Es soll euer Schaden nicht sein …
oder
Tante Elly
Tante Elly war eine ältere Schwester meines Stiefvaters, der 1915 geboren wurde. Viele nannten sie die alte Hexe
.
Die beiden kamen aus einer Patchworkfamilie mit vielen Kindern. Diese Familienform gab es auch schon damals, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Witwer mit Kindern heiratet eine Witwe mit eigenen und Stiefkindern, denn deren verstorbener Mann hatte auch schon Kinder mit in die Ehe gebracht, und das neue Paar bekommt dann noch eigenen Nachwuchs. Bei diesem Familiengeflecht habe ich nie ganz durchgeblickt.
Elly heiratete als junge Frau einen sehr viel älteren Mann, was zu damaliger Zeit üblich war, denn eine Frau musste versorgt
werden und das konnten sich Männer oft erst im fortgeschrittenen Alter leisten. Mit der Heirat war Elly sehr gut versorgt, denn ihr Mann war Besitzer einer großen Lederwarenfabrik mit mehreren hundert Beschäftigten. Leider wurde der Mann nach kurzem Eheglück sehr krank und verbrachte lange Zeit in verschiedenen Sanatorien. Elly arbeitete sich in dieser Zeit in die Geschäfte ihres Mannes ein, der sie vom Krankenbett aus dirigierte. Als er starb und sie als Alleinerbin auch die Besitzerin der Firma wurde, kannte sie sich schon gut mit den Geschäften aus. Entgegen der Erwartung, dass sie die Fabrik verkaufen oder einen Geschäftsführer einstellen würde, übernahm sie die Leitung der Firma selbst. Unvorstellbar für eine alleinstehende junge Frau in dieser Zeit. Sie führte den Betrieb mit eiserner Hand und brachte ihn gut durch schlechte Zeiten. Elly hat nie wieder geheiratet und hatte keine Kinder, die Firma war ihr Leben. Dieser Umstand hat sie wohl hart und auch etwas seltsam gemacht.
Ich war ungefähr sechs Jahre alt, als ich kurz nach der Hochzeit meiner Mutter und meines Stiefvaters Tante Elly kennenlernte. Es war auf der Lederwarenmesse in Offenbach, auf der ihre Firma einen Stand hatte. Ich bewunderte gerade die schönen ausgestellten Handtaschen, als eine unfreundliche alte Frau auf mich zukam und sagte: Du bist also die kleine Margot. So, so.
Dabei betrachtete sie mich prüfend von oben bis unten. Ich wollte weg, denn es war mir unangenehm, so gemustert zu werden, aber meine Eltern redeten noch einige Zeit mit ihr. Zum Abschied schenkte sie mir dann noch ein kleines Knips-Portmonee.
Einige Jahre hörte ich nichts mehr von ihr. Wir wohnten damals beengt in einer Mietwohnung in der Stadt. Erst als wir Ende der 1950er Jahre in ein eigenes Haus zogen, waren wir gesellschaftsfähig
und Elly nahm großzügig die Einladungen ihres Bruders an. Wenn sie uns besuchte, wurde ein imaginärer roter Teppich ausgerollt. Meine Mutter und mein Stiefvater wurden zu Dienstboten der Schwester und Schwägerin. Bring mir mal dieses
oder mach mal jenes
, die Worte Bitte
und Danke
fehlten in ihrem Wortschatz. Das Essen, mit dem sich meine Mutter immer außergewöhnlich viel Mühe gab, schmeckte nicht, nichts passte ihr, aber das hielt sie nicht davon ab, weitere Einladungen gnädig anzunehmen.
Mein kleiner Bruder wurde angehalten, immer nett zu Elly zu sein, denn das wäre ja schließlich seine Erbtante. Auf dieses Privileg spekulierten noch mehrere Familienangehörige und hofften, dass der Erbfall bald eintreten möge. Ich gehörte nicht zur Familie, musste aber trotzdem nett
sein. Elly tat alles, um die Verwandtschaft in dem Glauben zu lassen, bald ein größeres Erbe antreten zu können, denn sie hatte sämtliche Krankheiten, die es gibt, und noch andere, die sie bald bekommen würde. Ich mach's ja nicht mehr lang
war ihr ständiger Spruch. Wenn sie von einem ihrer zahlreichen Verwandten eine Hilfeleistung einforderte, kam dieser Spruch mit dem Zusatz: Es soll euer Schaden nicht sein
.
Elly hatte das zweite Gesicht
. Sie sagte allen, auch denen, die es nicht wissen wollten, die Zukunft voraus, allerdings nur in negativen Vorhersagen. Wenn man die Wahrscheinlichkeit und die selbsterfüllende Prophezeiung
abzieht, blieben doch frappierend viele Ereignisse übrig, die sie sicher voraussagte. Es war manchmal unheimlich und sie wurde deshalb, hinter ihrem Rücken, auch die alte Hexe
genannt. Auch mir sagte sie einige Dinge voraus, die später tatsächlich eintraten. Nur bei der Voraussage über ihren eigenen Todeszeitpunkt lag sie, vielleicht absichtlich, total daneben. Sie wurde sehr alt, überlebte ihren jüngeren Bruder und einen großen Teil der Verwandtschaft.
In späteren Jahren lernte Elly einen älteren Herrn kennen, der bis zu seinem Tod ihr Lebenspartner wurde. Sein Name war Dr. Hahnemann und er gab an, direkter Nachfahre von Samuel Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie zu sein. Wohl aufgrund des berühmten Namens praktizierte er früher als Homöopath und Heilpraktiker, außerdem befasste er sich mit gesunder Ernährungsweise. Er war Elly bedingungslos ergeben. Wenn ich an die beiden zurückdenke, erinnern sie mich an Miss Marple und Mister Stringer aus den Kriminalfilmen von Agatha Christie. Miss Marple war allerdings viel sympathischer.
Elly übernahm die gesunde Diätkost
ihres Freundes, wandelte sich nun zur Missionarin und wollte alle zu einer gesunden Lebensweise bekehren. Dabei war sie kompromisslos und überzeugte auch ihren Bruder. Einige Zeit gab es bei uns nur gesunde Kost
, überwiegend Rohkost, bei der ausschließlich kaltgepresstes Distelöl verwendet wurde. Die Nahrungszubereitung war aufwändig, teuer und machte keinen Spaß. Deshalb wurde das gesunde Leben
bald wieder aufgegeben. Tante Elly war auch hier ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus, denn der Mix aus Esoterik und Ernährungsdogmen boomt erst in der heutigen Zeit. Allerdings waren damals die Ernährungsrichtlinien, die auch das Essen von roher Leber als gesundheitsfördernd anpriesen, überwiegend andere als die heutigen.
Bei einer Familienfeier 1965 lernte sie auch meinen ersten Mann Helmut kennen. Helmut war ein großer Autonarr, was sich wohl herumgesprochen hatte. Nach dem Essen suchte Elly seine Gesellschaft. Ich dachte, sie wolle ihn unter die Lupe nehmen, um anschließend, wie üblich, seine negativen Eigenschaften genüsslich vor allen ausbreiten, oder ihm eine schlimme Zukunft voraussagen. Aber nein, sie sprachen über ein Geschäft.
Elly hatte keinen Führerschein, aber in ihrer Garage stand seit Jahrzehnten ein Mercedes der Luxusklasse, den ihr verstorbener Mann neu gekauft, aber nie gefahren hatte. Niemand wusste von dem Auto. Elly fragte Helmut, ob er diesen alten Wagen wieder so weit flott machen könne, dass man ihn zum Verkauf anbieten kann. Es soll auch dein Schaden nicht sein
, war ihr Angebot.
Helmut war von dem Auftrag begeistert und holte gleich seinen Freund, dessen Hobby auch Autos waren, mit ins Boot. Als sie den Oldtimer begutachtet hatten, kannte ihre Begeisterung keine Grenzen. Ich kann leider nicht sagen, um welches Modell es sich handelte, aber nach den Gesprächen der Männer zu urteilen, musste es sich um ein wahres Oldie-Schätzchen aus den 1920er Jahren gehandelt haben.
Mein Mann und sein Freund waren nun mehrere Wochen abends und am Wochenende mit dem Auto beschäftigt. Es wurde alles auseinandergenommen, geputzt und erneuert, sodass es den aktuellen Verkehrsbedingungen entsprach und vom TÜV zugelassen werden konnte. Mag sein, dass sie etwas länger brauchten, denn sie hatten sich rote Nummernschilder besorgt, und konnten damit Probefahrten machen. Am Wochenende sollte der Wagen dann in der Zeitung inseriert werden. Als sie am Mittwoch zur Garage kamen, um nochmal letzte Hand anzulegen, war der Oldtimer weg, den sie mit viel Fleiß und Enthusiasmus wieder in den Neuzustand versetzt hatten. Tante Elly kam in die Garage und sagte, dass sie den Wagen gerade verkauft habe. Einen Preis nannte sie nicht. Sie bedankte sich ausnahmsweise mal bei den beiden Männern und drückte jedem 50 D-Mark in die Hand, drehte sich um und verschwand in ihrem Haus.
Die zwei Freunde waren völlig verblüfft und zu keiner angemessenen Reaktion fähig. Sie machten sich auf den Nachhauseweg, kamen aber nicht weiter als bis zur nächsten Kneipe. Hier setzten sie ihren Verdienst
aus Ärger darüber, dass sie so übertölpelt worden waren, in Alkohol um.
Mit Tante Elly gab es keinen persönlichen Kontakt mehr, aber ich hörte noch viele Klatschgeschichten über sie, denn ihr Verhalten war sehr exzentrisch und bot jede Menge Gesprächsstoff. Sie starb in hohem Alter, und mit ihrem Testament startete sie den letzten Knaller: Sie vererbte ihr gesamtes Vermögen einem wohltätigen Zweck, ihre Familie schloss sie ausdrücklich aus.