Wer wird Deutscher Meister?
Fußball ist nie mein Sport geworden, was wohl auf fehlende Anleitung und Trainingsmöglichkeiten in meiner Kindheit zurückzuführen ist. Aus dem Radio brüllten Reporter vor Begeisterung, wenn bei einem Länderspiel ein Tor für die deutsche Mannschaft gefallen war. An den Wochenenden hörte ich im Radio häufiger die Reportagen von den Bundesligaspielen. Dazu durfte das Radio mit dem magischen Auge in der Musiktruhe eingeschaltet werden und die ganze Familie fieberte mit der Mannschaft um den Sieg. Obwohl die Reportagen oft sehr spannend und leidenschaftlich von Starreportern wie Herbert Zimmermann vorgetragen wurden, konnte ich mich für Fußball nicht recht begeistern. Das lag vor allem am Fehlen eines geeigneten Balls und natürlich der Mitspieler. Die „Großen“, die regelmäßig auf der Wiese kickten, ließen uns drei bis vier Jahre jüngeren nicht mitspielen, weil der Altersunterschied sich vor allem in der Körpergröße sehr bemerkbar machte.
Eines Tages bekam ich von den Eltern zum Geburtstag einen ledernen Fußball geschenkt. Der war aus je drei quer- und drei längsliegenden braunen Rindslederstreifen zusammengenäht und hatte im Inneren eine Gummiblase mit Ventil. Dazu gab es auch eine Ballpumpe, nur die Mitspieler fehlten weiterhin.
Das änderte sich, wenn mein Cousin Klaus aus Wuppertal in den Ferien zu Besuch kam. Er hatte einen berühmten Namensvetter bei Schalke-04Klaus Fischer (* 27. Dezember 1949 in Kreuzstraßl bei Lindberg, Landkreis Regen) ist ein ehemaliger deutscher Fußballspieler und -trainer. Seine Glanzzeit hatte der Bayer in den 1970er Jahren mit dem FC Schalke 04, mit dem er Vizemeister und Pokalsieger wurde.Siehe Wikipedia.org und kickte in der Jugendmannschaft des Wuppertaler Sport-Vereins. Fußball war seine große Leidenschaft. Mein Lederball fand in Ermangelung eines modernen Balles in Wabenstruktur seine gnädige Zustimmung und schon dribbelte er mit dem Ball durch den Garten und auf der Straße. Meine Versuche, ihm den Ball abzunehmen, scheiterten meistens kläglich. Eines Tages kamen wir auf die Idee, auf der Straße vor unserem Haus ein Elfmeterschießen zu veranstalten. Im Abstand von zwanzig Metern wurden über die Straßenbreite zwei Tore mit Kleidungsstücken markiert, dann ging es los. Fußballschuhe, gar solche mit Stollen konnten wir uns nicht leisten, die hölzernen Klapperlatschen taten es auch. Mit Anlauf schoss ich auf das Tor meines Cousins, verfehlte den Ball aber knapp und traf mit dem großen Zeh einen scharfkantigen Backstein, der aus der Straße herausragte. Die Nebenstraßen waren zu der Zeit nicht asphaltiert, sie waren nur notdürftig mit dem plattgewalzten Trümmerschutt aus der Hamburger Innenstadt befestigt worden, der nach dem Krieg reichlich vorhanden war. Mein Zeh schwoll augenblicklich an und ich humpelte zu meiner Mutter zum verarzten. Reinigen und anschließendes Verbinden war eine sehr schmerzhafte Prozedur, vom Fußballspielen hatte ich für diese Ferien genug.
Viele Jahre später bekam ich Anfang der 1970er Jahre eine große und helle Neubauwohnung in Hamburg-Eidelstedt angeboten. Die Miete meiner ersten Wohnung in Norderstedt wurde regelmäßig jedes Jahr von der privaten Baugesellschaft erhöht, so machte der Umzug in eine Genossenschaftswohnung für mich Sinn. Von der Wohnung waren es nur zwanzig Minuten Fußweg bis zum Volksparkstadion. Mit einigen unserer neuen Nachbarn ging ich jetzt öfter ins Stadion, wenn der HSV ein Heimspiel hatte. Das machte großen Spaß und die Stimmung dort oben in der Ostkurve war immer gut. Die wahren Fans waren gegenüber in der Westkurve, Block E versammelt, dorthin trauten wir uns nicht. In der Ostkurve war die Stimmung sehr gut, nicht so aggressiv.
Für das letzte Spiel der Bundesligasaison 1979 hatte ich Karten bekommen und meinen Cousin aus Wuppertal nach Hamburg eingeladen. Stehplatzkarten für die Ostkurve hatte ich ergattert, das Station war für das Spiel am 9. Juni ausverkauft. Beim Auswärtsspiel am 2. Juni gegen Arminia Bielefeld hatte der HSV trotz eines enttäuschenden Null zu Null drei Punkte Vorsprung zum Tabellenzweiten, dem VfB Stuttgart und damit wegen der damals noch geltenden Zwei-Punkte-Regelung, die deutsche Meisterschaft bereits gewonnen. Auch das letzte Spiel im heimischen Volksparkstadion gegen den übermächtigen Rivalen Bayern München konnte, unabhängig vom Ausgang, daran nichts mehr ändern.
Mein Cousin aus Wuppertal ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen und wir beide suchten uns einen schönen Stehplatz, möglichst weit oben in der Ostkurve des Volksparkstadions. Die Stimmung war mitreißend, ohrenbetäubender Lärm füllte die Arena. Mehr als 60.000 Fans waren mit Trommeln, Pfeifen und Sirenen angereist und sorgten für Stimmung, wie ich sie im Station noch nicht erlebt hatte. Klaus und ich waren total begeistert, als der Spielausgang nach dem Ausgleichtor des HSV wieder offen war. Während der Halbzeitpause hatte sich auf der umlaufenden Aschenbahn etwas getan. Über zwanzig Mercedes-Benz-Cabriolets waren in das Stadion gefahren und hatten gegenüber der Haupttribüne Aufstellung genommen. Daimler-Benz wollte von der Meisterschaft partizipieren und für die neu vorstellte G-Klasse werben. Die Meisterspieler sollten in den Cabrios eine Ehrenrunde drehen und aus dem Stadion gefahren werden, so war der Plan.
Gegen Ende des Spiels tat sich in der Westkurve etwas. Die Menschenmasse wogte und drückte gegen den Zaun, das nahm beängstigende Züge an. Die Bayern hatten ein weiteres Tor geschossen, doch die Meisterschaft konnte das nicht mehr gefährden. Das Drama begann mit dem Schlusspfiff. Die wogenden Massen in der Westkurve drückten so gewaltig gegen den Zaun, dass dieser nachgab, umknickte und auf das Spielfeld kippte. Plötzlich hingen Menschentrauben an den Fußballtoren, bis auch diese nachgaben und wie Streichhölzer umknickten. Die Fans bedienten sich an den Trümmern, es sah so aus als ob sich jeder ein Andenken mitnehmen wollte. Die Fahrer der Mercedes-Cabrios hatten es nicht mehr geschafft, die Autos rechtzeitig nach draußen zu bringen, die Fahrzeuge verschwanden regelrecht unter den Menschenmassen, die sich darauf stürzten. Es herrschte Chaos! Der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger konnte gerade noch die Meisterschale an HSV-Kapitän Peter NoglyPeter Eiche
Nogly (* 14. Januar 1947 in Lübeck-Travemünde) ist ein ehemaliger deutscher Fußballspieler und -trainer. Er spielte von 1969 bis 1980 als Abwehrspieler beim Hamburger SV in der Fußball-Bundesliga (320 Spiele, 38 Tore). Mit dem HSV wurde er 1976 DFB-Pokalsieger, 1977 Gewinner des Europapokals der Pokalsieger und 1979 Deutscher Meister.Siehe Wikipedia.org überreichen, ehe die Fans, die vor der Haupttribüne aufgebaute Bühne enterten. Nogly wurde von den Fans auf Händen getragen, während die Spieler Fersengeld gaben und vor den nachrückenden Fans in die Kabine flüchteten.
Mein Cousin und ich versuchten, das Station auf dem Niedergang Richtung Ausgang Schnackenburgallee zu verlassen. Es herrschte ein solches Gedränge und Geschiebe, dass ich befürchtete, verletzt oder zertrampelt zu werden, falls ich stürzen sollte. Wir beide, Klaus und ich, duckten uns unter das massive stählerne Geländer in der Mitte des Niedergangs, bis die wilde Hammelherde an uns vorbeigestürmt war. Das bot uns einigen Schutz und wir gingen wieder nach oben in Richtung Haupttribüne. Dort angekommen hatten wir Aussicht auf das, was sich auf dem Rasen bot. In der Zwischenzeit waren Rot-Kreuz-Helfer mit Koffern und Taschen dabei, die vielen Verletzten zu versorgen, die beim Sturm auf den Rasen nicht so glimpflich davongekommen waren, als der Zaun nachgab. Die fast mannshohe Betonstufe zwischen dem unteren Ende der Stehplatzränge und der um das Spielfeld führenden Laufbahn stellte eine große Gefahr für die dort Stehenden dar. Durch den enormen Druck der Obenstehenden wurden die Menschen unten über die Stufe gedrückt und stürzten übereinander auf die Aschenbahn. Mehr als 100 Verletzte zählte man später, viele davon schwer. Es dauerte eine ganze Weile, bis die ersten Krankenwagen auf den Rasen fuhren, später landete dort sogar ein Rettungshubschrauber.
Das war das zweite MalLesen Sie auch: Hafengeburtstag
Im Mai 1964 feierte Hamburg den 775ten Hafengeburtstag. in meinem Leben, dass ich mich inmitten solch einer tobenden Menschenmasse befand. Solchen Situationen versuchte ich heute tunlichst aus dem Wege zu gehen, sie machen mir Angst. Zum Fußball bin ich seither nicht mehr in ein Stadion gegangen, überhaupt ist Fußball nie mein Sport geworden.