wurde enteignet. Zu den 14 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen kamen vor allem ab Ende der 1950er Jahre über vier Millionen deutsche oder deutschstämmige Aussiedler.
Etwa 12 Millionen Ost- und Sudetendeutsche wurden bis 1950 in der Bundesrepublik und der DDR aufgenommen, und (sowohl im Westen als auch im Osten) verlangte dies von allen Beteiligten in den 1940er, 1950er und 1960er Jahren eine große Integrationsleistung. Durch die Bevölkerungsverschiebungen im großen Maßstab verdoppelten einige Länder, zum Beispiel Mecklenburg ihre Einwohnerzahl, vormals konfessionell homogene Regionen mit starken eigenen Traditionen, zum Beispiel Oberbayern und die Lüneburger Heide, besaßen nun große Bevölkerungsgruppen mit einem anderen Lebensstil und fremder konfessioneller Prägung. Zuweilen kam es zu ganzen Stadt- und Ortsneugründungen wie Espelkamp, Waldkraiburg, Traunreut, Geretsried oder Kaufbeuren-Neugablonz.
In den von Deutschen verlassenen Gebieten Polens wurden unter anderem ebenfalls umgesiedelte Polen aus dem ehemaligen Ostpolen (der Region Wilna, dem westlichen Drittel des heutigen Weißrussland, und der westlichen Ukraine (Wolhynien und Galizien) angesiedelt. Die aus diesen Regionen vertriebenen ca. 1,2 Millionen Polen reichten allerdings zahlenmäßig bei weitem nicht aus, um die deutschen Ostgebiete wieder zu bevölkern, denn in den an Polen gefallenen Gebieten waren vor der Vertreibung 8,3 Millionen Deutsche beheimatet, weitere 1,5 Millionen lebten in Gebieten, die bereits von 1919 bis 1939 zu Polen gehört hatten.
Den größten Teil der Neusiedler in den Oder-Neiße-Gebieten bildeten Polen aus den traditionell polnischen Gebieten (Zentralpolen
). Hinzu kamen rund 400.000 Ukrainer und eine etwas kleinere Zahl Weißrussen. Die Ursache dafür ist, dass auch westlich der heutigen polnischen Ostgrenze seit jeher eine bedeutende weißrussische und ukrainische Minderheit lebte und lebt, insbesondere in den Regionen Bialystok (Weißrussen) und Przemysl (Ukrainer). Diese Gruppen galten der polnischen Regierung nach 1945 als potenziell unzuverlässig bzw. als mögliche Argumente für neue sowjetische Forderungen an Polen. Deswegen wurde ein Teil von ihnen in Richtung Osten vertrieben (also aus dem heute polnischen Gebiet in die in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörenen Gebiete östlich des Flusses Bug), ein anderer Teil jedoch nach Westen, vor allem nach Niederschlesien und Hinterpommern. Diese innerpolnische Vertreibung dauerte von Ende April bis Ende Juli 1947, die verantwortlichen Politiker und Militärs nannten sie Aktion Weichsel
.
Zu den polnischen, ukrainischen und weißrussischen Neusiedlern kamen einige Zehntausend aus Ostpolen stammende polnische Zwangsarbeiter in Deutschland, die nach 1944/45 durch die Westverschiebung ihres Heimatlandes heimatlos geworden waren und nun in für sie fremden Regionen sesshaft werden mussten. Die von den Polen im Osten verlassenen Gebiete waren vor dem Krieg mäßig dicht besiedelt und wurden von einem Völkergemisch bewohnt. Nach der polnischen Volkszählung von 1936 betrug der polnische Bevölkerungsanteil in diesen später an die Sowjetunion abgetretenen Gebieten 36 Prozent. Allerdings hatte Polen seit 1919/20 intensiv versucht, den polnischen Anteil in diesen Regionen zu steigern. Schätzungen zufolge lag dieser Anteil dort im Jahre 1918 bei rund 25 Prozent, im Norden (weißrussische sowie litauische Gebiete in und um Wilna) war er höher als im Süden (Westukraine um Lemberg).
Heute wohnen in diesen etwas dünner besiedelten Gebieten nach dem Völkermord an der jüdischen Bevölkerung und der Vertreibung der meisten Polen, die dort oft die Oberschicht stellten, fast ausschließlich Weißrussen, Litauer, Ukrainer und Russen. Eine größere polnische Minderheit lebt bis heute in der Umgebung von Wilna.
In der an die Sowjetunion gefallenen Oblast Kaliningrad (bis 1945 das nördliche Ostpreußen mit Königsberg) wurden ebenfalls umgesiedelte Russen, Weißrussen und Ukrainer angesiedelt. Auch einige ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter strandeten auf dem Weg aus Deutschland nach Russland im ehemaligen Nordostpreußen.
Im Sudetenland wurden vor allem Tschechen aus dem Landesinneren sowie Sinti und Roma angesiedelt. Hinzu kamen als Repatrianten
bezeichnete Tschechen, die aus Familien stammten, die früher nach Frankreich, die USA oder in andere Länder ausgewandert waren.
Andere Vertreibungen zwischen 1944 und 1948
Ungefähr zeitgleich mit der Vertreibung von Deutschen aus Teilen Osteuropas, besonders aus den östlichen Gebieten des Reiches, fanden in Ostmitteleuropa weitere Vertreibungen bzw. ethnische Säuberungen
statt, etwa zwischen Polen und der sowjetischen Ukraine, von in der Slowakei lebenden Ungarn und andere.
- Die Umsiedlung bzw. Vertreibung von etwa 1,2 Millionen Polen in den Jahren 1944 bis 1946 aus den von der Sowjetunion beanspruchten polnischen Ostprovinzen der Jahre 1919/20 bis 1939 nach Polen und in die ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reiches,
- Istrien: Im Jahre 1945 wurden Zehntausende Italiener aus Istrien vertrieben und enteignet. Über die Zahl der Betroffenen existieren sehr verschiedene Angaben von ca. 30.000 bis 350.000. Womöglich bezieht sich die geringere Zahl auf die in Istrien beheimateten Italiener, die größere Zahl auf die Gesamtzahl der Italiener, die Istrien und die dalmatische Küste 1945 verlassen mussten, aber erst wenige Jahre zuvor dorthin gesiedelt waren. Im März 2004 erklärte sich Kroatien zu einer Entschädigung bereit, nachdem zuvor bereits Slowenien einer Entschädigung zugestimmt hatte. Die italienische Regierung hat dies zur Voraussetzung der EU-Assoziierung Sloweniens gemacht, obwohl mit dem Vertrag von Osimo im Jahre 1975 bereits eine gewisse Entschädigung geleistet worden war.
- Slowakei: Im Süden der Slowakei lebten bis 1945 rund 720.000 ethnische Ungarn (Magyaren). Sie wurden 1945 wie die Sudeten und Karpatendeutschen durch die Benesch-Dekrete enteignet. Etwa 120.000 wurden außerdem vertrieben. Heute leben noch 580.000 Ungarn in der Slowakei.Die Benesch-Dekrete sind in den ungarisch-slowakischen Beziehungen nach wie vor umstritten.
- Indien: Bei Erreichen der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947/48 und der Etablierung von Pakistan und der Indischen Union wurden Millionen Hindus und Moslems aus den mehrheitlich von Angehörigen der anderen Religionsgemeinschaft besiedelten Gebieten vertrieben. Dieser brutale
Bevölkerungsuastausch
betraf zwischen 14 und 15 Millionen Menschen. Etwas über 7 Millionen Moslems wurden von Indien nach Pakistan vertrieben, eine etwa gleich große Zahl Hindus aus Pakistan nach Indien.
Vertreibungen seit etwa 1948
- Im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskrieges von 1948/49 wurden rund 750.000 Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben bzw. nach ihrer Flucht an der Rückkehr gehindert. Die UNO sprach ihnen das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zu, was aber nicht verwirklicht wurde.
- Im Laufe der 1950er Jahre mussten mehrere Hunderttausend Juden oft unter erheblichem Druck ihre Heimat in den arabischen Staaten verlassen. Fast alle gingen nach Israel, manche auch nach Frankreich oder in die USA.
- Zypern: Nach der türkischen Intervention in Nordzypern ab dem 20. Juli 1974 wurden mehrere Tausend griechische Zyprioten in den Südteil der Insel vertrieben.
- Jugoslawien: Die als 'ethnische Säuberungen' bekannt gewordenen Vertreibungen innerhalb des ehemaligen Jugoslawiens in den Jahren 1991 bis 1995. Bereits während des Ersten Weltkrieges gab es Vertreibungen im Gebiet des späteren Jugoslawien. Es waren die ersten rein ethnischen Vertreibungen auf dem europäischen Kontinent seit der Völkerwanderungszeit bzw. seit der Umsiedlung mehrerer Tausend Sachsen durch Karl den Großen im 9. Jahrhundert.
- Weitere Vertreibungen in Afrika.
Motive für die Vertreibung der Deutschen und Polen 1944-48
Die Vertreibungen der Deutschen aus dem Osten hatte mehrere Ursachen:
- Die nationalsozialistische Expansions-, Raub- und Ausrottungspolitik Deutschlands während des Zweiten Weltkriegs hat die bereits belasteten, aber immer noch tragfähigen Beziehungen zwischen Deutschen und anderen Volksgruppen in Mittel- und Osteuropa, massiv zerrüttet, wenn nicht von Grund auf zerstört. Die als
Untermenschen
angesehenen und behandelten Völker wurden durch diese Politik in eine Position getrieben, in der nur noch der bewaffnete, aber vom damaligen Kriegsrecht nicht gedeckte Partisanenkampf gegen die deutschen Aggressoren als Mittel der Selbstverteidigung blieb. Mit der sich abzeichnenden militärischen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands bekamen die mit Ausrottung bedrohten Völker die Gelegenheit, sich für die ihnen zugefügten Verbrechen zu rächen. Der Besitz der Vertriebenen wurde dabei enteignet, konfisziert oder geplündert, so dass auch diese ökonomische Seite der Vertreibung, der Raubzug und die Bereicherungsabsicht, zu den eigentlichen Vertreibungsmotiven gezählt werden muss. Dies gilt entsprechend für sehr viele andere Vertreibungsphänomene. - Für einige der ost- und mitteleuropäischen (kommunistischen) Regierungen war die Vertreibung der Deutschen eine Gelegenheit, ihre Macht zu festigen (insbesondere in der späteren ČSSR). Es sollte aber auch der Kriegsvermeidung dienen. Mit der Vertreibung der Deutschen schufen einige kommunistische Nachkriegsregierungen außerdem - in Anknüpfung an ältere, keineswegs nur kommunistische Vorstellungen von ethnischer Homogenität - national weitgehend homogene Staatswesen. Das Ziel war, sich möglichst vieler Konflikte der Vorkriegszeit, die auf dem multinationalen Charakter dieser Staaten als Vielvölkerstaaten beruhten, zu entledigen.
- Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden die jeweiligen Bevölkerungsteile in diesen Staaten häufig zur Destabilisierung des jeweils anderen Gebiets instrumentalisiert und ließen sich instrumentalisieren (wie etwa die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins). In der Logik der Zeit wollte man künftige Gefährdungen durch national unzuverlässige Minderheiten als
fünfte Kolonnen
ausschließen. - Im Fall der später polnischen Gebiete ist die Vertreibung der Deutschen nicht losgelöst von der Vertreibung der Polen zu betrachten, die bereits 1943 beschlossen und 1944 in Angriff genommen wurde. Ohne den Verlust mehrheitlich polnischer Städte wie Wilna oder Lemberg wäre die Inbesitznahme von Städten wie Stettin oder Breslau, die sich weder auf altem polnischen Staatsgebiet noch innerhalb polnischen Siedlungsgebietes befanden, noch schwieriger gewesen.
Die Westverschiebung Polens auf Kosten des besiegten Deutschlands wiederum ist letztlich Folge der Weigerung Stalins, die 1939 aufgrund des Hitler-Stalin-Pakte erfolgte Teilung Polens in sowjetisches und deutsches Besatzungsgebiet wieder rückgängig zu machen und den Staat Polen in den Grenzen von vor 1939 wiederauferstehen zu lassen.
Die 1939 annektierten Gebiete (43 Prozent des ehemaligen Staatsgebietes) waren zum Teil bereits 1920/21 zwischen Sowjetrussland und Polen schwer umkämpft und verblieben nun bei der Sowjetunion, ihre polnischen Einwohner wurden zum großen Teil umgesiedelt.
Insgesamt rechnet man, dass im 20. Jahrhundert weltweit ungefähr 50 Millionen Menschen vertrieben worden sind, manche sogar mehrmals innerhalb nur einer Generation.
Vertreibung und Völkerrecht
Vertreibungen sind in jedem Falle völkerrechtswidrig. Sie verstoßen unter anderem gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907, gegen das Verbot von Kollektivausweisungen, gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker und gegen das Eigentumsrecht. Alle historisch belegten Vertreibungen waren mit Blutvergießen und Enteigungen verbunden. Doch selbst eine Vertreibung ohne Enteigung würde das Eigentumsrecht der Vertriebenen verletzen, weil diese Recht das Recht der Nutzung einschließt. Ein Vertriebener kann aber seine Immobilien nicht mehr nutzen.
Dem Regensburger Völkerrechtler Otto Kimminich gelang in den 1950er Jahren der Nachweis, dass das seit jeher geltende Völkerrecht das Recht auf die Heimat einschließt, auch wenn dieses Recht lange nicht explizit niedergeschrieben (positiviert
) wurde. Vor allem das Selbstbestimmungsrecht der Völker setzt das Recht auf die Heimat voraus, denn es bezieht sich regelmäßig auf diejenigen Gebiete, in denen eine bestimmte Nation oder Volksgruppe unangefochten und rechtmäßig die Mehrheit der Bevölkerung stellt. Letzteres setzt aber das Recht auf die Heimat voraus.
Soweit Vertreibungen eine hinreichend klar definierte Gruppe betreffen und mit der Absicht durchgeführt werden, diese Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, erfüllen sie außerdem den Tatbestand des Völkermordes im Sinne der UN-Konvention von 1948.
Vertreibungsverluste
Vertreibungsverluste gliedern sich in drei Kategorien:
- Verluste an Leib und Leben (vgl. Gesamterhebung),
- Materielle Verluste und wirtschaftliche Schäden,
- Ideelle und kulturelle Verluste.
Diese drei Verlustkategorien betreffen regemäßig drei Gruppen:
- Die vertriebene Bevölkerung,
- Die aufnehmende Bevölkerung und
- Die neu angesiedelte Bevölkerung (von deren politischer Vertretung regelmäßig die Vertreibung ausging).
Die Verluste der vertriebenen Bevölkerung liegen auf der Hand. Aber auch die aufnehmende Bevölkerung hat zumindest kurzfristig oft unter Vertreibungen zu leiden. So wurde die Hungersnot der Nachkriegszeit in Deutschland (Hungerwinter 1946/47) durch die erzwungene Aufnahme von Millionen Vertriebenen auch für die einheimische Bevölkerung massiv verschärft.
Aber auch für die neue Bevölkerung stellt die Vertreibung oft keinen echten Gewinn dar, da diese häufig selbst eher unfreiwillig in dieses Gebiet gekommen sind, entweder durch wirtschaftlichen Zwang oder durch Vertreibung aus anderen Gebieten. Außerdem besteht in der Neubevölkerung oft die Furcht, daß sich die vertriebene Bevölkerung das Land wiederholt, so dass wenig Neigung zu langristiger Standortsicherung besteht.
Bewältigung der Vertreibung der Deutschen
Die Aufnahme von rund 12 Millionen Vertriebenen in den vier Besatzungszonen Deutschlands in den Jahren 1945 bis 1949 stellte alle Beteiligten vor enorme Probleme. Zunächst ging es darum, das Überleben der Vertriebenen angesichts des schweren Mangels an Nahrung, Wohnraum und Kleidung zu sichern. Dies ist weitgehend gelungen, obwohl es in den Jahren bis ca. 1950 eine deutlich erhöhte Sterblichkeit infolge Unterernährung und Infektionskrankheiten gab. Überschlägige Rechungen gehen von einer zusätzlichen Sterblichkeit von 3 bis 3,5 Prozent im Laufe von fünf Jahren aus, sie betraf vor allem ältere, Kleinkinder und gesundheitlich vorbelastete Menschen.
Ab dem Jahre 1949 durften sich die Vertriebenen in der Bundesrepublik organisieren, in der DDR blieb dies bis 1989 strikt verboten, 1950 erfolgte der Zusammenschluss im Bund der Vertriebenen (BdV). In den 1950er und frühen 1960er Jahren bildeten die Vertriebenen eine vergleichsweise einflussreiche Interessengruppe. Die wirtschaftliche und soziale Integration dieser Gruppe, die fast ein Viertel der westdeutschen Bevölkerung ausmachte, gelang nicht zuletzt mit Hilfe des Lastenausgleichs bald besser als erwartet. Kehrseite der gelungenen Integration war eine deutliche und bis heute zunehmende Assimilation und damit ein zunehmender Verlust an kultureller Vielfalt der Bundesrepublik Deutschland.
Ab Mitte der 1960er Jahre nahm der politische Einfluss der Vertriebenenverbände deutlich ab, es gelang ihnen nicht, die faktsiche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Grenze im Jahre 1970 zu verhindern. In den 1990er Jahren spielte fast nur noch die von Bayern und der CSU unterstützte Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) eine Rolle als politische Kraft in Deutschland.
Die Debatte über den Vertreibungsbegriff seit den 1980er Jahren
Verwendung und genaue Bedeutung des Begriffs Vertreibung sind in Deutschland etwa seit den späten 1980er Jahren strittig, da die Abgrenzbarkeit zwischen (gewaltsamer) Vertreibung und (gewaltloser) Migration zunehmend in Frage gestellt wurde. Von einigen Politikern und Publizisten wurde die These aufgestellt, der Begriff der Vertreibung bezeichne lediglich ein Form von Zwangsmigration und komme in der internationalen Forschung überwiegend als deutsches Lehnwort (im Englischen: expulsion
bzw. expellees
) vor, während außerhalb Deutschlands sonst eher von Deportierten oder Flüchtlingen (refugees
) gesprochen wird. Hinzu komme die Konfrontation des Kalten Krieges, denn in jenen Nationen, die Flucht und Vertreibung der Deutschen ab 1944/45 veranlasst hatten, wähle man eher verharmlosende Begriffe, etwa das tschechische Wort odsun
(=Abschub
) und den Begriff Transfer
(=Überführung
). Auch innerhalb Deutschlands sei der Begriff der Vertreibung
und der Vertriebenen
nicht immer selbstverständlich gewesen. Tatsächlich herrschte anfangs der Flucht- und Flüchtlingsbegriff vor, zudem wurde in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR offiziell gezielt von Umsiedlern
bzw. ehemaligen Umsiedlern
und Neubürgern
gesprochen. 1950 waren dies dort etwa 4,3 Millionen Menschen.
Im deutschen Sprachraum bezeichnete der Begriff bis vor wenigen Jahren meist die Zwangsumsiedlung der deutschen Bevölkerung aus den ehemals deutschen Ostgebieten, dem Sudetenland und den ethnischen Mischgebieten Ostmittel- und Südosteuropas. Der Begriff Vertreibung bzw. Vertriebene
setzte sich erst Ende der 1940er Jahre durch und wurde nur in der Bundesrepublik zur offiziellen, auch gesetzlich fixierten Bezeichnung dieses Vorgangs bzw. der von ihm Betroffenen. Bis dahin wurden zwangsumgesiedelte Deutsche begrifflich nicht von der Gesamtheit der Flüchtlinge
(siehe Displaced Persons) unterschieden, zuweilen auch - im späten NS-Sprachgebrauch - als Evakuierte
bezeichnet.
Eine eigenständige Benennung dieser Gruppe als Vertriebene
sei, so der Einwand, weniger durch evidente Tatsachen gerechtfertigt gewesen, sondern sie sei eher der Logik juristischer und politischer Zweckmäßigkeit geschuldet: Zum einen besaßen sie – aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit (bei den Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten und aus dem Sudetenland) bzw. als Volksdeutsche
– einen anderen Rechtsstatus als nichtdeutsche Deportierte und Flüchtlinge. Zum anderen bot die Wahl dieses Begriffes mehrere politisch und sozial erwünschte Möglichkeiten: Er schuf eine Distanz zwischen deutschen Deportierten und den von den Deutschen Deportierten – Juden, Polen, Tschechen, Russen usw. Damit ermöglichte er in der Bundesrepublik einen Opferdiskurs, der eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erschwerte.
Dabei ist allerdings zu beachten, dass einige führende Vertreter der deutschen Vertriebenen, namentlich der Vorsitzender der Landsmannschaft Schlesien, Herbert Hupka, und der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Wenzel Jaksch, (Hupka bis nach 1970, Jaksch bis zu seinem Tode) Sozialdemokraten waren und die SPD die Rechte der deutschen Vertriebenen bis etwa zum Jahre 1964 - jedenfalls verbal - noch um einiges entschiedener vertrat, als CDU und CSU. Insbesondere vertrat die SPD jahrelang die Überzeugung, nicht nur die Vertreibung selbst sei ein Verbrechen gewesen, sondern sogar die etwaige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als neuer deutsch-polnischer Grenze wäre als ein politisches Unrecht, ja als Verbrechen zu bewerten. In diesem Zusammenhang steht auch die später oft zitierte Aufruf Willy Brandts, Herbert Wehners und Erich Ollenhauers zum Deutschlandtreffen der Schlesier im Jahre 1963: Verzicht ist Verrat, wer wollte das bestreiten. 100 Jahre SPD heißt vor allem 100 Jahre Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das Recht auf Heimat kann man nicht für ein Linsengericht verhökern. Niemals darf hinter dem Rücken der aus ihrer Heimat vertriebenen oder geflüchteten Landleute Schindluder getrieben werden!
Diese Haltung der SPD änderte sich allerdings ab etwa 1965. In seiner Regierungserklärung von 1969 gab Willy Brandt erstmals offen die Bereitschaft zur Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Grenze zu erkennen.
Gleichzeitig ließ sich durch die begriffliche Unterscheidung zwischen normalen
Deportierten und deutschen Vertriebenen die Forderung nach Revision der Oder-Neiße-Linie leichter aufrechterhalten; diese Forderung wiederum diente nicht zuletzt der Einbindung der Vertriebenen in die westdeutsche Nachkriegspolitik - so jedenfalls ein seit den 1990er Jahren zunehmend vertretenes Argument der politischen Linken in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat hingegen bis (mindestens) 1987 eine andere Rechtsauffassung vertreten: Danach wurden die (ehemals) deutschen Gebiete östlich von Oder und Lausitzer Neiße weder durch die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945, noch durch den Warschauer Vertrag von 1970 völkerrechtswirksam von Deutschland getrennt. Von diesem staats- und völkerrechtlichen Standpunkt aus, der allerdings in der Bundesrepublik Deutschland bereits ab etwa Mitte der 1970er Jahre zunehmend in Frage gestellt wurde, ging es in den 1950er und 1960er Jahren nicht um deutsche Gebietsforderungen an Polen, sondern um polnische Gebietsforderungen an Deutschland.
In der DDR dagegen wurden die Zwangsumgesiedelten als Umsiedler bezeichnet, ein gruppenspezifischer Sonderstatus im Sozialrecht wurde namentlich bei der Verteilung enteigneter Flächen bei der Bodenreform von 1946 und im Gesetz zur weiteren Verbesserung der Lage der ehemaligen Umsiedler in der Deutschen Demokratischen Republik
vom 8. September 1950 fixiert, blieb jedoch im Unterschied zum langfristig angelegten Vertriebenenrecht der Bundesrepublik nur bis in die frühen fünfziger Jahren relevant. Außerdem anerkannte die DDR bereits im Jahre 1950 im so genannten Görlitzer Vertrag die Oder-Neiße-Linie als Friedensgrenze
zwischen der DDR und Polen. Sämtliche im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der KPD legten gegen diesen Akt Rechtsverwahrung ein und bezeichneten ihn als null und nichtig
.
Es gibt aus der Sicht der politischen Linken dennoch Argumente, den Begriff Vertreibung als politisch aufgeladen aufzufassen und ihn daher nicht oder nur reflektiert zu verwenden. Die zeitgeschichtliche Forschung differenziert ohnehin zwischen aufeinander folgenden Ereignissen der Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung. Heute stellen einige Historiker das damit bezeichnete Phänomen unter den Oberbegriff Zwangsmigration. Dieser Sprachgebrauch lehnt sich an die Formulierung des damaligen Bundespräsidenten Richard v. Weizsäcker an, der in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 die Vertreibung der Deutschen als erzwungene Wanderschaft
bezeichnet hatte.
Ein völliges Fallenlassen des Vertreibungsbegriffs ist aber – angesichts seiner Verankerung im öffentlichen (nicht nur deutschen) Bewusstsein - auch aus Sicht der politischen Linken praktisch nicht möglich. Um so wichtiger und wünschenswerter erscheint ihr seine Einordnung in den Gesamtzusammenhang von Zwangsumsiedlungen im 20. Jahrhundert, wie er in jüngster Zeit verstärkt vorgenommen wird. Lange Debatten um Begriffe haben dabei faktisch wenn nicht den Zweck, so jedenfalls die Wirkung, politisch heikle Fragen wie die nach der Zahl der Morde und Vergewaltigungen bei diesem Geschehen an den Rand der Diskussion zu drängen.
Darüber hinaus erscheint der politischen Linken der Versuch fruchtbar, Vertreibung
und jede Form von Zwangsmigration im Rahmen des allgemeinen Migrationsgeschehens zu betrachten. Denn angeblich könne eine klare Trennung zwischen Zwangsumsiedlung, Flucht und freiwilliger
Migration häufig nicht vorgenommen werden. (Tatsächlich kann niemand logisch zwingend ausschließen, dass von den rund 14 Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen der Jahre 1945 bis 1948 manche demnächst ohnehin unter Aufgabe ihres gesamten Eigentums in Richtung Westen umgezogen wären.)
Zum anderen zeigen neuere Untersuchungen zur Integration der Vertriebenen angeblich, dass der Umgang mit und das Verhalten von Vertriebenen mehr Parallelen als Unterschiede zu anderen Migrantengruppen aufweist. Konkrete Unterschiede, wie etwa die von den deutschen Vertriebenen bis zum heutigen Tage erhobenen Forderungen nach Aufklärung des Schicksals von mehreren Hunderttausend spurlos Vermissten, Rückkehrrecht, Heimatrecht, Eigentumsrückgabe und Anerkennung ihres Schicksals als eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Sinne der Statuten des Internationalen Gerichtshofs von Nürnberg, dürfen nach dieser Sichtweise nicht über die großen Parallelen zwischen deutschen Zwangsmigranten
und ausländischen Zuwanderern in Deutschland hinwegtäuschen. Dennoch - so diese Sichtweise - werde man das Spezifikum der Zwangs-Migration auch weiterhin zu berücksichtigen haben.
Die Vertreibungen der 1990er Jahre in Bosnien, Kroatien und im Kosovo haben diese deutsche Diskussion wieder in den Hintergrund rücken lassen. Die Überzeugung, dass Vertreibung und Migration zwei grundlegend unterschiedliche Dinge sind, gewann wieder die Oberhand. Verbunden damit war die Rückkehr zum eingangs definierten Vertreibungsbegriff. So erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder in seinem Grußwort an den Tag der Heimat in Stuttgart vom 5. September 1999: Jeder Akt der Vertreibung, so unterschiedlich die historischen Hintergründe auch sein mögen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Literatur-Tipp:
Mehr zum Thema Vertreibung im und nach dem zweiten Weltkrieg lesen Sie im 2012 erschienene Buch Ordnungsgemäße Überführung
: Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, des irischen Historikers R.M. Douglas.
Gebundene Ausgabe: 556 Seiten
- Verlag: Beck; Auflage: 3 (31. Oktober 2012)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3406622941
- ISBN-13: 978-3406622946
- Originaltitel: Orderly and Humane. The Expulsion of the Germans after the Second World War