Der Ernst des Lebens
oder:
Chancengleichheit
„Jetzt beginnt für dich der Ernst des Lebens“. Mit diesen Worten versuchten mich meine Eltern auf den Abschied vom Müßiggang
, wie sie es nannten, und den Beginn der Schulzeit vorzubereiten. Vorbei die Zeit, die ich einfach nur vertrödeln konnte, da kam etwas Schlimmes auf mich zu, ließen die Worte meiner Eltern mich vermuten. Entsprechend nahm ich eine abwehrende Haltung zum Thema Schule ein. Das Schuljahr begann damals am ersten April. Da ich aber zwei Tage vor dem ersten April Geburtstag habe, wurde ich auf Empfehlung des Schularztes zuerst in den Schulkindergarten eingeschult, weil ich noch so klein und dünn war, Anlass für meine Verschickung zur Kinderkur nach HeiligenhafenLesen Sie auch meine Geschichte:Verschickung nach Heiligenhafen
. Der Schulkindergarten entsprach etwa der heutigen Vorschule und gab dem Ernst des Lebens
etwas Aufschub.
Am 19. April des Jahres 1955 war es dann so weit, meine Mutter hatte einige Vorbereitungen getroffen, um mir den ersten Tag zu versüßen. Ich bekam eine Schultüte, gefüllt mit allerlei Süßigkeiten, einen Schulranzen aus Leder und eine Brottasche zum Umhängen. Auch war in neue Kleidung investiert worden, Anorak, Hose, hohe Lederstiefel zum Schnüren und ein Hütchen mit Feder bekam ich zum Schulanfang. Ein paar Wochen vor der Einschulung ging meine Mutter mit mir an der Hand, gute drei Kilometer bis zur Hochbahnstation Langenhorn-Nord. Mit der Hochbahn
, so sagten wir damals, weil die Bahn bis zur Station Kellinghusenstraße teils auf Dämmen und Brücken hoch über der Erde fuhr. Ab Kellinghusenstraße ging es dann in den Untergrund. Am Stephansplatz stiegen wir aus und gingen die Treppe hoch zur Dammtorstraße, von dort zum Gänsemarkt und weiter zum Jungfernstieg. Hier begann unser Einkaufsbummel im Alsterhaus. Im Schuhhaus Salamander
nebenan suchten wir die passenden Schuhe aus, nein, keine modischen Halbschuhe, sondern welche, die ich in der kalten Jahreszeit und auch zur Schule tragen konnte, denn das Geld war knapp und Schuhe teuer. Also entschied sich meine Mutter für die hohen ledernen Schnürstiefel, ich hatte kein Mitspracherecht. Bei Salamander gab es Hefte mit den Abenteuern von Lurchi und seinen Freunden, die mir gut gefielen, das Wort Comic
war mir damals noch unbekannt. Der krönende Abschluss dieser Einkaufsfahrt war der Besuch bei Woolworth. In der Bekleidungsabteilung bekam ich ein Hütchen mit einer Feder dran. Anschließend gingen wir zusammen in den zweiten Stock des Hauses, denn in der dortigen Erfrischungshalle wurde für 40 Pfennige ein Teller TomatensuppeLesen Sie auch meine Geschichte:Tomatensuppe mit Sternchennudeln,
mit Sternchennudeln serviert.
oder: warum ich nicht gerne einkaufen gehe
Dann war es so weit, wieder an der Hand meiner Mutter, - und auch mein Vater hatte sich frei genommen -, ging ich mit Ranzen, Brottasche und Schultüte die drei Kilometer bis zur Schule zu Fuß und wurde eingeschult. Die Schulleiterin, eine schon ältere Frau, bestand auf der Anrede Fräulein
und hielt in der Aula vor den Eltern und neuen Schülern eine Ansprache. Auch in ihren Worten begann jetzt der Ernst des Lebens
. Zu Hause machte mein Vater sich über ihre Ansprache lustig, er hatte mitgezählt, wie oft Fräulein B. das Wort Freude
in ihrer Ansprache gebraucht hatte. Er äffte sie nach, ich freue mich, dass wir die Freude haben […] uns zu freuen
, und so weiter.
Täglich ging ich jetzt mit Schulranzen und Brottasche für die Pausenverpflegung drei Kilometer zur Schule und drei Kilometer zurück nach Hause, ein Stück an der langen und hohen Mauer des Krankenhauses Heidberg entlang. Die grob behauenen Steine der Mauer verführten mich schon damals, meine Kletterkünste auszuprobieren. An einem der Häuser war in meiner Augenhöhe ein kleines Fenster mit einem Gitter davor eingelassen. Mir fiel auf, dass die Scheibe hin und wieder beschlagen war. Ich blickte neugierig durch das Fenster. Drinnen gab's Geschrei, denn ich schaute den Schwestern im Souterrain beim Duschen zu – sie waren alle nackt!
Auch führte mein Schulweg unter großen, alten Buchen hindurch, die im Herbst ihre Eckern abwarfen. Bucheckern sammeln war meine große Leidenschaft, denn sie schmeckten unvergleichlich gut. All diese Tätigkeiten auf dem NachhausewegLesen Sie auch meine Geschichte:Schulweg über den Heidberg
brauchten natürlich ihre Zeit, und so kam ich manches Mal sehr verspätet nach Hause. Die elterliche Erziehungsantwort darauf war kaltes oder auch gar kein Mittagessen. Dann musste ich Kohldampf schieben bis zum Abend.
Die erste Klasse wurde geleitet von Frau Wraage. Sie war wesentlich jünger als die Schulleiterin, wurde aber, da sie verheiratet war, mit Frau
angesprochen. Ich habe sie als eine sehr freundliche Lehrerin in Erinnerung. Leider hatten wir sie als Klassenlehrerin nur bis zur vierten Klasse. Sie wurde von Frau R. abgelöst, die allgemein bei den Schülern nicht sehr beliebt war, uns aber bis zum Ende der Schulzeit erhalten blieb. Schularbeiten wurden immer mehr aufgegeben, die Nachmittage gehörten jetzt ebenfalls der Schule und dem Lernen. Auch kamen jetzt sehr interessante Fächer dazu wie Physik, Chemie, Biologie, Werken und Sport. Ich erinnere mich an den Fachlehrer L.-G. für die naturwissenschaftlichen Fächer und Herrn M. für den Sport. Der Letztgenannte ist mir wegen einer außerplanmäßigen Prüfung
in Erinnerung geblieben. Ein Mitschüler aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft hatte so seine Schwierigkeiten, den Lehrstoff aufzunehmen, und zu Hause auch kaum Unterstützung durch seine Eltern. Er war der Sohn von Ali Baba
Sein Spitzname nach den Geschichten aus Tausendundeine Nacht; Ali Baba und die 40 Räuber
.
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, so nannten wir Kinder den ungeliebten Nachbarn mit dem JagdscheinAls jemand,
, der uns das Fußballspielen auf der Wiese verbieten wollte, die an sein Grundstück grenzte. Eines Tages kam Herr M. während des Unterrichts in unsere Klasse und nahm Otto mit zu einer Prüfung.der einen Jagdschein besitzt
, wurde und wird umgangssprachlich und stigmatisierend auch bezeichnet, wer als nicht zurechnungsfähig eingestuft wird. Bis in die 1960er Jahre gab es den Paragraphen 51 StGB, durch den psychisch Kranke pauschal als strafunmündig eingestuft wurden. Etwas überspitzt formuliert konnte man frei schießen
, man hatte also den Jagdschein
. Dieser Paragraph wurde unter anderem durch § 20 StGB Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen ersetzt.
Von der Stunde an war Otto nicht mehr Teil der Klassengemeinschaft, es wurde gemunkelt, er hätte die Aufnahmeprüfung für die HilfsschuleHilfsschule
ist ein heute nicht mehr verwendeter Name für sonderpädagogische oder heilpädagogische Schulen in Deutschland. Sie unterrichteten auf der Basis der allgemeinen Schulpflicht Kinder, die man als nicht fähig zum Volksschulbesuch betrachtete. Heute werden sie Förderschulen für Lernbehinderte, oder Sonderschulen genannt. bestanden und würde ab sofort eine andere Schule besuchen. Ich weiß noch, wie sich meine Eltern darüber noch lange aufgeregt haben. Vor allem, wie diese Prüfung
vonstattengegangen ist, offensichtlich auch mit der Billigung der Schulleiterin. Ich höre noch meinen Vater, der sie mal wieder nachäffte: ich freue mich, dass wir die Freude haben, einen Schüler freundlichst auf eine weiterführende Schule schicken zu können
.
Ja, und dann kam auch für mich die Sache mit der weiterführenden Schule. Meine vier Jahre ältere Schwester hatte die VolksschuleDie in Hamburg durch die Wahl von 1953 bewirkte Rückkehr zum alten dreigliedrigen Schulsystem wurde bundesweit 1955 durch das Düsseldorfer Abkommen der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) bestätigt. Festgeschrieben wurde das dreigliedrige System mit Volks-, Mittelschule und Gymnasium. Auch in Hamburg wurde nun die Mittelschule
eingeführt, im Prinzip war dies aber nichts weiter als ein neuer Name für die ehemalige Technische Oberschule
. Als Schulform blieb sie weiter im Verbund mit der Volksschule bestehen. Als nach den Bürgerschaftswahlen von 1957 die SPD erneut den Senat stellen konnte, blieb die Struktur des Schulsystems unangetastet. bereits verlassen und war zur MittelschuleDer Begriff Realschule
war damals nicht üblich, die Mittelschule unterscheidet sich von einer Realschule durch ihre stärkere Betonung der Berufsorientierung durch praxisorientierten Unterrichtsansatz und die Einführung berufsorientierender Zweige Technik, Wirtschaft, Soziales. gewechselt. Für sie hatte das den Nachteil eines doppelt so langen Schulwegs. Statt der drei Kilometer bis zur Heidbergschule hatte sie sechs Kilometer zur Fritz-Schumacher-Schule zu laufen. Allerdings besaß sie schon ein Fahrrad. Ich erinnere mich an die Nachmittage, wenn meine Schwester noch an ihren Schularbeiten saß, während ich schon frei
hatte. Mit verheultem Gesicht saß sie über ihren Aufgaben, Tränen liefen über ihre Wangen. Meine Mutter saß dabei und half ihr bei den Aufgaben mit unerbittlicher Strenge, ich höre sie heute noch sagen, Na, ich höre was!
, jetzt reiß dich mal zusammen […] ich höre was […] geht das jetzt endlich in deinen Kopf?
Dann hat mir meine Schwester leidgetan, manchmal saßen beide noch über den Schularbeiten, wenn mein Vater nach Hause kam.
Meiner Lehrerin war aufgefallen, dass ich eine schnelle Auffassungsgabe
besitze und, so schrieb sie in ihrer Beurteilung weiter, komplexe Zusammenhänge schnell erfassen
würde. Ihre Empfehlung war daher, mich ab dem nächsten Schuljahr zur Mittelschule zu schicken. Für mich eine Katastrophe, so empfand ich es jedenfalls damals. Hatte ich mich doch mit recht geringem Aufwand durch das Schuljahr gekämpft, was mit den Noten gut, befriedigend und ausreichend honoriert wurde, mir blieb genügend Freizeit für meine Lieblingstätigkeiten. Jetzt sollte ich nicht nur einen doppelt so langen Schulweg, sondern auch noch erheblich mehr an Lernstoff und Schularbeiten aufgebürdet bekommen. Meine Eltern schürten meine Abneigung auch noch unwissentlich, indem sie meine Schwester zum Vorbild erhoben, was der geschwisterlichen Liebe nicht gerade guttat.
Meinen Mitschülern war nicht verborgen geblieben, dass ich nach dem Willen unserer Lehrerin die Schule wechseln sollte. Eines Tages wurde ich während der großen Pause von einem Mitschüler, der zwei Klassen über mir und auch einen ganzen Kopf größer und viel kräftiger war als ich, beim Verlassen des Schulgebäudes in den Schulgarten abgedrängt. Hier konnte uns der Lehrer nicht sehen, der gerade die Pausenaufsicht hatte. Nun begann der ältere Schüler, ich glaube, er hieß Rainer, mich während der ganzen Pause zu knuffen und zu piesacken. Am nächsten Tag ging es so weiter, wieder piesackte er mich während der großen Pause. Ein paar meiner Klassenkameraden hatten mitgekriegt, was da im Schulgarten lief, machten aber auch keine Anstalten, den aufsichtführenden Lehrer zu rufen oder mir in meiner Not zu helfen. Das ging die ganze Woche so weiter, er versuchte mich zur Gegenwehr zu treiben und verstärkte noch seine Schläge. Sollte ich mich mit ihm prügeln? Mit Sicherheit hätte ich hier den Kürzeren gezogen, ich dünner Spiddel
kam doch gegen den größeren nicht an. In meiner Not erzählte ich meinen Eltern von meiner Drangsal. Meine Mutter sagte dazu nichts, mein Vater kam in Rage und gab mir den Rat, meinem Peiniger eine reinzuhauen, bis das Blut spritzt
. Mehr bekam ich nicht als Hilfe, also musste ich mir selbst helfen. Ich entschloss mich zu einer defensiven Taktik, irgendwann musste es ihm ja auch mal langweilig werden. Einer meiner Mitschüler hat meine Tatenlosigkeit aber gründlich missverstanden und glaubte, mich jetzt ebenfalls triezen zu können. Burghard, so hieß er, schlug mich, als wir von der Pause in den Klassenraum zurückkamen. Ich drehte mich um und schlug ihm mit voller Kraft in den Magen, mit einem Schlag entlud sich meine ganze Wut. Burghard klappte wie ein Taschenmesser zusammen, lag auf dem Boden und schnappte nach Luft. Von diesem Tag hat mich niemand mehr angefasst, geschlagen oder getriezt, auch der ältere Schüler nicht. So etwas nennt man wohl einen Befreiungsschlag
.
Gegen Ende des Schuljahrs sollte für die Aufnahme an die Mittelschule eine Prüfung abgehalten werden, zusammen mit anderen Schülern aus den Parallelklassen. Und ich hatte einen Entschluss gefasst. Am Morgen des Prüfungstages, es muss bereits Herbst gewesen sein, denn die Bauernrosen an meinem Schulweg hatten reife und leuchtend rote Hagebutten angesetzt, habe ich die Kerne aus diesen Hagebutten gepult. Damit konnte man herrlich Späße machen, weil die kleinen Härchen der Kerne ein hervorragendes Juckpulver ergaben. Diese brachte ich mit zur Prüfung und verteilte das Juckpulver unbemerkt auf den Stühlen und Tischen. Ich muss nicht weiter ausführen, wie diese Prüfung ausging. Im Bericht stand nachher so etwas wie er lässt eine gewisse Reife vermissen und habe auf der Mittelschule nichts verloren
. Ziel erreicht und doch verloren, aber das habe ich erst viel später bemerkt.
Trotz allem habe ich meinen Schulabschluss gemacht, ohne mich dafür sonderlich anstrengen zu müssen, einen Beruf ergreifen können, der mir Spaß gemacht hat und auf dem zweiten Bildungsweg gelernt, was ich in der Schule versäumt hatte. Alles in allem bin ich mit dem Erreichten nicht unzufrieden. Denke ich an meine Schulzeit in den 1950er, 1960er Jahren zurück und was besser hätte laufen können, sehe ich heute noch die Schwierigkeiten eines Schulwechsels, wegen der enormen Wege und des damit verbundenen Zeitmangels, der mangelnden Mobilität und vor allem wegen der fehlenden Möglichkeiten, aus einer besseren Schulausbildung auch etwas zu machen. Heute scheint mir, sind die Verhältnisse besser geworden, viele junge Leute besuchen die OberschuleIn Westdeutschland wurde Oberschule
nach 1945 bis in die 1970er Jahre hinein als allgemeine Bezeichnung für das Gymnasium verwandt, ähnlich wie die Realschule umgangssprachlich auch Mittelschule
genannt wurde., jetzt Gymnasium genannt, und studieren anschließend. Das hätten meine Eltern damals nicht bezahlen können, außerdem lagen die weiterführenden Schulen viel zu weit entfernt. Wir hatten aber wenigstens das Glück, in Zeiten von Wirtschaftswunder
und Vollbeschäftigung zu leben, wer einen Schulabschluss hatte, fand auch eine Lehrstelle und einen Beruf, der ihn ernährte.
Otto habe ich sehr viel später, im Rentenalter, wiedergetroffen, er war nach seiner Schulzeit Bauhandwerker geworden und nun wie ich in Rente. Er lehnte am Zaun vor seinem Elternhaus, sah mich vorbeigehen, hat mich nicht erkannt, aber gefragt: Wull du wat an't Muul hebben
?
Dokumente zur Chronik der Heidbergschule;
Schriftverkehr mit der Schulbehörde von 1949:
- Zum Vergößern klicken … 1949 - Brief an Herrn Willi Schade zur Situation der Heidbergkinder …
- Zum Vergößern klicken … 1949 - Brief an die Schulbehörde zu Hd. Herrn Schulrat Dressel …