Moppedkauf zum Winterpreis
oder:
der Schneewinter 1978/1979
Während meiner Lehrzeit habe ich 1966 für 20 D-Mark mein erstes motorisiertes ZweiradLesen Sie von diesem Autor auch:
Moped-Träume und Traum-Mopeds erworben und restauriert. Dieses Kleinkraftrad NSU Quick 50 hat mir in den drei Jahren, die ich es fahren konnte, Mobilität und ein Gefühl von Freiheit gegeben. Verständlich, dass ich darauf nicht mehr verzichten wollte. Konnte ich dieses Gefährt mit 50 Kubikzentimeter Hubraum und 4,3 PS noch mit dem Führerschein der Klasse 4 fahren, war für die neue Maschine auch ein neuer Führerschein der Klasse 1 erforderlich, da sie mit ihren 27 Pferdestärken und 250 Kubikzentimeter Hubraum schon ein richtiges
und schnelles Motorrad war.
Getreu dem Motto unserer Industriegesellschaft höher, weiter, schneller
habe ich mich gegen Ende des Sommers 1978 nach einem größeren und noch stärkeren Motorrad umgeschaut. In der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs hatte die Firma Suck am Nagelsweg ein Motorradgeschäft mit Werkstatt und Verkaufsraum. Dort standen die chromblitzenden heißen Öfen
der Marke Harley-Davidson und hinterließen bei mir einen tiefen Eindruck. Leisten konnte ich mir so ein Mopped
Mopped - Synonym für das Motorrad, wird nur von den Fahrern gebraucht. Nicht zu verwechseln mit Moped (Fahrrad mit Hilfsmotor und Pedale) oder Kleinkraftrad. Die Kurzform Mopped
, beschreibt den Umgang mit einem Motorrad: Man fährt mit Motor los, kommt aber per pedes heim. Früher besonders bei Ausfahrten mit vielen Maschinen üblich; nach kurzer Zeit blieben die ersten liegen und fingen an zu schrauben - wer sein Mopped liebt, der schiebt! nicht, doch irgendwann vielleicht einmal? Der Wunsch musste zurückgestellt werden und es standen ja auch Motorräder anderer Marken zum Verkauf. Die Firma bot erschwingliche Zweiräder von Honda an. Mit 50 Pferdestärken und 500 Kubikzentimeter Hubraum gefiel mir eine CX500Die CX 500 war ein zwischen 1978 und 1986 angebotenes Mittelklasse-Motorrad der Kategorie Tourer des japanischen Herstellers Honda mit Kardanantrieb. Es war das erste Serienmotorrad, auf dem schlauchlose Reifen verwendet werden konnten. Sie ist auch unter ihrem Spitznamen Güllepumpe
, nach den Werner-Comic, bekannt., mit wassergekühltem Zweizylinder-Viertaktmotor und Kardanwellenantrieb war sie sehr wartungsfreundlich.
Die Maschine kostete nur ein Drittel einer Harley und ich bekam sogar noch einen Winterrabatt, da sie erst im Dezember geliefert werden konnte. Am 28. Dezember 1978 war es soweit, die Maschine konnte abgeholt werden. Mit meinem Lederkombi bekleidet, den Helm unter dem Arm, nahm ich die S-Bahn von Eidelstedt, meinem damaligen Wohnort, zum Hamburger Hauptbahnhof, um mein neues Motorrad abzuholen. Am Vormittag hatte es leicht zu regnen angefangen, der gegen Nachmittag zu einem starken Dauerregen wurde. Die Maschine sollte auf jeden Fall heute ausgeliefert werden, um dringend benötigten Platz im Lager der Firma zu schaffen. Ein Unterstellen bis zum Frühjahr, hätte den Winterrabatt aufgezehrt, und da ich mich nicht als Warmduscher
Motorradfahrerjargon: Warmduscher - Schönwetterfahrer, regenscheues Gesindel, auch Blümchenpflücker. bezeichnen lassen wollte, habe ich das neue Mopped nach Hause überführt. Wegen der Nässe und der neuen, noch sehr glatten Reifen bin ich sehr vorsichtig gefahren. Der Regen wurde merklich weniger und ich entschloss mich, gleich zu meinem Freund Gerd nach Bönningstedt zu fahren, um ihm mein neues Gefährt vorzustellen.
Gerd war begeistert und wollte gleich eine Probefahrt mit mir machen, also zog er sich seine alte Lederjacke an und setzte sich den alten weißen Halbschalenhelm mit den Lederriemen auf. So ausgestattet kletterte er auf den Sozius und wir brausten los in Richtung Bad Bramstedt. Das Wetter wurde aber auf halber Strecke so schlecht, dass wir umkehrten. Durch den dichten Wassernebel war kaum etwas zu sehen, es regnete jetzt in Strömen. Zurück in Bönningstedt gab es einen heißen Kaffee zum Aufwärmen, dann fuhr ich nach Hause. Die nasse Lederkombi habe ich nur mit Hilfe meiner Frau ausziehen können, so klebte die am Körper. Das Mopped stand erst einmal sicher auf dem Parkplatz vor dem Haus, mit einer Plane abgedeckt. Ich wollte es zwischen den Jahren nach Langenhorn zu meinen Eltern in die Garage bringen, wo es den Winter gut und trocken stehen würde. So war der Plan.
Doch es kam völlig anders. Am nächsten Tag, es war der 29. Dezember, schaute ich aus dem Fenster und traute meinen Augen kaum. Der Regen war in der Nacht in Schnee übergegangen und die Temperatur war von zehn Grad plus auf zehn Grad minus gefallen. Die Straßen waren von Blitzeis überzogen und spiegelglatt, darüber lag Schnee. Unmöglich und lebensgefährlich, bei diesen Straßenverhältnissen das Mopped in die Garage zu fahren. Als wenn das alles nicht genug wäre, hatte auch noch ein starker Wind eingesetzt, was zu Schneeverwehungen führte. An meinem letzten Arbeitstag im alten Jahr, am Freitag, 29. Dezember 1978, kam ich erst mit erheblicher Verspätung zum Dienst. Der öffentliche Busverkehr hatte seinen Betrieb wegen der eisglatten Straßen eingestellt und die Räum- und Streufahrzeuge kamen kaum durch. Da ich damals nur drei Kilometer von meiner Dienststelle in Stellingen entfernt wohnte, machte ich mich zu Fuß auf den Weg, um festzustellen, dass ich noch einer der pünktlichsten war. Mit dem Dienstfahrzeug Aufträge zu erledigen, war unmöglich, denn der Schneefall wurde noch intensiver und der Wind blies unverändert stark. Zum Feierabend hatte sich die Situation bereits so zugespitzt, dass kein Bus mehr fahren konnte und auch die Bahn ihren Betrieb einstellen musste. Nach Hause ging ich wieder zu Fuß.
Auch in der Nacht zum 30. Dezember schneite und wehte es ununterbrochen, die Temperaturen waren weiter gefallen und das Thermometer zeigte schon 15 Grad minus an. Warm eingepackt und mit dem Schlitten bin ich mit meinem zehnjährigen Sohn zum Rodeln in den Volkspark gegangen und wir hatten zusammen viel Spaß auf der Teufelsbahn
genannten, stark abschüssigen Straße, die als Rodelbahn nun ideale Wintersportverhältnisse bot. Anwohner hatten dort in den Abendstunden die Straße mit Wasser präpariert, sodass die Bahn jetzt spiegelglatt vereist war, das Steuern der Schlitten war kaum noch möglich und es schneite ununterbrochen weiter.
Silvester lag der Schnee in Verwehungen bereits meterhoch. Die Räumfahrzeuge blieben im Schnee stecken. Nebenstraßen wurden gar nicht mehr geräumt, und auf den Hauptstraßen gefror das Streusalz zu einer sulzigen Kruste, die sofort wieder vom Schnee überdeckt wurde. Die kleine Nebenstraße, in der ich mit meiner Familie wohnte, eine Sackgasse, war völlig zugeschneit, und die Kinder hatten ihren hellen Spaß, mit den Rodelschlitten auf der Straße zu rodeln, Autos fuhren nicht mehr. Zum ersten Januar wurde für die Nachbarstadt Norderstedt ein Fahrverbot ausgesprochen. Wir waren zum traditionellen Grünkohlessen an Neujahr zu den Eltern eingeladen und der Schneefall hatte etwas nachgelassen. Da die Hauptstraßen notdürftig geräumt waren, sah ich eine Chance, die knapp 20 Kilometer bis Langenhorn mit dem Auto fahren zu können. Die größte Schwierigkeit dabei war, aus unserer Nebenstraße herauszukommen. Andere hatten das auch schon versucht und mit ihren Autos Fahrspuren in den Schnee gegraben. Zur Sicherheit kam noch eine Schneeschaufel in den Kofferraum unseres Renault R5, dann ging es mit Anlauf durch die Schneewehen. Stehenbleiben hieß Steckenbleiben. Nach einer ungewöhnlich langen und schwierigen Fahrt kamen wir bei meinen Eltern an, wobei ich unwissender Weise das Norderstedter Fahrverbot verletzte, das für Hamburg nicht galt, weil der direkte Weg durch Norderstedt führte.
Nach Neujahr entspannte sich die Lage nicht wesentlich, obwohl der Schneefall nachließ. Man sah auf den Straßen nun Skilangläufer auf dem Weg zur Arbeit und zum Einkaufen. Nebenstraßen wurden in Hamburg nicht geräumt, die Räumfahrzeuge waren Tag und Nacht auf den Hauptstraßen im Einsatz, um dem öffentlichen Nahverkehr, der Feuerwehr, den Polizei- und Rettungswagen ein Fahren zu ermöglichen. Der private Verkehr musste dahinter zurückstehen.
Am Freitagabend5. Januar 1979, es war der Geburtstag meiner Frau, stellte ich mich, mit Schneeschaufel bewaffnet, an die Einfahrt zu unserer Nebenstraße und begann, Schnee von der Straße zu schaufeln. Jeder, der mit seinem Auto ankam, wurde angesprochen, morgen ab zehn Uhr in einer gemeinsamen Aktion unsere Straße vom Schnee zu befreien. Am nächsten Morgen waren wirklich viele gekommen und wir hatten gemeinsam einen Riesenspaß beim Schneeschaufeln. Die Frauen, die nicht mit schaufelten, kochten Tee mit Schuss oder backten Kuchen. Nach getaner Arbeit traf sich die Nachbarschaft im Fahrradkeller eines der Hochhäuser und feierte gemeinsam bei Tee und Kuchen die erfolgreiche Räumaktion.
Das Motorrad stand unterdessen auf einem angemieteten Parkplatz vor dem Haus und war mit einer Plane abgedeckt. Die Schneeberge darauf haben groteske Formen angenommen. Erst Ende April hätte ich die Maschine in die Garage überführen können, als es nicht mehr erforderlich war.
So ist mir diese Schnee-Katastrophe 1978/79 doch in guter Erinnerung geblieben, es hat sich gezeigt, dass Menschen in Not einander helfen können und auch bereit dazu sind, wenn es um einen sichtbaren Feind – in diesem Fall um den Schnee - geht, den es gemeinsam zu besiegen gilt.
Warum erlebe ich es jetzt, wo wir alle wieder einmal in Not sind, aber gegen einen winzig kleinen, unsichtbaren Feind kämpfen müssen, so ganz anders? Was bewegt Querköpfe, Impfgegner und Maskenverweigerer, sich derart unsolidarisch zum Rest der Menschheit zu verhalten? Trotz aller Ermahnung zu Hause zu bleiben, alle Treffen mit anderen Menschen abzusagen, geduldig zu bleiben, bis die meisten gegen das Virus geimpft sind, tobt das Wintersportgeschehen in Winterberg im Sauerland, weil dort ein wenig Schnee gefallen ist. Man darf ja nicht zum Skilaufen nach Ischgl. Von dort aber wurde das Virus im Februar zum Karneval in den Kreis Heinsberg, dem ersten Corona-Hotspot, getragen. Das ist gerade knapp ein Jahr her.
Haben wir daraus gelernt?