Die Herren des Grases
Mit seinem breitkrempigen Sombrero sah er aus wie ein Llanero. Dies war die Heimat des Dr. Ernesto Medina, die Savannenlandschaft um die Kreisstadt Calabozo in Venezuela. Er hatte uns zusammen mit zehn hübschen Studentinnen in zwei Geländewagen gepackt und raste über kurvige, bucklige, Lkw-belastete Straßen ohne Pinkelpause weit nach Süden im weiten, offenen Land. Ich hatte die Tagebücher des Alexander von Humboldt auf dem Schoß, der eben diese Piste auch einmal geritten war vor geraumer Zeit, und dabei beobachtet hatte:
Der einförmige Anblick dieser Steppen hat etwas Großartiges, aber auch etwas Trauriges und Niederschlagendes. Es ist als ob die ganze Natur erstarrt wäre.
Inzwischen hat man hier eine biologische Station errichtet mit klimatechnischen Messgeräten, Tensiometern etc. für das Studium der Ökologie der Llanos. Medinas Mitarbeiter San José steckte lebende Baumblätter in seine transportable Klimakammer und berechnete, wie viel Kohlendioxid sie der Luft entnahmen und wie viel organische Substanz sie dafür aufbauten – ökologische Routine. Glühend heiß wurde es unter den hohen Gräsern (,perennia rufa), doch unermüdlich zeigte und erklärte Medina seinen eifrig hörenden Studentinnen die botanischen Geheimnisse des Raumes. (Das hohe Gras sei ein Einwanderer aus Afrika, herbeigeholt von der Viehwirtschaft, es habe einheimische Gräser verdrängt) In der Kühle des Abends tanzten die Schönen mit spanischer Grandezza unter der Rotunde zu den Melodien, die drei uralte, verrunzelte Einwohner ihren Instrumenten entlockten – und wurden nicht müde. Aber dann schnarchten alle im primitiven Schlafsaal der Baracke um die Wette. Ich fand wenig Schlaf und wirre Träume, lauschte den Lauten der Savanne. Mit den Hühnern aufstehen vom Schmerzenslager, kümmerliches Waschen im Holzzuber, frugales Mahl aus Blechdosen. Medina fuhr mit den Mädchen ins Forschungsgebiet.
Zwei Tage später beschloss er, auf den Spuren des bewunderten Alexander von Humboldt mit uns den Weg nach Süden zu nehmen. Der einheimische Führer Charles Bone fuhr wie der sprichwörtliche Henker. An Kreuzungen standen Soldaten unter Gewehr und forderten Papiere. Manchmal rumste es, dann hatte Charles eine dicke Schlange platt gefahren. Viele Kriechtiere tummelten sich auf den Straßen bei Anbruch der Dunkelheit. Mit dem letzten Büchsenlicht fand Charles die Einfahrt zum Hato El Frio
. Baumgart, der deutsche Verwalter, ließ uns ängstlich in einem kahlen Raum die Hängematten aufknüpfen. Der Assi band die Bierdosen hängend an, wegen möglicher Ratten. Die Hängematten wurden indianisch geknüpft, man lag diagonal darin, damit der Rücken nicht verkrümmte. Im Raum stank es erbärmlich nach Pipi und alten Socken, manchmal hörte ich das helle Getöse der Indianerfrauen draußen.
In aller Frühe hinaus zu den Modulos experimentales
. Draußen im Flachwasser saugten Limnologen mit eigenartigen Staubsaugergeräten vom Boot aus das warme Wasser in Filtertüten und sammelten das Kleingetier der überfluteten Savanne. Sah richtig romantisch aus, das winzige Boot im weiten, stillen, braunen Wasser der überfluteten Savanne. Wir teilten Cocadosen und Zitronen miteinander, redeten über die weltbekannte Alge Keratella, und die Sonne brannte feucht-heiß hernieder. Wie ein impressionistisches Gemälde das unermessliche Grün mit den weißen Tupfen der Reiher. Hier hatte Humboldt notiert:
Ein Teil der Steppe erscheint nun wie ein unermessliches Binnenwasser. Ein solcher Anblick erinnert den ernsten Beobachter an die Biegsamkeit, mit welcher die alles aneignende Natur gewisse Thiere und Pflanzen begabt hat.
Hier am Rio Apure ist Humboldt im Frühjahr 1800 zum Orinoko gefahren. Und hat fern im Grase die Herden der friedlichen Capybaras
oder Chiguire
beobachtet, wir sagen Wasserschweine, die aber keine Schweine, sondern Riesennager sind, dümmlich wirkende, penetrant nach Moschus stinkende Pflanzenfresser, von den Guarani Indianern treffend Herren des Grases
genannt. Graugrüne Krokodile jagen nach ihnen und nach großen Fischen. Humboldt notierte:
Herden von trägen Chiguiren, schöne gestreifte Viverren, die die Luft verpesten, buntgefleckte Jaguare, Agutis, kleine buntgefleckte Hirsche, diese und viele andere Thiergestalten
durchirren die baumlose Ebene.
Bildhafter kann man es nicht sagen. In den Baumkronen saßen hässliche Opossums, Beutelratten, die Vogelnester plünderten und Hühner stahlen. Auch mal eine 9 m lange Anaconda hielt sich dort oben auf. Und vor dem Erdloch hockte wachsam die Kanincheneule – nebenan das Gürteltier. Selten ein gefleckter Jaguar. Am Aas stritten sich Wolken schwarzer Rabengeier, wie ein Denkmal auf dem Pfahl hockte der stille Schlangenhalsvogel. Ein Tierparadies, eingefriedet und so geschützt vor Jägern im europäisch geführten Hato. Ursprünglich wohl gegründet von den Familien Blohm & Voss.
Der Junior von der besitzenden Invega schimpfte auf die unerlaubt eingedrungenen Deutschen. Aus Angst, denn die Regierung wollte die großen Hatos (Haziendas) auf leisem Wege verstaatlichen und Kleinbauern ansiedeln, so brauchte man Beweise, dass El Frio ein erhaltenswertes Schutzgebiet sei. Es war Mitternacht, ich war eingedöst auf meiner Matte. Schüsse knallten, Leute schrieen im Dunklen, rannten durcheinander. Ist Feuer ausgebrochen? Wir taumelten aus den Netzen, suchten nach Taschenlampen, wühlten uns durch die erregte Menge der Llanerofrauen zum Verwalterhaus. Ein Mann, der aussah wie ein Torero, taumelte umher, fuchtelte abwechselnd mit der haarscharfen Machete und dem schweren Colt. Sturzbesoffen, brüllte ein übers andere Mal Hombre
, er meinte sich, einen Ehrenmann, er ließe sich nichts gefallen von dem Pack da draußen. Blut rann ihm von der Stirn, setzte sich in den Korbstuhl, murmelte Hombre
, gefährlich baumelte der Colt. Ich orderte kochendheißen Kaffee und sprühte ihm beißenden Flüssigverband auf die Stirn, er schrie vor Schmerzen, ließ die Waffe fallen, man konnte ihn blind wegführen. Am nächsten Morgen kam die Polizei, bunkerte ihn ein. Man kannte die Probleme mit den vielen Fremdarbeitern aus den Nachbarländern. Lange kam der Hato nicht zur Ruhe.
Unter Wolken von Fliegen, angelockt von den fleischigen Präparaten, unterhielten Medina und ich uns mit dem Biologen Dr. Castroviejo, der auf dem Hato eine kleine Station für endemisch Vogelkunde bewirtschaftete, finanziert vom World Wildlife Fund. Wir standen in den feuchten Uferauen des sanft fließenden, breiten Apure und beobachteten die Rinderherden, wie sie herantrotteten, angetrieben von den Llaneros, die mit einem Zeh im Steigbügel standen. Sie würden im Sattel geboren, sagte man. Ihren Lasso verknoteten sie am Schwanz ihrer Gäule – wenn das Winnetou gesehen hätte. Im Corral hielten sie mit dem nackten Fuß das Genick der nieder gebrochenen Jungtiere fest und drückten das Brenneisen ins Fell. Es wurde eine bunte und lebendige Filmszene. Das Team drehte weiter auf dem Hato.
Wir hatten eben die Feuchtsavannen erlebt, die Überschwemmungs-Llanos im Becken des Apure mit Niederschlägen von bis zu 1.700 mm. Dort fanden die Archäologen auch die längst vergessenen Indianer-Kulturen aus der Frühzeit des Landes. Die Dammbauten von einst kann man noch heute aus der Luft erkennen!
Mit Dr. Medina und Charles Bone fuhr ich in lebhaften Gesprächen zurück nach Caracas. Auf dem Wege machten wir einen Abstecher zu den Favelas am Südhang der Stadt mit den Bretterbuden der Allerärmsten. Erschütternde Bilder. In Venezuela gehen äußerster Reichtum und tiefste Armut dicht nebeneinander her. Das aber wird der Große Alexander von Humboldt um 1800 noch nicht gesehen haben.