Unsere Flucht aus Ostpreußen
oder:
Wie wir unsere Heimat verloren…
aufgeschrieben von Ursula Kennhöfer geb. Fischer im Juli 1987
Auf der Flucht
Osterode in Ostpreußen, 1945, eine Stadt von 18.000 Einwohnern und 7.000 Soldaten. Sie war eine Garnisonsstadt – schön gelegen am Drewenzsee, genannt die Perle des Oberlandes
und Kreisstadt für den Kreis Osterode.
Hier wurde ich am 22.Januar 1921 geboren, hier wuchs ich auf, hier ging ich zur Schule, wurde hier konfirmiert und habe auch 1943 in Osterode geheiratet. Mein Mann stammt ebenfalls aus Osterode. Als 1939 der Krieg ausbrach ahnte niemand, dass wir diese Stadt und das ostpreußische Land 1945 verlassen würden.
Am 14.Janua 1945 wurde unsere Tochter Evelin geboren. Am 19.Januar hieß es bereits: Rette sich, wer kann!
Mein Mann war seit dem 4.Januar in Urlaub und drängte auf Flucht. Als mein Vater, der selbstständiger Fuhrunternehmer in Osterode war, endlich einen Wagen belud und wir von zwei Pferden gezogen bei 29 Grad unter null die Stadt verlassen wollten, waren die Straßen bereits so verstopft, dass am Ende der Roonstraße, die Straße, in der wir wohnten, kein Einbiegen in die Hindenburgstraße mehr möglich war. Also erst einmal wieder zurück.
Meine Eltern besaßen in der Roonstraße 25 ein schönes Zweifamilienhaus. Die Eltern hatten es vor acht Jahren – also 1937 – käuflich erworben, und wir fühlten uns hier sehr geborgen.
Aber es gab kein Bleiben. Meine Eltern waren mit der Oberin des Kreiskrankenhauses Osterode gut bekannt, und da erinnerte sich Mutter, dass sie bereits in der Nacht mit der Oberin telefoniert hatte und eine Zusage für die Mitnahme in ihrem Zug, der für die Schwestern und einige Patienten auf dem Bahnhof bereit stand, erhalten hatte. In der Aufregung und Unruhe des Tages war diese Zusage völlig in Vergessenheit geraten. Noch ein telefonischer Anruf im Krankenhaus brachte uns die Gewissheit, dass der Zug bereits beladen wurde und wir sofort zum Bahnhof kommen mussten, wollten wir mitfahren. Der Vater spannte also einen leichten Spazierschlitten an und brachte meine Mutter, die kleine Tochter und mich - mein Mann fuhr ebenfalls mit – zum Zug. Mit der Angst im Nacken hatten wir nur einen Bettsack mitgenommen. Menschenleben waren damals auch wichtiger. Am Bahnhof herrschte ein großes Durcheinander und nur mit Mühe halfen Vater und Ehemann uns in diesen bestimmten Zug. Mein Mann wollte vom Bahnhof in die Merkerstraße, um sich noch um seine Eltern zu kümmern. Mein Vater wollte nicht mit, weil er sein Haus, seine Pferde und die anderen Tiere nicht im Stich lassen konnte und wollte. Wir dachten ja auch alle, dass es ein vorübergehendes Ausweichen vor den Russen wäre und wir eines Tages wieder zurück nach Hause könnten. Es kam alles ganz anders.
Am 20. Januar 1945 verließ der Zug in den frühen Morgenstunden dann endlich Osterode, und wir erreichten mittags Elbing. Nach einigem Aufenthalt ging die Fahrt weiter und bei Dirschau konnten wir – Gott sei Dank – noch die Brücke über die Weichsel passieren. Wenige Tage danach wurde sie in die Luft gesprengt.
Über Stargard, Konitz, Schneidemühl ging die Fahrt weiter. Im Zug war es eisig kalt, da die Heizung nicht intakt war. Wir konnten uns nur mit dem einzigen mitgenommenen Federbett etwas wärmen. Die kleine Evelin lag im Kinderwagen und konnte nicht rausgenommen werden, sonst wäre sie erfroren. Der Zug sollte nach Schwerin an der Warthe fahren, landete aber in Landsberg an der Warthe. Auch dort erkannte man, dass uns der Russe einholen würde. So fuhr der Zug weiter ohne Ziel ins Reich, wie man früher von Ostpreußen kommend sagte, Richtung Sachsen. Nach vier Tagen und Nächten war der Zug in Leipzig angelangt, wo wir am 24. Januar 1945 einen längeren Aufenthalt hatten. Dann ging es weiter ins Erzgebirge nach Annaberg und trafen dort am 25. Januar nachmittags ein. Frau Oberin, unter deren Schutz wir alle standen, verhandelte wegen einer Unterkunft für alle Schwestern und Patienten und erhielt als Ausweichkrankenhaus eine Schule in Bärenstein, hart an der sudetendeutschen-tschechischen Grenze gelegen.
In Ostpreußen kannte niemand das Erzgebirge so genau, und wer wusste schon etwas von der Armut der Bevölkerung. Ostpreußen war ein reiches Land und die Kornkammer Deutschlands gewesen. Wir waren der erste Flüchtlingstransport, der dort eintraf, und die Bevölkerung half so gut sie konnte.
Wir blieben dann nur noch kurze Zeit im Haus unter dem Schutz der Oberin. Durch die damalige Frauenschaftsleiterin, Frau Held, erhielten wir im Elternhaus ihres Mannes die große Wohnküche zugewiesen. Wir verließen also das gastliche Haus der Frau Oberin und zogen dort ein. Es begann für uns eine schwere Zeit. Aber der kleine Ort Bärenstein blieb wenigstens von Bombenangriffen verschont. Wir erlebten aber die schweren Angriffe auf Dresden, Chemnitz, Zwickau, Plauen und Leipzig aus der Entfernung. Fenster und Türen zitterten, wenn die Bomben auf die Städte fielen. Die nächtlichen Himmel waren blutrot von der Feuersbrunst. So kam der 8. Mai 1945 heran und mit ihm das Kriegsende. Aus tiefstem Herzen sagten wir Gott sei Dank
, dass dieser Wahnsinn endlich ein Ende hatte.
Die Russen besetzten Bärenstein. Neben den weißen Kapitulationsfahnen, die aus Betttüchern, Tischdecken oder anderen weißen Stoffen aus dem Haushalt hergestellt wurden, hing am Rathaus die rote Fahne mit Hammer und Sichel.
Wir wohnten immer noch in der großen Wohnküche, froren und hungerten nun auch wie die Bärensteiner Bevölkerung vor uns. Immer mehr Flüchtlinge drängten nach Bärenstein hinein. Die kleine Brücke zwischen Bärenstein und Weipert wurde nun wieder die Grenze zwischen der Tschechei und Deutschland und ein Schlagbaum wurde errichtet. Die tschechischen Soldaten führten unerbittliche Kontrollen durch, die an Grausamkeit schwer zu übertreffen waren. Was ich dort mit eigenen Augen sah, ist kaum zu beschreiben. Bärenstein war jetzt so überfüllt, dass die Verwaltung versuchte, sich mit Gewalt der Flüchtlinge zu entledigen. Mit Versprechungen, sie an anderen Orten unterzubringen, fuhren viele, viele Flüchtlinge auf Lastwagen mit. Aber die Menschen wurden rücksichtslos vor Chemnitz oder anderen Städten in Sachsen auf der Straße abgesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Da ich mich weigerte, mit meiner kleinen Tochter und meiner gelähmten Mutter den Ort zu verlassen, erhielt ich für uns drei keine Lebensmittelkarten mehr. Mutter litt an spinaler Kinderlähmung, ihr rechtes Bein war gelähmt, weshalb sie einen Stützapparat trug. Auf Karten gab es schon wenig genug, aber ohne Karten war man dem sicheren Hungertod ausgeliefert. Dabei waren wir alle drei nur noch Haut und Knochen. Auch unser kleines Mädchen hatte bis dahin kaum Vollmilch gesehen. Aus Gnade und Barmherzigkeit gab mir der Milchmann manchmal einen halben Liter Magermilch, die es ohne Karten gab.
Mutter ging wieder zur Frau Oberin und hier wurde uns geholfen. Ich pilgerte also dreimal am Tag ins Krankenhaus und holte für uns etwas zu essen ab. So lange, bis uns auch noch der Wohnraum gekündigt wurde. Man setzte uns regelrecht auf die Straße. Unser Hab und Gut war nicht groß. Es bestand aus einem Koffer und einem Kinderwagen. Frau Oberin nahm uns nun wieder auf und wir bekamen ein Zimmer im Krankenhaus. Am ersten Abend bereits, nach dem mit Heißhunger verzehrten Topf voll Pellkartoffeln, erkrankte ich. Mein Magen vertrug nichts mehr nach den Hungerwochen. Ich kam mit Typhusverdacht auf die Station. Das war in der zweiten Julihälfte 1945. Die Oberin hatte nun auch zu kämpfen um die Bleibe oder Verlegung ihres Hauses. Sie verhandelte um ein neues Haus in Leipzig und pendelte ständig zwischen Bärenstein und Leipzig hin und her. An einem Tag, als sie wieder in Leipzig war, fuhren Lastwagen vor, die Ärzte standen machtlos da, luden alle Patienten auf und brachten die Kranken ins elf Kilometer weit entfernt liegende Kreiskrankenhaus nach Annaberg. Da ich zu dem Zeitpunkt auch Patientin war, wurde auch ich verladen. Mutter und Tochter als Begleitpersonen gleich mit.
Bisher hatte die Oberin sich auch wegen der im Haus befindlichen Patienten geweigert, die Schule, jetzt ja Ausweichkrankenhaus, zu verlassen. Als sie nun aus Leipzig zurückkam, war die Schule leer. Aber sie brachte freudige Nachricht mit. Sie hatte in Leipzig ein Haus gefunden in einer fast unzerstörten Gegend, mitten in einem herrlichen Park gelegen. Nur, wir waren jetzt in Annaberg. Ich wurde aber dort in etwa vier Wochen fast gesund gepflegt. Als es mir besser ging, bekam ich sogar eine Sonderration in der Verpflegung, sodass sich mein Gewicht auf fünfunddreißig Kilogramm besserte. Der Typhusverdacht hatte sich, Gott sei Dank, nicht bestätigt. Unsere Gedanken kreisten aber darum: Wo bleiben wir, wenn ich als gesund entlassen werde
. Mutter machte sich also eines Tages voll Sorge auf den Weg per Eisenbahn von Annaberg nach Bärenstein. Wer die Strecke kennt, weiß, was das für eine Leistung für sie mit dem kranken Bein war. Mutter hatte Glück! Sie traf Frau Oberin, die ja - wie gesagt – zwischen Bärenstein und Leipzig pendelte, in Bärenstein an. Sie hörte wieder einmal unsere Sorgen und versprach, dass sie uns bei einer Übersiedlung nach Leipzig mitnehmen würde. Voller Freude kehrte Mutter nach Annaberg zurück. Jetzt gab es kein Halten mehr für uns. Mutter verhandelte mit einem Krankenpfleger, der jede Woche Kinder von Annaberg in ein in der Nähe von Bärenstein gelegenes Kinderheim brachte, und der uns bei Gelegenheit mitnehmen wollte. Ich ließ mir eine Überweisung zur Weiterbehandlung in unserem Osteroder Krankenhaus geben. Bereits im August waren wir dann wieder in Bärenstein. Ich war noch sehr schwach, aber nun wieder voller Zuversicht. In der ersten Septemberwoche nahmen wir Abschied von Bärenstein im Erzgebirge (wir haben es nie wiedergesehen) und siedelten per Auto und Bahn mit den Schwestern der Diakonie nach Leipzig über.
Das kleine Krankenhaus in der Eitingonstraße in Leipzig war wunderbar. Wir drei bekamen ein schönes Zimmer und waren froh und dankbar für so viel Güte und Fürsorge der Oberin auch für uns. In Bärenstein bei der Familie Held ließen wir drei Briefe zurück. An den Vater, den Ehemann und den Bruder. Als wir vor neun Monaten in Bärenstein angekommen waren, hatte ich nach Osterode in Ostpreußen an den Vater geschrieben, an das Kommando meines Mannes und an einen Kameraden meines Bruders, von dem ich wusste, dass er in Plauen im Vogtland war.
Wir hofften, dass uns alle drei finden würden, wenn sie in Bärenstein nach uns suchen sollten. In dem schönen Krankenhaus in der Eitingonstraße konnten wir aber nur kurze Zeit bleiben. Es musste geräumt werden, weil die Russen es wiederhaben wollten. Sie hatten vor uns schon einmal dieses Haus mit Beschlag belegt. Nun zogen wir nach Leipzig-Connewitz in die Zwenkauerstraße, wieder in eine Schule. Die 54 Volksschule
genannt. Diese Schule war schon während des Krieges Lazarett gewesen und wurde nun als Krankenhaus in der Hauptsache für Bazillenträger und andere Seuchenkranke genutzt.
Hier erlebten wir das erste Friedens-Weihnachtsfest in der Fremde, fern von allen Lieben, und doch nicht allein. Die Oberin muss gezaubert haben! Sie bereitete für alle Schwestern, für alle Bediensteten des Hauses und auch für uns ein Fest der Liebe. Der große Saal war geschmückt, Kerzen brannten. Für jeden gab es einen bunten Teller und ein Geschenk. Sei es ein Hemd, eine Schürze oder ein anderes nützliches Ding. Evelin bekam Schuhe aus schwarzem Leder. Sie machte zu dem Zeitpunkt ihre ersten Schritte auf Pappschühchen, die ich bis zu diesem Weihnachtsfest, von Frau Wonner, der Gattin des Chirurgen Dr. Wonner, erhalten hatte.
Friedensweihnacht! Und alle sangen voller Dankbarkeit die alten deutschen Weihnachtslieder.
Anfang 1946 begann ich eine Tätigkeit in der Großküche des Krankenhauses. Bisher hatte Frau Oberin uns nur gegeben und nie etwas dafür verlangt. Was sollte sie auch von uns verlangen? Wir besaßen ja nichts! Nun konnte ich wenigstens meine Arbeitskraft anbieten und versuchen, damit etwas zurückzugeben für alle Fürsorge, die wir erfahren hatten. Mutti versorgte Evelin und strickte nebenbei für die Schwestern aus grauer Wolle lange Unterkleider. Nachdem ich wohl ein Vierteljahr lang in der Küche gearbeitet hatte, rief die Oberin mich ins Aufnahmebüro. Inzwischen hatte ich auch schon wieder Kontakt zu meinem Mann. Er war in Hamburg zur Polizei angenommen worden und wohnte in der Kaserne. Vorher war er nach der Entlassung durch die Engländer nach Reinfeld in Holstein zu seiner Mutter gegangen, die nach der Flucht dort gelandet war.
Wie schon erwähnt, hatte ich nach der Flucht noch einige Male nach Osterode an den Vater geschrieben in der Hoffnung, dass vielleicht ein Schreiben befördert und dort ankommen würde. Es muss tatsächlich etwas dort angekommen sein. Nach Bärenstein kam Ende September, Anfang Oktober 1945 eine Karte an, auf der Vater schrieb, dass er bald bei uns eintrifft. Adressiert an uns nach Bärenstein bei Urmstedt Gold
. Es hätte aber heißen müssen bei Uhrmacher Held
. Die Anschrift war offensichtlich verstümmelt.
Die Karte kam aber trotzdem bei Helds an und wurde von der Familie Held an uns nach Leipzig gesandt. Wir standen natürlich weiter mit der Familie in Verbindung, und Briefe waren ja mit unserer Leipziger Adresse bei Helds hinterlegt. Vater hat uns nicht gefunden. Wie ich später aus Vaters kleinem Notizbuch ersehen konnte, ist er zwar in Bärenstein gewesen, aber nicht bei der Familie Held, wo ja der Brief mit unserer Adresse für ihn lag. Er ist auch in Leipzig gewesen, hat uns aber nicht gefunden. Das sind Tatsachen, für mich aber heute noch Rätsel, die ich nicht begreife.
Von Leipzig aus habe ich dann, als Vater nicht auftauchte, an die damals aufblühenden
Suchzentralen, zuerst nach Halle/Saale geschrieben, um uns registrieren und Vater suchen zu lassen. Es funktionierte anfangs aber nur dann, wenn der Gesuchte seine Angehörigen ebenfalls suchte und so die Zentrale die Adressen vermitteln konnte. Vater war in Tagewerben bei Weißenfels in Sachsen gelandet, nachdem er uns nicht finden konnte, hatte er auch einen Suchantrag gestellt. So landete endlich unsere Adresse bei ihm in Tagewerben. Da war er aber schon 14 Tage tot. Der Bürgermeister von Tagewerben schrieb an den Rand der Karte verstorben am 13. Februar 1946
und schickte die Karte an unsere Adresse in Leipzig.
So erfuhren wir von Vaters Tod. Für meine Mutter und mich war das sehr schmerzlich. Da wir Näheres erfahren wollten, bin ich alleine, Mutter und Tochter waren ja in Leipzig in guter Obhut, mit dem Zug nach Weißenfels gefahren und von dort zu Fuß nach Tagewerben gegangen. Ich suchte erst einmal den Bürgermeister auf, der die Karte mit dem Todesvermerk an mich geschickt hatte. Ich erinnere, dass mich ein sehr netter Mann begrüßte. Seine Frage: Warum kommen Sie erst jetzt
schockierte mich damals sehr. Ich wäre ja hingeflogen, wenn ich gewusst hätte, dass der Vater seit fast einem halben Jahr in Tagewerben, unserer unmittelbaren Nähe, gelebt hat. So fand ich nur ein Grab, an dem ich weinen konnte.
Wie ich meinen Bruder wiederfand
Wie wir meinen Bruder Joachim fanden? Eine mysteriöse Geschichte, aber auch sie ist es wert, erzählt zu werden.
Aus der Großküche des Hauses war ich ja ins Büro versetzt worden. Während dieser Tätigkeit musste ich mal vertretungsweise im März, April 1946 in Leipzig Behördengänge erledigen und war viel mit der Straßenbahn unterwegs. Auf einem dieser Gänge lernte ich eine Leipzigerin kennen, die mit einem Tschechen verheiratet war. Wir kamen ins Gespräch. Sie erzählte von ihrem Mann und den Verwandten in der Tschechei und ich von unserem Schicksal. Vor allem sprach ich von meinem Bruder, der für uns noch als vermisst galt. Die Leipzigerin fuhr noch des Öfteren in die Tschechei und erwähnte, dass in einem Eisenwarengeschäft am Wohnort ihrer Tante zwei deutsche Kriegsgefangene beschäftigt wurden. Sie beschrieb mir die Inhaftierten und der Beschreibung nach hatte einer große Ähnlichkeit mit meinem Bruder. Wäre doch möglich, dass er dort in Gefangenschaft geraten war, derweil er zuletzt bei der 6. Armee SchörnerFerdinand Schörner war Oberbefehlshaber von Armeen und Heeresgruppen sowie 1945 kurzzeitig der letzte Oberbefehlshaber des Heeres. Schörner war überzeugter Nationalsozialist. Er wurde in der Sowjetunion 1952 wegen Kriegsverbrechen und in der Bundesrepublik Deutschland 1957 wegen Totschlags an deutschen Soldaten verurteilt. [1] in der Tschechoslowakei gekämpft hatte. Die Leipzigerin, ich weiß heute nicht mehr ihren Namen, gab mir ihre Adresse und ich fuhr am Abend mit einem Bild meines Bruders zu ihr.
Ich war furchtbar aufgeregt, als sie auf dem Bild meinen Bruder als einen der Kriegsgefangenen erkannte. Einen kleinen Brief wollte sie versuchen, in seine Hände gelangen zu lassen. Wir hatten dann noch eine bessere Idee. Auf einem Passbild unserer Mutter schrieben wir das Wichtigste und vor allen Dingen unsere Leipziger Adresse. Die nette Leipzigerin konnte das Bildchen tatsächlich durch Kontrollen in die Tschechei bringen und es gelangte in die Hände meines Bruders. Daraufhin flüchtete er nach guter Vorbereitung nach Deutschland und stand eines Tages in Leipzig-Connewitz vor uns. Die Freude war groß! Aber in Leipzig konnte er nicht bleiben, nie hätte er von den Russen einen Entlassungsschein erhalten. Leipzig war von den Russen besetzt. Aber drei Tage konnte er mit seinem Kameraden im Krankenhaus ausruhen. Beide waren erst mal geborgen, konnten baden, hatten ein Bett zum Ausruhen und genug zu essen. Aber dann ging ihre Flucht weiter und endete in Schleswig-Holstein.
In der neuen Heimat?
Meine Schwiegermutter hatte inzwischen eine Unterkunft in Reinfeld in Holstein gefunden. Sie schickte mir nach vielem Hin und Her eines Tages eine Zuzugsgenehmigung nach Reinfeld für mich und meine Tochter. Meine Mutter erhielt eine Zuzugsgenehmigung nach Zarpen zu Bauer Moll. Dort war mein Bruder erst einmal untergekommen. Ich hatte schon erzählt, dass mein Mann inzwischen, genau im Februar 1946, nach Hamburg zur Polizei gegangen war. Nach Hamburg gab es 1946 aber noch keine Zuzugsgenehmigungen. Die Stadt war zu sehr zerstört. Viele Wohnungen fehlten. Der Wiederaufbau sollte erst beginnen. So war ich froh, wenigstens erst einmal nach Reinfeld legal einreisen zu können. Der Transport sollte im Juni 1946 von Leipzig aus gehen. Dazu mussten Mutter, Tochter und ich in ein Sammellager bei Leipzig. Drei Tage und Nächte hielten wir uns in dem von Menschen überfüllten Lager auf, ehe das Gepäck in den Zug verladen wurde. Endlich sollte es losgehen. Doch dann kam eine russische Delegation ins Lager. Die Tore wurden geschlossen. Alle waren ratlos.
Es gab keine Transporte mehr in die englisch oder amerikanisch besetzten Gebiete Deutschlands. Der russischen Delegation zufolge hatte der Engländer die Grenze geschlossen. Glaube, wer es will.
Das Gepäck wurde wieder aus dem Zug zurück ins Lager gebracht. Ich war verzweifelt und heulte wie ein Schlosshund. Am Abend hatte ich dann aber einen Pferdewagen besorgt, der uns mit unserer wenigen Habe zurück ins Krankenhaus nach Leipzig-Connewitz brachte.
Das Leben ging weiter seinen Gang. Ich arbeitete nun wieder in der Küche. Meinen Platz im Büro hatte meine Cousine Gretel Schulz eingenommen. Wie ihre Schwester Christel war sie nun auch, durch Mutters Fürsprache, von Pirna nach Leipzig ins Krankenhaus übergesiedelt. Sattessen für Arbeit war damals so viel. Im Krankenhaus lernten wir eines Tages einen Mann kennen, der Leute schwarz über die russische Demarkationslinie ins englisch besetzte Gebiet Deutschlands brachte. So kamen wir auf die Idee, dieses mit diesem Mann zu versuchen. Viel Gepäck durften wir allerdings nicht mitnehmen. So packte Mutter nach und nach 150 Päckchen mit Zeug, die wir zum Bruder nach Zarpen und an meine Schwiegermutter nach Reinfeld schickten. Anfang September 1946 sollte es dann mit unserem Grenzübergang vor sich gehen. Cousine Gretel durfte uns mit Erlaubnis der Oberin im Zug von Leipzig bis Halle begleiten. Die Züge waren in jener Zeit immer brechend voll und besonders schlimm war es, wenn man umsteigen musste. Mit unserem Grenzführer
wollten wir in Nordhausen auf dem Bahnhof zusammentreffen. In Halle hatten wir eine Nacht Aufenthalt und blieben auf dem Bahnsteig, auf den Frühzug wartend, sitzen. Cousine Gretel half uns morgens in den Zug. Mutter und ich mit Evelin im Kinderwagen stiegen ein. Gretel fuhr zurück nach Leipzig, wir fuhren nach Nordhausen, wo wir mittags ankamen. Nachdem ich Mutter und Tochter im Wartesaal untergebracht hatte, machte ich mich auf die Suche nach unserem Grenzführer. Ich traf ihn auch im Bahnhof an, aber meine Enttäuschung war grenzenlos, als er mir eröffnete, dass er höchstens mich über die grüne Grenze
bringen würde. Mit Mutter und so einem kleinen Kind wäre ihm das Risiko zu groß. Schon nachts wäre an der Grenze geschossen worden. Neue russische Bewacher waren an die Grenze gekommen und es hatte schon zwei Tote gegeben. Jetzt stand ich wieder da und guter Rat war teuer.
Zurück in den Wartesaal zu meinen beiden. Mutter hielt es nun auch nicht mehr auf dem Stuhl, sie wollte zur Bahnhofsmission oder zur Bahnpolizei gehen. Wenigstens mit jemandem reden. Evelin schlief. Ich saß da, so verzweifelt allein und wusste wirklich nicht, was ich überhaupt machen sollte. Eins wusste ich allerdings genau: Zurück nach Leipzig würde ich auf keinen Fall gehen.
Plötzlich stand ein Herr an meinem Tisch. Mindestens ein Meter neunzig groß. Wollen Sie über die Grenze
, fragte er mich. Ja, rüber wollte ich, aber wie?
Ohne Kommentar, er wollte mir helfen! Ich habe ihn viel später gefragt, als unser Grenzübergang längst hinter uns lag, warum er gerade an meinen Tisch gekommen war, wo doch der ganze Wartesaal voller Menschen saß und er jedem hätte helfen können. Er sagte, als er so in der Türe stand und in den Wartesaal blickte, sah er in meinem Gesicht so eine grenzenlose Verzweiflung, dass er, wie von einer höheren Gewalt geführt, einfach an meinen Tisch kommen musste!

Er wollte auch rüber, hatte zwei schwere Koffer bei sich. Seine Papiere, die er mir zeigte, wiesen ihn als ehemaligen U-Boot-Offizier aus. Sein Name war Reese, und er wollte nach Leer in Ostfriesland. Als Mutter zurückkam, waren wir beide, Herr Reese und ich, uns bereits einig, wie wir den Grenzübergang bewerkstelligen wollten. Herr Reese hatte kaum noch Geld bei sich und nichts zu essen. Wir hatten von unserer leitenden Küchenschwester Erna Timm in Leipzig viel zum Essen mitbekommen. Und Geld hatte ich noch einige hundert Reichsmarkscheine, die mir Cousin Hans in Pirna bei einem Besuch bei ihm kurz nach dem Kriegsende gegeben hatte. So haben wir erst einmal gemeinsam gegessen und einen Plan gemacht. Die Nacht über blieben wir im Wartesaal und wollten morgens einen Zug besteigen, der uns nach Ellrich bringen sollte. Ellrich lag damals im russisch besetzten Gebiet Deutschlands, hart an der Grenze zum englischen Sektor. So haben wir es dann auch gemacht. Es war nun sehr tröstlich und beruhigend, einen Mann bei sich zu wissen, der sich auch um uns kümmerte. Schon nach ungefähr zwei Stunden waren wir in Ellrich. In der Bahnhofshalle fand ich eine dicke Aktentasche, die herrenlos schien. Ich wollte diese Tasche am Schalter abgeben, aber der Beamte weigerte sich sie anzunehmen. Die Angst, Grenzgängern zu helfen und dabei erwischt zu werden, war groß. Daher wahrscheinlich diese Reaktion des Beamten. So haben Herr Reese und ich die Tasche geöffnet, um dort eventuell einen Anhaltspunkt auf den Eigentümer zu finden. Aber was quoll uns denn da aus der dicken Tasche entgegen? Amerikanische Zigaretten und Tabak! In einem Notizbuch fanden wir dann noch seitenlang Adressen von Frauen. Überschrift: Meine Frauen
. Diese Tasche haben wir natürlich nicht mehr versucht loszuwerden. Tabak und Zigaretten waren in der damaligen Zeit Kostbarkeiten und wurden auf dem schwarzen Markt
teuer gehandelt. Damit konnten wir vieles bekommen. Uns waren sozusagen Tür und Tor geöffnet. Herr Reese organisierte im Ort einen Handwagen und einen Jungen, der ihn mit unserem Gepäck darauf bis zur Grenze ziehen wollte. Der Vater des Jungen bekam Tabak und hundert Reichsmark. Der Junge, ein kräftiges Kerlchen, brachte uns bis zum Niemandsland
.
Er bekam zwanzig Zigaretten und weitere hundert Reichsmark. Bis zum Niemandsland
waren es drei Kilometer gewesen. Bis Walkenried, unserem Ziel im englisch besetzten Gebiet, waren es nochmals drei Kilometer. Wir sahen die englischen Streifen abziehen und auch die russischen Streifenwagen waren nicht zu sehen. Wir waren gut beraten, die Mittagszeit zwischen zwölf und vierzehn Uhr für unseren Grenzübertritt zu wählen. So kamen wir durch Lehm und Dreck, aber glücklich es geschafft zu haben, in Walkenried an. Mein Gott, waren da Menschen in der Bahnhofshalle und alle wollten ihr Gepäck aufgeben. Wir hatten die gleiche Absicht. Ich unseren Holzkoffer, der schon fast auseinanderfiel, nach Hamburg-Dammtor. Herr Reese kannte sich in Hamburg aus und hatte mir das geraten. Unser Gepäck aufgeben war dann, dank Zigaretten und Tabak nur noch ein Kinderspiel.Gemeinsam fuhren wir am nächsten Tag nach Nordheim. Dort trennten sich unsere Wege. Der Zug mit Herrn Reese fuhr früher ab. Er hatte mir aber vorher noch einen jungen Mann besorgt, der uns in den Zug nach Hamburg half. Als wir am 4. September 1946 in Hamburg ankamen, waren wir vier Tage und Nächte unterwegs gewesen. Nicht geschlafen, nicht gewaschen, klebrig, aber froh, es geschafft zu haben.

Meinem Mann hatte ich vorher von dieser Unternehmung nichts geschrieben, um ihn nicht zu beunruhigen. So rief ich ihn vom Dammtorbahnhof in seiner damaligen Dienststelle Stadthausbrücke
an. Er staunte nicht schlecht und holte uns drei von dort ab. Für eine Nacht bekamen wir in der Polizeikaserne ein Bett. Endlich konnten wir uns waschen und ausschlafen, ehe es am nächsten Tag nach Reinfeld weiterging.
Dank der Zuzugsgenehmigung bekamen Evelin und ich erst einmal eine Schlafstelle im Forsthaus bei Frau Fischer, später ein Zimmer im Amtsgericht in Reinfeld. Mutter zog nach Zarpen. Bauer Moll nahm sie auf wie auch vorher meinen Bruder Joachim.
In Reinfeld haben wir noch vier Jahre gewohnt, bevor es eine Möglichkeit gab, im September 1950 nach Hamburg überzusiedeln. Dort begann dann eigentlich erst unser gemeinsames Leben mit unseren beiden Kindern. Unser Sohn wurde am 30. März 1949 im Schloss Blumendorf bei Bad Oldesloe geboren. Der Westflügel des adeligen Guts Blumendorf
war 1947 als Krankenhaus eingerichtet worden.
Weiterführender Link:
über die Zwangsumsiedlund bzw. Vertreibung nach dem 2. Weltkrieg
Literatur-Tipp:

- R.M. Douglas:
Ordnungsgemäße überführung
Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg.
C.H.Beck-Verlag, 2012, ISBN 978 3 406 62294 6
Kaum ein anderes geschichtliches Thema lässt die Emotionen noch heute oftmals so hochkochen, wie die Vertreibung 12 bis 14 Millionen Deutscher aus dem Osten Europas. Wie die Vertreibung Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt wurde, wurde im Potsdamer Abkommen unter den Siegermächten verhandelt und festgelegt. Das Völkerrecht wurde dabei ausgehebelt und missachtet. Bis zum heutigen Tage sind die völkerrechtlich unhaltbaren Beneš-DekreteSiehe Artikel der Wikipedia.org von der Tschechischen Republik nicht außer Kraft gesetzt worden!