Meine Soldatenzeit,
das Kriegsende,
Gefangenschaft und Flucht
Nachdem der Zweite Weltkrieg nun schon zwei Jahre mit großen Erfolgen für Hitler und das Deutsche Reich andauerte, wurde ich als Soldat im Alter von 19 Jahren im Dezember 1941 zur Kraftfahr-Ersatzabteilung I der Garnison Osterode in Ostpreußen eingezogen.
Meine Schlosserlehre beim Reichsbahnausbesserungswerk in Osterode hatte ich nach dreijähriger Lehrzeit im März 1941 erfolgreich beendet. Die Lehrzeit wurde von vier Jahren auf drei reduziert, damit auch niemand den Endsieg verpasste
. Nach der Grundausbildung machte ich als Rekrut den Führerschein der Klasse II und wartete mit anderen Kameraden im April 1942 auf meinen Einsatz im Kriegsgeschehen. Ich kam zu einem Marschbataillon nach Neusiedel am See in Österreich, das damals Ostmark
hieß. Nach der Zusammenstellung einer Truppeneinheit ging es ganz schnell mit der Eisenbahn nach Russland. Ziel war der Mittelabschnitt der Front bei Orel. Bei der 14. Panzerjägerkompanie 462 J.R. -262 I.D.- einer österreichischen Division, die wir nach kräftezehrendem Vormarsch aufgefüllt hatten, kam ich zum Einsatz. Wir lagen südöstlich von Orel. Nach heftigen Stellungskämpfen in dem harten und kalten Winter 1941/1942, etwa im Februar 1943, begann an der gesamten Front der Rückmarsch.
Im Januar 1943 hatte ich zum ersten Mal Heimaturlaub bekommen. In dieser Zeit, die ich daheim verlebte, fiel Stalingrad. Seither wusste ich, dass der Krieg für Deutschland verloren und nicht mehr zu gewinnen war. Weit im Hinterland hatten die Sowjetrussen ihre neuen Armeen aufgebaut, denen wir, angeschlagen wie wir waren, wenig Widerstand entgegensetzen konnten. Da ich ja Eisenbahnfachmann war, wurde ich zur Inbetriebnahme einer Kleinbahnstrecke von Orel nach Wolchow, die zur Versorgung deutscher Truppen notwendig war, kommandiert. Ich kam nach Orel. Nach schweren Kämpfen im Mittelabschnitt wurde die deutsche Front weiter zurückverlegt. Nach den schweren Panzergefechten bei Witepsk löste unsere Einheit die dortigen Verbände ab. Der Transport mit der Eisenbahn brachte uns ein Stück der Heimat näher. Bis zur ostpreußischen Grenze war es von dort nicht mehr weit.
Am 15. Juli 1944, mittags gegen zwölf Uhr, befand ich mich auf der Rollbahn Kochnow – Dünaburg, nordwestlich von Wilna. Ein Infanteriegeschoss durchschlug meinen Oberschenkel. Es war meine erste Verwundung im Krieg. Nach der ersten Wundversorgung auf einem Feldverbandsplatz wurde ich zusammen mit anderen Verwundeten in einem Kohlendampfer auf der Memel bis Königsberg transportiert. Da wir uns im Angriffsbereich feindlicher Flugzeuge befanden, wurde nur nachts gefahren. Von Königsberg aus ging es mit einem Lazarettzug durch meine schöne ostpreußische Heimat bis nach Bad Wilsnak bei Wittenberge zur weiteren Versorgung und Genesung ins Lazarett. Erstmalig erlebte ich hier Fliegeralarm, Luftschutzbunker und Fliegerangriff. Amerikanische Flugzeuge überflogen den Ort in Richtung Berlin und anderer deutscher Großstädte. Nach sechs Wochen Aufenthalt im Lazarett, die Genesung war fortgeschritten und der Genesungsurlaub stand bevor, wagte ich mich einmal auf die Straße, wurde vom Oberstabsarzt gesehen und dafür zu drei Tagen geschärftem Arrest und einer Woche Ausgehverbot verdonnert. Als alter Fronthase glaubte ich nicht, dass es in der Heimat so streng gehandhabt wird. Ich wollte doch nur einmal richtige Menschen sehen und nicht immer nur Soldaten.
Ende August 1944 war ich dann auf Genesungsurlaub in Osterode/Ostpreußen. Es war mein letzter Aufenthalt in der Heimat. Die Stimmung war damals schon bedrückend. Als ich wieder zur Truppe musste, war es ein Abschied für immer, vor allem von meinem Vater.
Nach 21 Tagen Genesungsurlaub ging es nach Plauen im Vogtland (Sachsen) zum Ersatztruppenteil. Ich wurde auf der Waffenmeisterei beschäftigt. Die Waffen wurden von mir überholt und repariert. Mein Zugführer, Oberfeldwebel Schlagge, war ein guter Bekannter aus Osterode, der mich etwas bevorzugt behandelte, so dass ich mich nicht zu beklagen hatte. Sein Vater war früher Vorarbeiter bei der Reichsbahn gewesen, daher kannten wir uns. Übrigens, die drei Tage Arrest musste ich erst in Plauen absitzen. Das Ausgehverbot von einer Woche habe ich mit dem Oberfeldwebel Schlagge so richtig genossen, wenn man damals überhaupt etwas genießen konnte. Dort sah ich die Bomber der Alliierten nach Dresden, Leipzig und zu anderen Städten fliegen.
In der Kantine traf ich mal Horst Goldbach aus Osterode als zweiten Bekannten aus der Heimat.
Mitte Oktober 1944 wurde ich den Gebirgsjägern zugeteilt und wir wurden im Gebiet der Karparten (Hohentatragebirge) eingesetzt. Erstmalig erlebte ich die Schönheit der Berge, jedoch der Krieg machte das Gebirge zur ungewohnten Strapaze für mich. Ich war beim schweren MG-Bataillon. Wir hatten schwere Granatwerfer und Infanteriegeschütze. Ich erinnere mich an den Heiligabend 1944. Jeder hatte etwas organisiert und dann wurde Stellungswechsel gemacht, so dass aus einer Weihnachtsfeier nichts wurde. Der Einsatz bei dieser Gebirgsjägereinheit dauerte für mich nicht lange. Am 3. Januar 1945, gegen zwölf Uhr drängten die Russen uns zurück. Wer noch laufen konnte, lief zurück, die schwerverwundeten Kameraden konnten nicht mitgenommen werden. Mich rettete nur ein Lauf von 50 Metern und ein Sprung in ein ausgetrocknetes Flussbett mit dem Maschinengewehr unter dem Arm vor dem sicheren Tode. Dabei erlitt ich einen Fußdurchschuss. Trotz der Verwundung marschierte ich noch ein- bis eineinhalb Kilometer und meldete mich dann in der neu geschaffenen Auffangstellung. Ich übergab meine Waffen und ging zum Verbandsplatz. Dort wurden jedoch nur Schwerverwundete behandelt und versorgt. Alle, die noch laufen konnten, durften sich selbst in ein Lazarett ihrer Wahl entlassen.
Ein degradierter Feldwebel der Strafdivision Dirlewanger Oskar Paul Dirlewanger (* 26. September 1895 in Würzburg; † 7. Juni 1945 in Altshausen) war ein deutscher Offizier der Waffen-SS und Kriegsverbrecher. Er war Kommandeur einer nach ihm benannten Sondereinheit der Waffen-SS, die in großem Ausmaß an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt war. Ab dem 12. August 1944 hatte er den Rang eines Oberführers der Waffen-SS der Reserve.[1], die im Karpartengebiet sehr verlustreich eingesetzt war, nahm mich mit nach Senftenberg in der Niederlausitz. Der Fußdurchschuss, meine zweite Verwundung, heilte in knapp vier Wochen. Danach ging es wieder nach Plauen zum Ersatztruppenteil. Laut Radiomeldung war Ostpreußen schon gefallen, sodass ich Sorge um meine Angehörigen hatte und sie suchte. Ich schrieb nach Annaberg, Bärenstein, Kolberg, Marienburg, Aue, Freiburg und Flöhe sowie an andere Orte im Erzgebirge, die Flüchtlinge aufgenommen hatten. Dann musste ich wieder an die Front. Ich stand abmarschbereit auf dem Kasernenhof, als mich ein Lebenszeichen von meiner Mutter, meiner Schwester und der kleinen Evelin erreichte. Ich bekam jedoch keine Gelegenheit mehr, mich mit meinen Angehörigen in Verbindung zu setzen. Wir wurden verladen. Ich war jedoch ruhig, da ich wusste, dass alle lebten und wo sie etwa zu finden waren.
Ich kam zur 6. Armee SchörnerFerdinand Schörner (* 12. Juni 1892 in München; † 2. Juli 1973 ebenda) war ein deutscher Heeresoffizier (seit 1945 Generalfeldmarschall). Im Zweiten Weltkrieg war er Oberbefehlshaber von Armeen und Heeresgruppen sowie 1945 kurzzeitig der letzte Oberbefehlshaber des Heeres. Schörner galt als überzeugter Nationalsozialist. Er wurde in der Sowjetunion 1952 wegen Kriegsverbrechen und in der Bundesrepublik Deutschland 1957 wegen Totschlags an deutschen Soldaten verurteilt.[2], die im Gebiet der Tschechoslowakei (Sudetengau) eingesetzt war. Bei Lauban-Görlitz war mein letzter Fronteinsatz. Unsere Offiziere sprachen davon, dass wir bald gemeinsam mit den Amerikanern gegen die Russen vorgehen werden. Als wir hörten, dass am 8. Mai 1945 Waffenstillstand geschlossen war, gingen wir ohne Befehl am 9. Mai 1945 aus der Stellung in einen nahegelegenen Ort. Wir hörten dort, dass der Krieg beendet war. Überall hingen weiße Tücher aus den Fenstern der Häuser. Von Offizieren unserer Einheit war nichts mehr zu sehen. Die hatten sich in der letzten Nacht mit allen verfügbaren Fahrzeugen nach hinten abgesetzt, sodass sie in amerikanische Gefangenschaft kamen. Uns, die Kleinen, ließen sie für die Russen, immer unter dem Motto: Den Letzten beißen die Hunde!
Freund und Feind waren froh, dass der Krieg beendet war. Aber was jetzt kam, wusste keiner von uns. Der Leidensweg der Deutschen begann erst jetzt. Die Tschechen sagten uns, dass wir die Waffen wegwerfen und nach Hause gehen sollten.
Nichts Schöneres wollten wir hören und zerlegten unsere Waffen, warfen sie auf den großen Haufen. Doch schon in der nächsten Ortschaft trieben uns bewaffnete Tschechen zusammen und ließen uns in Richtung Prag marschieren. Wir waren jetzt Kriegsgefangene.
Der 9. Mai 1945 war ein sehr warmer Tag und der lange Marsch machte durstig und hungrig. Wir hatten weder etwas zu essen noch zu trinken. Es gab aber auch hier unter den Tschechen Menschen, die uns Eimer mit Wasser an den Straßenrand gestellt hatten, so dass man wenigstens den Durst stillen konnte. Unsere marschierende Kolonne wurde lang und länger. In der Nacht waren die Bewacher der Kolonne von uns etwas weiter entfernt als vordem. Zusammen mit dem Kameraden Erich Weigel, den alle nur Bubi
nannten, haben wir uns in den Straßengraben fallen lassen und versteckt. Als die Kolonne vorüber war, sind wir in den nahen Wald gelaufen. Im Tannengebüsch richteten wir unser Nachtlager, zumal wir nach den Strapazen des vorangegangenen Tages ziemlich fertig waren. Die Ruhe tat uns gut. Am Morgen wollten wir uns gerade auf den Weg machen, als ein Knacken im Gebüsch uns aufhorchen ließ. Da wir ja jetzt die Gejagten und ohne Waffen waren, versteckten wir uns. Wir entdeckten sechs Sanitäter einer SS-Division, die sich auch abgesetzt hatten und auf eigene Faust versuchten, über die Elbe zu gelangen. Nun waren wir acht Mann und es war schwerer unentdeckt weiterzukommen. Wir wollten alle zu den an der Elbe stehenden Amerikanern gelangen.
Je nach Lage marschierten wir nachts, aber auch am Tage. Wir mieden Ortschaften und Stellen, die eingesehen werden konnten. So schlugen wir uns fast eine Woche durch die böhmischen Wälder. Unsere Verpflegung war dürftig und ging zu Ende. In abgelegenen Bauernhöfen fragten wir und bekamen zu essen. Kurz vor dem Erreichen der Elbe hörten wir russische Sprachlaute. Unser Hunger war groß, da wir nichts mehr zu essen hatten. Und dann war es plötzlich so weit, dass wir auf einem Waldweg russischen Soldaten gegenüberstanden. Der Hunger hatte uns ziemlich widerstandslos gemacht. Was tun? Weglaufen war nicht möglich. Wir gingen also auf die in 50 Meter Entfernung stehenden Russen zu und ergaben uns. Die Russen sahen uns erstaunt an: Uhra, Uhra
, riefen sie. Nix Uhra
sagten wir und hatten auch keine Uhr am Arm gelassen. Zum Kommandanten gebracht, mussten wir uns gedulden. Mittagszeit war schon vorbei, aber der Rest aus der Küche gehörte uns. Es gab einen großen Eimer mit Reisfleisch. Danach waren wir alle satt. Jetzt schauten wir, ob es eine Gelegenheit gäbe zum Fliehen. Aber an der Elbe standen in Abständen russische Panzer, die auch nachts die Elbe ableuchteten, so dass es schier unmöglich gewesen wäre, hier durchzukommen. Ein russischer jüdischer Offizier erzählte uns, dass Hitler schlecht war, aber Russe gut. Nun wurden wir unter russische Bewachung gestellt. Es ging dann in ein kleines Lager nach Stari Boleslav (Jung Bunzlau), wo kranke und alte Leute und einzelne Versprengte waren. In den ersten Tagen machte man uns zum Vorwurf, SS-Angehörige gewesen zu sein. Morgens wurden wir unter Bewachung einzeln zum Waschen an den Brunnen geführt. Wir wurden laufend verhört, zumal ja in unserer Begleitung sechs SS-Angehörige als Sanitäter waren. Diese wurden einzeln zum Verhör abgeholt und sind dann verschwunden. Wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist. Wir beide hatten größte Mühe, den Russen zu erklären, dass wir nicht bei der SS waren. Auch fehlte ja bei uns die Blutgruppentätowierung unter dem Arm. Aufgrund des Soldbuches, das wir noch besaßen, konnten wir schließlich die uns verhörenden Offiziere überzeugen, nicht der Waffen-SS angehört zu haben. Erst als die SS-Leute fort waren, trat etwas mehr Ruhe im Lager ein. Wir durften uns nun zum Arbeitseinsatz melden. Ich tat es immer freiwillig. Es waren Straßensperren zu beseitigen, Wohnungen von Nazis auszuräumen. Auch Ofentransporte und Leichenkommandos habe ich mitgemacht. Überall gab es dabei etwas Neues zu hören und zu organisieren. Am besten war das Entladen von Salz aus Eisenbahnwagen, zumal Salz damals ein rarer Artikel und ein gutes Geschäft mit der Zivilbevölkerung war.
Das Lager wurde bald zu klein, so dass man uns in eine Kaserne verlegte. In der einen Hälfte waren Tschechen, in der anderen Russen untergebracht. Wir wurden in die früheren Pferdeställe verfrachtet.
Als Handwerker gesucht wurden, habe ich mich freiwillig gemeldet. In der Werkstatt hatte ich mehr Freiheit und kam überall hin. Es wurde gestohlen, was nicht niet- und nagelfest war, denn die anderen Kameraden hatten ja nicht das Glück etwas organisieren zu können. Was wir abstaubten, wurde auch redlich geteilt. Wer arbeitete, dem ging es gar nicht so schlecht. Im Herbst 1945 wurden Soldaten zum Ernteeinsatz gesucht. Ich meldete mich und wurde von einem Bauern in einen etwa fünf Kilometer entfernten Ort, gemeinsam mit einem Kameraden, abgeholt. Eine sudetendeutsche Familie mit drei Kindern war gleichfalls dort, mit der wir auf dem Hof eine Gemeinschaft bildeten. Während uns als Gefangene die Erntearbeit nicht so sehr am Herzen lag, taten die Sudetendeutschen ihre Arbeit wie verlangt, weil sie hofften, dadurch ihre Heimat erhalten zu können.
In der Nähe war ein russisches Pferdelazarett. Wenn die Russen kamen, um Klee für ihre Pferde zu holen, war es für uns immer ein Feiertag. Die Russen klopften uns auf die Schultern wie alten Freunden und gaben in der Gastwirtschaft einen für uns aus. Weil es Russen waren, durften oder trauten sich die Tschechen nichts dazu zu sagen. Für die Sudetenfamilie sorgten wir, so gut es ging. Wir organisierten Kartoffeln und fanden bald heraus, dass auch Hühner- und Putenfleisch gut schmeckte. Nachdem die Ernte eingebracht war, mussten wir zurück ins Lager. Für die Sudetenfamilie war es ein Trauertag. Nach wenigen Tagen im Lager ging es zu neuem Einsatz.
Es war für mich die letzte und wichtigste Arbeitsstelle. Ein Eisenwarengeschäft, das auch Haushaltswaren und Baumaterialien vertrieb, suchte zwei Gefangene. Wir meldeten uns und waren gleich die Richtigen. Es waren nicht immer leichte Arbeiten, die wir zu verrichten hatten. Die Arbeit bestand darin, alle Geschäftsräume und den Hof zu reinigen und Eisenwaren und Baumaterial vom Bahnhof zu holen. Dafür bekamen wir pro Tag ein Brot. Es war teuer verdient. Im Winter 1945 wurden die groben Arbeiten weniger. An kalten Tagen bündelten wir Laubsägeblätter und andere Verkaufsartikel in einer Ecke des Geschäfts. Weihnachten stand vor der Tür. Es sollten traurige Weihnachten werden, aber – Gott sei Dank – wenigstens nicht im Lager.
Wir hatten keine Verbindung zu unseren Angehörigen und keine Hoffnung, in Kürze nach Deutschland zurückzukommen. Am Heiligen Abend wurden wir von unserer Betreuerin, einer älteren Tschechin, ins Haus gerufen. Wir erhielten vom Chef an der Treppenhaustür ein Taschenmesser, einige Rasierklingen und ein warmes Essen als Geschenk. In unserem Verschlag, den wir gemeinsam bewohnten, machten wir es uns so schön und gemütlich wie es eben ging. Dazu gehörte auch ein warmer Ofen.
Das Jahr verging. Was bringt uns 1946?
, war die bange Frage. Die Monate Januar und Februar vergingen mit viel Eis und Schnee. Im Monat März kam der Lehrling, der ganz gut deutsch sprechen konnte, und erzählte uns folgendes: Der Chef und der Lagerleiter kannten sich gut. Als der Lagerleiter sich nach uns erkundigte, beklagte sich der Chef über mich, weil er mit mir nicht zufrieden war. Daraufhin wollte wohl der Lagerleiter mich ins Lager zurückholen. Ich sprach daraufhin mit dem Chef und erklärte ihm, dass ich eine neue Hose brauche. Die bekäme ich nur im Lager und verlangte, ins Lager gebracht zu werden. Dieses wurde mir gewährt. Ich wollte aber nur im Lager hören, ob es den Tatsachen entsprach, was mir der Lehrling erzählt hatte. Im Lager wurde mir eröffnet, dass ich sowieso ins Lager zurückkomme und deshalb keine neue Hose bekäme. Es ergab sich aber kurz danach eine ganz neue Situation.
Bei Lagerarbeiten hinter dem Geschäft, wo auch Tschechen wohnten, wurde ich von einem alten Mütterchen herangerufen, das mir viel erzählte, was ich aber nicht verstand. Die Frau zeigte mir ein Passfoto. Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen; es war das Bild meiner Mutter. Auf der Rückseite war ihre jetzige Anschrift angegeben. Das Bild befindet sich im Original in meinem Besitz. Beim Bericht meiner Schwester Ursula: So habe ich meinen Bruder gefunden!
Lesen Sie auch diesen Zeitzeugenbericht. Klick … Meine Fragen hat das Mütterchen auch nicht verstanden. Ich konnte mich auch nicht so lange aufhalten, da es Zivilpersonen verboten war, sich mit Gefangenen zu unterhalten. Ich glaubte nun an ein Wunder und erzählte von dieser Begegnung meinem Kameraden Albert Ohs. Nun durften wir nicht auf weitere Wunder warten, sondern mussten etwas unternehmen. Wir waren uns jetzt einig, dass wir fliehen wollten. Wir trafen also Vorbereitungen für die Flucht und besorgten uns zur Orientierung eine Karte. Ein Vorrat an Brot wurde angelegt.
In der letzten Märzwoche mussten wir das Lager und die Büroräume säubern. Da standen uns zwei Fahrräder im Weg
, die wir auf den Hof stellten und vergaßen
, sie wieder an ihren alten Platz zu stellen. Wir dachten uns, dass wir eine solche Gelegenheit nicht so bald wieder bekommen würden. Es fand eine Generalprobe für die Flucht statt: Regale wurden abgebaut und Drahtrollen, die die Tür versperrten, abgeräumt. Einen Dietrich für die verschlossene Tür hatte ich schon besorgt. Nun wurde wieder alles an seinen gewohnten Platz geräumt, damit unser Plan nicht vorzeitig verraten wurde.
Am Sonnabend, dem 30. März 1946 sollte es losgehen. Sonntags war für uns Feiertag. Wir aßen und schliefen viel. Ab Sonnabendnachmittag war immer einer von uns beiden auf dem Hof, um zu beobachten. Unsere Betreuerin brachte uns dann unsere letzte Mahlzeit. Die beiden Chefs, die Junggesellen waren, gingen abends aus. Die Wirtschafterin wohnte außerhalb, so dass wir alleine waren. Natürlich waren wir innerhalb des Hofes eingeschlossen. Als Ruhe einkehrte, begannen wir mit dem Abbau der Regale und machten die Tür zur Straße frei. Die Fahrräder waren bepackt mit Wäschebeutel, Zeltplane, Schlafdecke und Verpflegung. Damit wir wie Zivilpersonen aussahen, nahmen wir aus dem Büro einen Mantel und einen Hut mit. Als wir gegen 22 Uhr die Tür öffnen wollten, hörten wir Schritte von der Straßenseite her. Das Kino der Stadt war aus und die Besucher gingen nach Hause. Nachdem wieder alles ruhig war, öffneten wir die Tür zur Straße, stiegen bei Schneetreiben auf unsere Fahrräder und fuhren los ins Ungewisse. Ich glaube, dass wir nicht einmal mehr die Tür verschlossen hatten. Was wohl die Wirtschafterin am nächsten Morgen für einen Schreck bekommen hat?
Der Schneesturm nahm noch zu, doch das war uns recht; ein richtiges Fluchtwetter! Unser Ziel war, noch in der Nacht über die Elbe zu gelangen, sonst wäre unsere Mühe umsonst gewesen. Wir fuhren zuerst in das Dorf, in dem wir die Sudetenfamilie kennengelernt hatten, als wir bei dem Bauern die Ernte einbrachten. Die Decken und die Soldatenmäntel belasteten uns sehr und wir ließen sie bei der Familie. Diese versuchte uns die Flucht auszureden. Aber für uns gab es nun kein Zurück mehr. Wir radelten die ganze Nacht und glaubten, ein großes Stück zurückgelegt zu haben. Bei dem Schneesturm hatten wir aber die Orientierung verloren, so dass wir immer im Kreis gefahren waren. Am Montag, so gegen fünf Uhr, die ersten Arbeiter waren schon unterwegs, blieb uns nichts anderes übrig, als einen Einheimischen anzusprechen. Es war ein Tscheche, der uns erschrocken ansah, weil er uns wohl nicht gleich als Soldaten erkannte. In weniger als einer viertel Stunde gelang es uns nun, über die Elbe zu fliehen. Somit hatten wir unser erstes Ziel erreicht. Nun mussten wir die Straße verlassen, damit wir nicht festgenommen werden konnten. Weit und breit war kein Wald zu sehen. So suchten wir uns ein Versteck in einem Feld, wo etwas Gestrüpp wuchs und eine Vertiefung war. Wir bedeckten uns und unsere Fahrräder mit der mitgenommenen Zeltbahn und ließen alles einschneien. Wir sahen Bauern, die auf dem Feld Mist abluden. Wahrscheinlich hielt sie das schlechte Wetter davon ab weiter nach dem Rechten zu sehen. Nachdem die Dunkelheit eingetreten war, packten wir wieder alles auf die Räder und fuhren in Richtung Teplitz-Schönau.
Ich werde es nie vergessen, als wir gegen neunzehn Uhr über den Marktplatz von Teplitz-Schönau durch Russenkolonnen gingen. Aber niemand hielt uns auf. Weiter ging es durch die Stadt in die Dunkelheit. Hier fühlten wir uns im Augenblick wohler. Wir überholten einen Mann, der eine weiße Armbinde trug. Das war das Zeichen, dass es sich wohl um einen Sudetendeutschen handelte. Da wir für jede Auskunft dankbar waren, sprachen wir ihn an. Zuerst tat er sehr ängstlich, doch wir bekamen Kontakt zu ihm. Er gab uns gute Ratschläge für den Grenzübergang. Da wir uns im Gebiet des Riesengebirges befanden, wurde uns klar, dass wir uns nun von den Fahrrädern trennen mussten. So haben wir dem Sudetendeutschen die Fahrräder überlassen und bekamen von ihm jeder eine Zigarette. Beim Erreichen der nächsten Ortschaft stellte er die Räder ab, und zu dritt gingen wir weiter. Plötzlich stand ein Tscheche vor uns, der um eine Hausecke gekommen war. In den Grenzorten sind seinerzeit sogenannte Streifengänger
gelaufen. Zuerst gab dieser den Sudetendeutschen in einem Haus ab, dann sprach er uns auf Deutsch an und fragte, wo wir herkämen und wo wir hinwollten. Wir waren zu allem entschlossen, zumal wir zu zweit und er alleine war. Da hörten wir ein Knacken, als ob er eine Pistole entsicherte. Wir aber hatten nur ein Taschenmesser! Anscheinend war er sich unser so sicher, dass er uns laufen ließ.
Wir stiegen höher in die Berge, um uns vorerst zu verstecken. Dabei benutzten wir die von Schnee frei gefegten Stellen, wobei wir über den Schnee sprangen, um keine Spuren zu hinterlassen. Leider verloren wir bei diesen Sprüngen unsere Packtasche mit der letzten Verpflegung. Je höher wir stiegen, desto höher wurde der Schnee. So ließen wir uns in den hohen Schnee fallen und versteckten uns. Es dauerte auch nicht lange, da kam ein Lkw mit eingebautem Suchscheinwerfer aus dem Ort und suchte alles ab. Nach ungefähr einer halben Stunde fuhr er wieder fort und gab anscheinend die Suche auf. Der Sudetendeutsche hatte uns gesagt, dass wir uns immer an die Eisenbahnschienen halten sollten, weil der Schienenstrang nach Deutschland führt. Nachdem sich alles beruhigt hatte, sind wir wieder vorsichtig den Berg hinab gegangen und stolperten unten förmlich über die halb vom Schnee verdeckten Eisenbahnschienen.
Wir folgten ihnen nun in Richtung Norden. Nach einer größeren Wegstrecke kamen wir an eine Schlucht. Die Eisenbahnbrücke über diese Schlucht war gesprengt. So mussten wir den Berg im tiefen Schnee zuerst hinunter und auf der anderen Seite wieder hinaufklettern. Während das Hinunterklettern noch verhältnismäßig gut ging, war das Hinaufklettern für uns eine große Strapaze, die viel körperliche Kraft kostete. Dann ging es weiter den Schienenstrang entlang. Plötzlich leuchtete uns eine helle Lampe entgegen, und wir hatten ein ungutes Gefühl, dorthin zu gehen. Doch wussten wir vom Sudetendeutschen, dass es der Eingang eines Tunnels war, jedoch zurzeit unbewacht. Am Tage wurde in diesem Tunnel gearbeitet. Die helle Lampe hatte man nur aufgestellt, um Flüchtlinge abzuschrecken. Wir durchquerten die helle Stelle und waren froh, als wir wieder im Dunkeln untertauchen konnten. Zur Stillung des immer stärker werdenden Hungergefühls leckten wir Schnee und hatten beide später ganz aufgesprungene Lippen.
Am Morgen des zweiten Tages kamen wir an einen verlassenen Eisenbahnschuppen, zu dem wir uns Zugang verschafften. Drinnen fanden wir einen Ofen, Holz und Kohlen. Obwohl wir nicht viel Zeit hatten, haben wir Feuer gemacht, uns gewärmt und die Kleidung getrocknet. Beim Weitergehen, es dämmerte schon, sahen wir vor uns in knapp 250 Metern Entfernung bewohnte Häuser, aus deren Schornsteinen Rauch aufstieg. Jetzt aber nichts wie weg. In etwa 100 Meter Entfernung parallel zu den Schienen sind wir dann weiter nach Norden gegangen.
Es gab immer mehr unangenehme Überraschungen für uns. Plötzlich waren da frische Skispuren, die wir entweder tschechischen Zöllnern oder Bewachern der Grenze zuordneten. Wir fürchteten, dass unser Unternehmen noch im letzten Moment scheitern könnte. Dann war da ein Graben, den wir überquerten. Das war der Grenzgraben zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland, wie wir erst später erfahren sollten. Wir waren immer noch ungewiss, ob auch alle Gefahren unserer Flucht überstanden waren. Uns kam ein deutscher Zöllner entgegen. Doch die Begrüßung war frostig. Der Zöllner erklärte, dass er uns jetzt drüben abliefern müsste, nachdem wir ihm von unserer Flucht erzählt hatten. Wir fühlten uns jedoch ihm überlegen und sagten ihm, wer dann wohl da drüben heil ankommen würde! So hat der Zöllner nichts gegen uns unternommen und wir latschten weiter, denn gehen konnte man das nicht mehr nennen. Wir erreichten den ersten deutschen Grenzbahnhof. Von Weitem hörten wir deutschen Gesang. Es waren Männer und Frauen, die die Geleise vom Schnee befreiten. Sie nahmen von uns beiden keine Notiz.
Auf dem Bahnsteig gingen wir auf und ab, bis ein Zug einlief. Wir wussten nicht recht, wie wir uns jetzt verhalten sollten, zumal wir kein deutsches Geld bei uns hatten, um Fahrkarten zu kaufen. Der Schaffner sah uns wohl an, was wir vorhatten und ließ uns einsteigen. Wir brauchten nichts zu bezahlen. Die Fahrt ging in Richtung Leipzig. Eine Schwester, erkennbar durch ihr Schwesternhäubchen, sprach uns im Zug an. Als wir sagten, wohin wir wollten, meinte sie, dass es für uns zu gefährlich sei, da auf dem Leipziger Bahnhof der Soldatenklau
stehe, sowjetische Soldaten, die alle Verdächtigen festnehmen. Die Schwester nahm uns in ihren Dienstbereich mit und brachte uns in diesem Ort in einer Gastwirtschaft unter. Am Tisch waren wir während des Gesprächs mit der Schwester vor Müdigkeit eingeschlafen. Wir schliefen nach einer warmen Mahlzeit weiter fast bis zum Abend. Die Schwester, die in der Zwischenzeit nach uns sehen sollte, mochte uns nicht wecken und hinterließ uns Brot und etwas Fahrgeld für die Reise, damit wir keine Schwierigkeiten bekämen.
Der Gastwirt weckte uns dann, damit wir uns für den kommenden Tag etwas menschlicher gestalten konnten. Leider kann ich mich heute nicht mehr an die Namen der lieben, hilfsbereiten Menschen und auch nicht an die Namen der Orte erinnern. Nach gründlicher Reinigung unserer Körper und nach dem Abendbrot gingen wir wieder zu Bett. Am nächsten Morgen begann die letzte Etappe unserer Flucht. Die Schwester hatte uns genau beschrieben, wo wir aussteigen sollten, um der Kontrolle durch die Russen zu entgehen. Es waren einige Stationen vor dem Erreichen des Leipziger Hauptbahnhofs, als wir ausstiegen und nun schnurstracks zur auf dem Passbild meiner Mutter aufgeschriebenen Adresse Zwenkauer Straße gingen. Es war die jetzige Adresse des ehemals Osteroder Krankenhauses, dessen Personal hier tätig war.
In guter Erinnerung habe ich noch, dass wir im Fußmarsch durch Leipzig auch am Völkerschlachtdenkmal vorbei kamen. Auf dem Transparent stand: Wir grüßen die Rote Armee als Befreier!
Wir waren von dieser Befreiung
nicht sehr begeistert. Wir wollten weiter in den Westen. Es wurde schon dunkel, als wir im Krankenhaus ankamen.
Im Vorraum sah ich schon meine Schwester Ursula in der Aufnahmeabteilung sitzen. Die Wiedersehensfreude war groß, doch auch die Sorge um meine Mutter, die erst einmal auf das Wiedersehen vorbereitet wurde. Ein älterer Mensch verkraftet Schreck und Freude nicht so leicht, es ging aber alles besser als gedacht. In dem kleinen Zimmer standen nun die Reste einer Familie. Da war auch Klein-Evi, mein Patenkind, das ich noch nicht gesehen hatte. Meine Mutter, meine Schwester und die Cousine Christel.
Gott sei Dank, ich hatte also die Flucht aus tschechischer Kriegsgefangenschaft gut überstanden. Das ganze Krankenhauspersonal nahm Anteil an der Wiedersehensfreude. Es gab viel zu erzählen, bis uns allen vor Müdigkeit die Augen zufielen und wir zu Bett gingen. Ein gutes Abendbrot und ein richtiges Bett erwarteten uns. Man hatte uns ein kleines Zimmer zugewiesen und am Morgen des folgenden Tages machte uns Oberin Annemarie Kerkmann das Angebot, dort im Krankenhaus als Pfleger zu arbeiten und zu bleiben, fürwahr ein gutes Angebot, doch unser Ziel war ja der Westen, und dorthin wollten wir auch gelangen. Am Abend kamen alle Bediensteten zusammen und wir mussten ihnen nochmals von unserer Flucht erzählen. Alle waren sehr gerührt. Wir waren froh, in Deutschland zu sein und ich war froh, meine Angehörigen gefunden zu haben. Ein Schälchen Pudding rundete den Abend ab. Für damalige Zeit war es etwas Besonderes.
Nach drei Tagen in Leipzig machten wir uns beide wieder auf den Weg, der uns in den von Engländern und Amerikanern besetzten Westen Deutschlands führen sollte.
Per Eisenbahn ging es mit einem Arbeitertransport über die Demarkationslinie. Wir hatten das Glück, unbehelligt in den Westen zu gelangen. Es war nicht so leicht, offiziell über die damalige Zonengrenze zu gelangen.
Hier auf dem westdeutschen Gebiet trennte ich mich von meinem Kameraden und Leidensgefährten Albert Ohs. Er musste weiter in die Pfalz in die Nähe von Kaiserslautern, und ich wollte nach Hamburg. Leider habe ich mit ihm keine Adresse austauschen können; so haben wir nie wieder von einander gehört.
Die damals entstandenen Wunden sind langsam wieder verheilt.
[2] Ferdinand Schörner (* 12. Juni 1892 in München; † 2. Juli 1973 ebenda) war ein deutscher Heeresoffizier (seit 1945 Generalfeldmarschall). Im Zweiten Weltkrieg war er Oberbefehlshaber von Armeen und Heeresgruppen sowie 1945 kurzzeitig der letzte Oberbefehlshaber des Heeres. Schörner galt als überzeugter Nationalsozialist. Er wurde in der Sowjetunion 1952 wegen Kriegsverbrechen und in der Bundesrepublik Deutschland 1957 wegen Totschlags an deutschen Soldaten verurteilt.
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1987 - Ursula Kennhöfer, geb. Fischer: Wiedersehen nach 61 Jahren