Von den Sommerferien in die Flammenhölle
Ich war mit Tante Erna in Petersroda bei Bitterfeld, in den Sommerferien 1943. Dort hörten wir von den Bombennächten in Hamburg und machten uns mit der Eisenbahn auf den Weg nach Hause. Wir kamen nur langsam voran. Auf vielen Bahnhöfen hatten wir stundenlange Aufenthalte, Fliegeralarm oder Soldatentransporte nach Osten stoppten immer wieder unseren Zug. Das Rote Kreuz versorgte die Reisenden mit Getränken und ab und zu gab es für uns Kinder ein Stück Obst.
Es war um die Mittagszeit, als wir nach drei Tagen erschöpft am Hamburger Hauptbahnhof eintrafen. Von dort fuhren wir mit der S-Bahn zum Bahnhof Sternschanze. Wir wollten in die Altonaerstraße, wo meine Tante wohnte. Als wir dort ankamen, sahen wir, dass sie gesperrt war und das Haus, in dem meiner Tante gewohnt hatte, lichterloh brannte. Ein paar Sekunden starrten wir auf die brennende Säule, dann nahm mich meine Tante an die Hand und sagte: Da ist nichts mehr zu retten, also auf zu deiner Mutter
. Über Trümmerberge, aus denen zum Teil noch Rauch aufstieg, kämpften wir uns zur Rentzelstraße durch.
Es war Nachmittag geworden, als wir das Haus, in dem ich mit meiner Mutter und Großmutter gewohnt hatte, erreichten. Es war nur noch eine ausgebrannte Ruine.
Wortlos standen meine Tante und ich davor. Sieh mal, da ist doch was in die Wand geritzt,
sagte meine Tante. Meine Mutter hatte die Worte Wir leben
mit einem Stein geschrieben. Tante Erna beschloss: Wir müssen jetzt nach Altona zu Tante Ilse.
Zu Fuß machten wir uns auf den Weg, Straßenbahnen fuhren nicht mehr. Es war gespenstisch und heiß wie in der Hölle. Die Hitze zwang uns immer wieder Pausen zu machen. Einige Straßen brannten immer noch, ganze Straßenzüge waren gesperrt oder durch hohe Trümmerberge unpassierbar. Wir mussten viele Umwege machen. Menschen gingen stumm an uns vorüber, jeder war mit seinem eigenen Schicksal beschäftigt.
Wir erlebten aber auch Gutes auf unserem Weg nach Altona. Von Bewohnern, deren Häuser stehen geblieben waren, erhielten wir Wasser und hin und wieder eine Scheibe Brot. Es war inzwischen Abend geworden und es war gut, dass das Grauen, das uns auf unserem Weg durch die Straßen immer wieder begegnete, nun im Dunkel lag. Erst sehr viel später hat meine Tante mir erzählt, dass verbrannte Leichen am Straßenrand lagen, die ich als Kind gar nicht wahrgenommen hatte.
Im Morgengrauen erreichten wir Altona, noch immer hielt meine Tante mich fest an der Hand.
War das eine Wiedersehensfreude! Wir waren alle gesund und unversehrt. Die Wohnung meiner Tante Ilse war nun erst einmal unser aller Zuhause. Ich habe meine Mutter, Großmutter und Tante Erna nie klagen hören, obwohl sie alles, was sie an materiellen Dingen besaßen, verloren hatten.