Nierentisch und Tütenlampen
Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte Mangel an allem. Wir wohnten in der englischen Besatzungszone und mein Vater hatte 1950 mit sehr viel Glück eine Siedlerstelle ergattert. Die Lebensmittelknappheit wurde durch Gemüseanbau im eigenen Garten gemildert. Auch der Mangel an Eiweiß und Proteinen konnte durch die Haltung von Kaninchen, Enten und Hühnern abgemildert werden. Manche Nachbarn hielten sich in ihrem Garten auch ein Schwein, das mit den Küchenabfällen gefüttert wurde. Anders als heute dauerte es, bis so ein Schwein schlachtreif war, denn mit Küchenresten, gekochten Kartoffeln, ohne Antibiotika oder Chemie ist keine Schweinemast im großen Stil zu machen.
Ein Stück Fleisch gab es höchstens einmal im Monat und dann am Sonntag auf den Teller. Meistens war es eins unserer eigenen Hühner, das dran glauben musste, weil es zu alt war, um noch Eier zu legen. Mein Vater nahm es dann mit in den Garten, wo der Hauklotz stand. Das kopflose Huhn bekam meine Oma zum Rupfen. Sie übergoss es mit kochendem Wasser, das löste die Federn, die sich dann leichter entfernen ließen. Anschließend wurde es lange gekocht, bis das Fleisch schön zart war und sich leicht von den Knochen löste. Mit etwas Gemüse aus dem eigenen Garten, vor allem Erbsen, Möhren, Sellerie und Porree, bereitete meine Mutter daraus eine köstliche Hühnersuppe. Außer Gemüse schwammen in der Suppe ein paar kleingeschnittene Hühnerfleischbröckchen und Muschel-, Sternchen- oder Buchstabennudeln. Anderntags gab es das restliche Hühnerfleisch mit Erbsen und Möhren auf Reis als Hühnerfrikassee.
Selten kam als Sonntagsessen auch mal eine Karbonade auf den Teller. Die kaufte meine Mutter beim Schlachter, der zwei Straßen weiter sein Geschäft hatte. Schweine wurden auf einem nahegelegenen Bauernhof mit Kartoffeln und Küchenabfällen gemästet. Die Karbonaden hatten damals einen dicken, leicht gelblichen Fettrand, wurden in Ei und Paniermehl gewälzt, dann mit etwas Margarine in der Pfanne gebraten, das schmeckte himmlisch. Das Paniermehl machte meine Mutter selbst aus dem trocken gewordenen Brot, das nicht weggeworfen wurde. Heutige Karbonaden brutzeln zu Karbonädchen
zusammen, schmecken fad und trocken. Auch haben sie keinen solchen Fettrand mehr, ich lasse sie in der Kühltruhe des Supermarktes liegen und kaufe gern etwas anderes, mir schmecken sie nicht mehr. Was damals meine kindlichen Geschmacksknospen prägte, gehört auch heute noch zu meinen Lieblingsgerichten, weshalb es mir auch schwerfällt, auf dem Wochenmarkt an dem Verkaufswagen des Hühnerhofes vorbeizugehen, ohne mich nach den Preisen für ein Suppenhuhn erkundigt zu haben. Oft muss dann ein solches Huhn mit und ich bereite ihm zu Hause gern sein Bad
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Für Reparaturen am und um das Haus wurde Material aus den unmöglichsten Quellen genutzt. In unserer Siedlung bestand zum Beispiel die Regelung, dass jeder Siedler seinen Garten einzäunen sollte. Um den Aufwand für alle gering zu halten, sollte jeder nur hinten und rechts einen Zaun bauen. Aber woher kam das Material dafür? Einen Baumarkt um die Ecke, wie heute, gab es nicht, und auch keine Fertigzaunelemente. Der Maschendraht wurde beim Futtermittelhändler bestellt und die Zaunpfähle kamen vom Schrottplatz. Dort ergatterte mein Vater mehrere Bettgestelle aus eisernen Winkeleisen, die er nach und nach mit dem Fahrrad nach Hause schaffte. Die Sprungfedern wurden entfernt und die Nieten der Rahmen mit Hammer und Meißel abgeschlagen. Übrig blieben die Winkeleisen, die als Zaunpfosten Verwendung fanden. Gegen den Rost strich mein Vater die Pfosten mit roter Bleimennige vor, dann lackierte er sie mit grüner Ölfarbe. Für den Sockel aus Beton kaufte er einen Sack Zement, damals noch in Säcken zu 50 kg. Der Sand dazu kam aus dem eigenen Garten. Mein Vater hob ein tiefes Loch mit dem Spaten aus. Nach einem Meter bereits kam feiner weißer Sand zum Vorschein, der sich nur mäßig gut für den Beton eignete, aber außer Arbeit nichts kostete. Eine Schaufel Zement mischte er mit fünf Schaufeln Sand und etwas Wasser, um den Zaunpfählen in ihren vorher ausgehobenen Löchern den notwendigen Halt zu bieten. Das Loch im Garten füllte er wieder mit allerlei Abfall, den übrig gebliebenen Sprungfedern von den Federrahmen und anderem Müll. Das entsprach der damaligen allgemeinen Praxis. Als mein Nachbar vor ein paar Jahren einmal in seinem Garten gebuddelt hatte, kam ein runder, eiserner Gegenstand zutage und er erzählte von seiner großen Angst, eine Fliegerbombe ausgegraben zu haben. Der Gegenstand entpuppte sich als Kotflügel eines VW-Käfers.
Ebenso wurden Bretter aus Abbruchhäusern und Ruinen wiederverwendet. Nägel wurden gezogen, mit dem Hammer gerade geklopft und wiederverwendet. Neu kaufen war wegen des permanenten Geldmangels verpönt, außerdem gab es nur wenige Eisenwarenläden, eine Tagesreise entfernt in der Stadt. So wurde aus dem Mangel eine Tugend und alles, was sich wiederverwenden ließ, wurde aufgearbeitet und zu einem neuen Leben erweckt.
Mutters Küche war auch so eine Recycling-Geschichte. Schränke waren alt und gebraucht angeschafft worden. Die Hängeschränke hatten eine konische Form, oben etwas tiefer als unten und die Türen liefen in einer Nut als Schiebetüren. Die alten Schränke wurden mit Schleifpapier glatt geschliffen, Beschädigungen gespachtelt und alles mit einer Vorstreichfarbe gestrichen. Den letzten Schliff
erhielten die Schränke mit dem Pinsel. Die Türen wurden verschiedenfarbig hellblau, rosé und beige gestrichen, das sah sehr farbenfroh aus und entsprach dem Zeitgeist der späten 1950er Jahre. Schwedenküche
nannte man diese farbenfrohen Einbaumöbel. Vor dem Einräumen wurden die Borde noch mit buntem Schrankpapier ausgekleidet, das von Heftzwecken gehalten wurde.
Nur der Blumenhocker wurde aus neuen Teilen gebaut. Es gab nämlich auch keine Möbelgeschäfte um die Ecke
, wo man hätte Möbel kaufen können. An der Ulzburger Straße gab es aber eine Tischlerei, die von zwei Schwestern geführt wurde. Mein Vater kaufte dort das Benötigte. Ein Stück Tischlerplatte aus mehrfach verleimtem Holz, ein Stück Resopal, Umleimer aus Plastik und drei gedrechselte Füße. In seiner Werkstatt, die sich im selbst erbauten Häuschen hinter Omas Stübchen befand und vorher als Hühnerstall diente, schnitt er die Holzplatte zu einem Dreieck mit abgerundeten Ecken zurecht. Schliff sie glatt und beklebte sie mit dem Resopal. Auf der Unterseite leimte er drei Klötze auf, welche die Füße aufnehmen sollten. Zum Schluss hat er noch mit einem Kontaktkleber den goldfarbenen Umleimer um die Kante geklebt und die gedrechselten Füße in die Klötze geschraubt. Fertig war ein Blumenhocker, der in Form und Aussehen dem Geschmack der 1950er Jahre entsprach und mit seinen konisch zulaufenden Beinen, unten mit einer Messingkappe versehen, gut zu den Nierentischen jener Zeit passte.
Als 1960 unser Haus durch einen Anbau vergrößert wurde, erhielt das neue Wohnzimmer zur Beleuchtung drei doppelarmige Wandlampen. Die gläsernen Lampenschirme verjüngten sich nach oben, sie waren wie eine Tüte geformt. Auch die farbenfrohe Stehlampe hatte diese Tütenform. Typisch für diese Zeit waren die Tapeten. Der letzte Schrei
waren zweifarbig tapezierte Räume, eine Wand weiß, die andere rot oder orange mit großen Sonnenmustern.
1960 wurde unser Haus um zwei Zimmer vergrößert. Baubeginn für den Anbau war erst im September 1960, doch schon zu Weihnachten haben wir unser neues Wohnzimmer eingeweiht. An Tapezieren war nicht zu denken gewesen, zu frisch und feucht war noch der Putz. So strich mein Vater mit einer, von ihm selbst angerührten Kalkfarbe die Wände zweifarbig. Rosé, wie die Küchenschränke, die andere Wand hellgrau.