Mein altes Dampfradio
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gründete die britische Militärverwaltung noch vor der deutschen Kapitulation am 4. Mai 1945 Radio Hamburg. Am 22. September wurde daraus der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR), die gemeinsame Rundfunkanstalt für die gesamte britische Besatzungszone.
1955 wurde der NWDR in zwei eigenständige Rundfunkanstalten aufgeteilt. Der Norddeutsche Rundfunk mit Sitz in Hamburg sollte Rundfunksendungen für die Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen produzieren, der Westdeutsche Rundfunk mit Sitz in Köln für das Land Nordrhein-Westfalen.
Soweit der Blick in die Geschichte der Sender. Meine eigenen Erinnerungen an den Norddeutschen Rundfunk und seine Sendungen beginnen erst sehr viel später mit meinem ersten eigenen Radio. Mein Vater war während des Zweiten Weltkriegs als Funker ausgebildet worden und auf einem U-Boot gefahren. Bei Kriegsende ist er in Plön in englische Kriegsgefangenschaft gekommen. Nach seiner Entlassung bewarb er sich als Funker bei der Hamburger Polizei, bekam aber eine Anstellung im Polizeidienst, weil nur dort Kräfte gebraucht wurden. So blieben ihm seine Kenntnisse in der Funk- und Radiotechnik nur zur Ausübung seines Hobbys erhalten.
Ich habe ihm fasziniert dabei zugeschaut, wenn er abends in der Küche das defekte Radiogerät eines Kollegen oder Bekannten aufschraubte und darin herumfummelte. Noch faszinierender war es, wenn ein paar Abende später wieder Stimmen und Musik aus dem Lautsprecher erschallten. Mit diesen Reparaturen hat sich mein Vater nach Feierabend ein kleines Zubrot verschafft und damit unser erstes eigenes Familienradio selber gebaut.
Und ich durfte ihm zuschauen, wie er aus einer Blechtafel ein Chassis fertigte, das er anschließend mit Radioröhren bestückte. Aus welchen Quellen er die gebrauchten Radioröhren bezog, weiß ich nicht. Er hatte aber aus den vielen Reparaturen eine Schurrmurr-Kiste
, wie er sie nannte, voller elektrischer Bauteile. Da waren Widerstände in verschiedenen Größen und Farben, Folien- und Elektrolytkondensatoren, Drehknöpfe, Radioröhren und viele weitere Bauteile, deren Funktionen mir rätselhaft waren. Defekte, unbrauchbare Folienkondensatoren bekam ich zum Spielen. Mein Vater zeigte mir, wie man die Aluminiumgehäuse öffnete, um an die aufgewickelten Folien heranzukommen. Zwei hauchdünne Aluminiumfolien waren, durch ein ölgetränktes Papier gegeneinander isoliert, stramm aufgewickelt in diesen Alugehäusen untergebracht und konnten eine elektrische Ladung speichern. Abgewickelt hatte man zwei wunderschön glänzende, lange Streifen, mit denen ich im Herbst meine selbstgebauten Flugdrachen verschönerte. Wie schön das in der Sonne blinkte und glänzte!
Den unangenehmen Geruch des ölgetränkten Isoliermaterials habe ich sehr viel später während meiner Berufsausübung in den mit Technik vollgestopften Telefon-Vermittlungsstellen wiedererkannt. Diese PCB-haltigen Kondensatoren wurden nach und nach ausgewechselt, da die Medizin inzwischen die Gefährlichkeit dieser Stoffe erkannt hatte. Die typischen Auswirkungen einer PCB-Vergiftung können das Auftreten von Chlorakne, Haarausfall, Einlagerung von Melanin in der Haut, Leberschäden, Fehlbildungen bei Embryonen und eine Schädigung des Immunsystems sein. Außerdem wird das über die Nahrung aufgenommene PCB mit einem erhöhten Risiko für Bluthochdruck in Verbindung gebracht. PCB-Anreicherungen in der Nahrungskette stehen in Verdacht, krebserregend zu sein.
Mit ungefähr zehn Jahren bekam ich zum Geburtstag dann mein eigenes Radio geschenkt. Das Gehäuse dafür war leider nicht rechtzeitig fertig geworden, so bekam ich erst einmal das nackte Chassis mit den Röhren und Drehknöpfen geschenkt und wurde ermahnt, nicht die Kontakte oder stromführende Drähte zu berühren. Einen Lautsprecher hatte das Radio nicht, aber Kopfhörer aus Bakelit mit einer Aluminiummembran. Gern bin ich dann abends früh zu Bett gegangen und habe mir die Sendungen angehört. Beim Einschlafen wurde ich aber oft unsanft geweckt, wenn mein Ohr mit der unter Strom stehenden Alumembran des Kopfhörers in Berührung kam. Ein elektrischer Schlag ließ mich hellwach werden und das Radio ausschalten.
Als die ersten Transistorradios den Markt eroberten, hörte mein Vater auf, Radios selber zu bauen, die Röhre hatte ausgedient. Das Umlernen auf die nun verstärkt zum Einsatz kommende Elektronik mit ihren völlig andersartigen Bauteilen ist meinem Vater schwergefallen. Röhrenradios konnte er noch reparieren, die neuen elektronischen nicht mehr. Die neuen Transistorradios konnten mit Batterien betrieben werden und wurden nun überall mit hingenommen. Besonders große und laute Koffergeräte, Ghettoblaster
genannt, waren auch bald mit Kassettentonbandgeräten ausgestattet.
1965 bekam ich zum Geburtstag ein modernes Transistorradiogerät von Telefunken. Es war zwar nicht zum Herumtragen geeignet, weil es einen Stromanschluss benötigte, hatte auch keinen eingebauten Radiorekorder, dafür aber Anschlüsse zum Anschließen von Stereolautsprechern, eine DIN-Buchse zum Anschließen eines Tonbandgerätes oder eines Kopfhörers. Ich erinnere mich an den ungewöhnlichen Namen, es hieß Telefunken Gavotte 1691
. Das Gehäuse war komplett aus Kunststoff, sah aber aus wie aus Nussbaumholz und entsprach damit dem Geschmack der 1960er Jahre.
An jedem Montagabend gab es pünktlich um acht das Niederdeutsche Hörspiel, das ich schon mit meinem alten Dampfradio auf UKW gehört hatte. Man hörte oft die Stimmen der Schauspieler des Hamburger Ohnsorg-Theaters. Besonders habe ich die markante Stimme von Henry Vahl geliebt. Auch die immer leicht albern wirkende Helga Feddersen habe ich gerne gehört, und natürlich wurden Texte von den bekannten Schauspielern Edgar Bessen, Heidi Kabel, ihrer Tochter Heidi Mahler, Karl-Heinz Kreienbaum, Christa Siems und vielen andern Volksschauspielern gesprochen. Diese niederdeutschen Hörspiele waren für mich das Highlight der Woche. Mitte der 1970er Jahre habe ich beim technischen Kaufhaus Brinkmann
in der Spitaler Straße ein Tonbandgerät Revox A77 erworben, mit dem ich dann die Hörspiele aufnehmen konnte. Später wurden sie auf Tonbandkassette überspielt und wenn ich einmal Zeit finde, werde ich sie digitalisieren und am Computer auf CD brennen. Lustiges und Nachdenkliches wurde vom NDR, Radio Bremen gesendet, aber auch Science-Fiction-Hörspiele, wie Dat Dings von baben
von Gerhard Bohde, wo unheimliche Dinge auf einer Nordseeinsel geschehen. Die Hauptfiguren Sophus und Sönke wurden von Jochen Schenck und Hans-Jürgen Ott verkörpert. Oder das Hörspiel Dwarslöpers
von 1976, wo Krabben zu wahren Monstern mutieren. Ich liebe solche Science-Fiction-Spinnereien. Im gleichen Jahr 1973 begannen die ersten Versuche mit dem Kunstkopf.
Für diese Hörspielproduktionen benötigte man zwingend einen Kopfhörer, um die Effekte der Kunstkopfstereofonie auch hören zu können. Im Aufnahmestudio wurde ein Aufnahmegerät aus Kunststoff, das einem menschlichen Kopf sehr ähnlich sah, aufgestellt und mit zwei Mikrofonen in den Hörmuscheln, den Ohren des Kunstkopfes, bestückt. Die Sprecher gingen um diesen Kunstkopf herum, sprachen ihre Texte mal von hinten, von oben, seitlich oder von vorn. Im Kopfhörer konnte ich diese Richtungswechsel gut nachvollziehen, die Aufnahmen entsprachen dem menschlichen Geräuschempfinden. Unwillkürlich drehte ich meinen Kopf nach hinten, weil von dort die Stimme sprach. Der Höreindruck entsprach perfekt dem natürlichen und gewohnten Hörempfinden. Leider war das Repertoire an Hörspielen für Kunstkopfstereophonie sehr begrenzt und die Beschränkung, dass der Effekt nur per Kopfhörer genossen werden konnte, ließ diese Hörspiele in kurzer Zeit wieder verschwinden.
Seit damals hat sich meine Vorliebe für gut erzählte Geschichten stetig weiterentwickelt. Die größte Sammlung befindet sich heute hier, in der Erinnerungswerkstatt. Nur sind es keine Fantastereien, sondern selbst erlebte Geschichten, Zeitzeugenberichte und Erinnerungen. Geschichten, die das Leben schrieb.