Nachbarn
Ende der 1950er Jahre bauten meine Eltern in einer NeubausiedlungLesen Sie auch Die Kopftuchsiedlung
von Margot Bintig ein Reihenhaus. Für dieses Bauvorhaben bekamen mein Stiefvater und andere Bauwillige, die als Spätheimkehrer Mitglieder im Verband der Heimkehrer waren, durch diese Organisation günstige Grundstücke und Kredite.
Bei der Kalkulation war viel Eigenleistung eingeplant und so arbeiteten die fünf Häuslebauer weit über ein Jahr an der Fertigstellung ihres Eigenheims. Die Gärten der Reihenhäuser waren unterschiedlich groß, wir hatten das fünfte und letzte Reihenhaus und das größte Grundstück. Nach außen waren die Grundstücke mit einem Jägerzaun umzäunt, zwischen den Grundstücken war ein niedriger Maschendrahtzaun.
Durch die lange Zusammenarbeit während der Bauzeit hatten sich die Familien angefreundet. Meine Eltern waren gesellschaftlich sehr aufgeschlossen und deshalb fanden einige gemeinsame Feste in unserem Haus statt. Doch plötzlich bekam mein Stiefvater mit unserem unmittelbaren Nachbarn, Herrn D. aus dem vierten Haus, Streit und Herr D. wurde nicht mehr eingeladen. Fortan stand bei jeder Feierlichkeit die Polizei vor unserer Tür, sie war wegen Ruhestörung gerufen worden, musste aber jedes Mal unverrichteter Dinge abziehen, weil sie keinen übermäßigen Lärm erkennen konnte. Einmal kam die Polizei, als meine Mutter ganz allein im Haus war. Sie fragte die Beamten, ob jeder ständig grundlos die Polizei alarmieren könne, bei der Feuerwehr wäre dies doch auch strafbar. Die Beamten antworteten, dass der Anrufer schon polizeibekannt sei, aber dass jeder Anzeige nachgegangen werden muss.
Das Verhältnis zwischen beiden Nachbarn wurde immer schlechter, statt des Maschendrahtzauns wurde nun ein drei Meter hoher, undurchsichtiger Plastikzaun als Sichtschutz angebracht. Der Zaun hinderte aber keinen, vom Balkon aus in den Garten des anderen zu schauen.
Die GartengestaltungLesen Sie auch Garten nein danke
von Margot Bintig war eine Sache für sich. Mein Stiefvater benutzte jeden Zentimeter des Gartens, um Obst und Gemüse anzupflanzen. Alles, was keinen Ertrag brachte, war für ihn nutzlos. Meine Mutter bat vergebens um ein Blumenbeet, sie bekam stattdessen einen kleinen Pfirsichbaum vor die Terrasse, der blüht im Frühjahr doch viel schöner als ein Blumenbeet und im Herbst kann man auch noch Früchte ernten
, meinte ihr Mann. Das Bäumchen entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem großen ertragreichen Pfirsichbaum, der den Sonnenschirm auf der Terrasse ersparte.
Der Garten des verfeindeten Nachbarn D. war genau das Gegenteil von unserem. Hier gab es überwiegend Rasen mit kleinen Blumeninseln. Und überall standen Gartenzwerge in Gruppen zusammen oder führten handwerkliche Tätigkeiten aus. Vor jedem Rasenmähen sammelte er alle ein und stellte sie anschließend wieder an genau denselben Platz zurück. Später baute er noch eine farbig beleuchtete Höhle, in der Schneewittchen und die sieben Zwerge an einem Tisch saßen. Das gab viel Anlass zu Spott.
Der andere Nachbar des Ehepaars D. hatte eine ganz andere Vorstellung zur Nutzung eines Gartens. Herr C. aus dem dritten Haus konnte nichts wegwerfen. Er sammelte alles, was man vielleicht noch würde gebrauchen können. Im Garten hortete er Holzlatten, Dachpappe, Rohrstücke und ähnliche wetterfeste Sachen. Das alles lagerte er direkt am Maschendrahtzaun zum Garten von Nachbar D. Es war vorhersehbar, dass D. dagegen klagen würde. Das Gericht entschied wohl gegen den Kläger, denn es gab keine Änderung, im Gegenteil, der Müllhaufen, den Herr C. wertvolles Material
nannte, wurde immer größer, es gab für Grün keinen Platz mehr im Garten.
Uns gegenüber, in der zuvor gebauten Reihenhauszeile, wohnte das nette Ehepaar F. Sie waren sehr freundlich und hatten mindestens drei Katzen. Ständig kam es zwischen Herrn F. und Herrn D. zu Reibereien wegen der Katzen. Dieser meinte, die Katzen würden seinen Garten verwüsten, die Gartenzwerge umwerfen und alles mit Kot beschmieren. Nach einiger Zeit starb eine der Katzen an einer Vergiftung. Herr F. verdächtigte sofort Herrn D., hatte aber keine Beweise. Als kurze Zeit später auch die zweite Katze vergiftet wurde, konnte der nette Herr F. sich nicht mehr beherrschen, stürzte sich auf Herrn D. und es kam zu einer Rangelei, bei der Herr D. ein paar Kratzer abbekam. Das ging natürlich wieder umgehend vor Gericht und Herr F. bekam eine geringe Geldstrafe. Er erzählte später: Wenn ich gewusst hätte, wie billig das ist, hätte D. noch mehr abbekommen.
Im zweiten Haus der Reihe wohnte Familie B. Die hatten eine Tochter in meinem Alter, Gisela, mit der ich mich sofort anfreundete. Als Erste in unserer Reihe besaßen sie einen Fernsehapparat. Am Wochenende trafen sich alle Nachbarn, auch aus der gegenüberliegenden Reihenhauszeile, wenn sie nicht gerade wieder zerstritten waren, im Wohnzimmer von Familie B. Jeder brachte etwas zum Essen oder Trinken mit und es waren gemütliche Abende. Ich erinnere mich noch daran, dass ich einmal nicht mitgehen durfte, Begründung: der Film wäre nichts für mein Alter
. Es handelte sich um Lysistrata mit Romy Schneider. Ich fühlte mich schlecht behandelt und war stinksauer. Deshalb las ich umgehend die Anti-Kriegs-Komödie aus der Antike, in der die Frauen der Krieger so lange in den Sex-Streik traten, bis ihre Männer die Kampfhandlungen aufgaben. Das funktionierte damals innerhalb kurzer Zeit. Aber nicht nur meine Eltern waren prüde, auch der Bayerische Rundfunk fand das Stück zu freizügig, und der Bildschirm der Bayern blieb während der Ausstrahlung schwarz. Es gab damals nur einen Fernsehsender, der ausschließlich schwarz-weiß senden konnte.
Bisher habe ich nur von den Herren D., C. und F. berichtet. Alle waren verheiratet, doch die Frauen hatten keine eigene Meinung und schlossen sich in allem ihren Männern an. Waren die Männer zerstritten, redeten die Frauen, die zuvor miteinander befreundet waren, auch nicht mehr miteinander.
Doch nun komme ich zum ersten Haus, da war alles anders. Von Herrn A. habe ich kaum ein Wort gehört, aber Frau A. hatte ihre Augen und Ohren überall. Sie hat mir viel Ärger bereitet. Heute kann ich darüber lachen, denn sie erinnert mich sehr an Heidi Kabel und ihre Rolle in Tratsch im Treppenhaus
.
Ihr Garten grenzte direkt an den Bürgersteig. Dort musste sie angeblich täglich das Unkraut jäten und dabei nahm sie mit jedem Vorbeikommenden Kontakt auf. Sie wusste alles und tratschte auch alles weiter. Sie war sozusagen der Ortsfunk
der Siedlung. Jeder, der aus unserer Häuserreihe wegging oder nach Hause kam, musste an ihrer Haustür vorbei. Sie war besser als jeder Wachhund oder Bewegungsmelder. Sie scheute sich nicht, die Tür aufzumachen und Vorbeikommende nach dem Wohin und Woher zu fragen.
Als ich einige Jahre später auch mal abends weggehen durfte, versuchte ich immer ganz leise an ihrem Haus vorbeizugehen, was mit meinen Stöckelschuhen mit Metallabsätzen nicht immer leicht war. Ich habe es nicht immer geschafft, manchmal öffnete sie die Tür und fuhr mich mit einer Selbstverständlichkeit an, als habe sie jedes Recht der Welt, mich zu maßregeln: Das hätte es früher nicht gegeben, dass ein junges Ding so spät nach Hause kommt
keifte sie. Gisela ging es auch nicht besser. Mein Vater hatte damals sehr viele bezahlte Überstunden gemacht, um so schnell wie möglich die Kredite abzuzahlen. Frau A. bekam mit, dass er deshalb oft sehr spät nach Hause kam und sie fühlte sich verpflichtet, meine Mutter darauf aufmerksam zu machen, dass es auch andere Gründe geben könnte, dass ihr Mann so spät nach Hause käme.
Gisela, ich und ein paar andere Mädchen aus der Siedlung gingen sonntagnachmittags in den berühmten Frankfurter Jazzclub Storyville
. Hier war sonntags bis 18.00 Uhr Tanz
für Jugendliche, doch es war meistens so voll, dass an Tanzen nicht zu denken war. Dort verkehrten auch viele amerikanische Soldaten, doch nachmittags waren überwiegend Teenager da. Fast alle internationalen Jazzgrößen der damaligen Zeit waren hier, aber leider nur abends. Unsere Stars waren Knut Kiesewetter und Inge Brandenburg, die sich nicht zu schade waren, auch am Nachmittag für Jugendliche aufzutreten.
Meine und auch Giselas Eltern hätten es niemals wissen dürfen, dass wir dorthin gingen, denn jeder Kontakt zu AmerikanernLesen Sie auch US-Amerikaner
von Margot Bintig war tabu, bei Nichtbeachtung wurde jedes Mädchen sofort als Ami-Flittchen
betitelt. Andere Eltern sahen es weniger eng. Eines Tages kamen Gisela und ich rechtzeitig um 19.00 Uhr nach Hause. Da standen meine und Giselas Mutter mit Frau A. vor deren Haustür und nahmen uns in Empfang. Meine Mutter schimpfte gleich los und fragte, woher wir kämen. Sie hätte von Frau A. gehört, dass wir in der verrufenen Ami-Spelunke Storyville waren. Diese stand mit verschränkten Armen triumphierend dabei. Woher sie es wusste, habe ich nie erfahren. Ertappt gab ich es auch sofort zu. Gisela und ich gingen mit hängenden Köpfen mit unseren Müttern nach Hause, wo es mehr als dicke Luft gab. Gisela war sauer, weil ich sofort alles zugab und nannte mich deshalb eine Verräterin. Unsere Freundschaft war damit zu Ende.
In späteren Jahren hatte ich nochmals eine Freundschaft mit Nachbarn, von der ich später sehr enttäuscht wurde. Seitdem bemühe ich mich um ein gutes Verhältnis mit allen Nachbarn, lasse es aber nicht wieder zu eng werden. Freundschaften können leicht zerbrechen und man kann dann getrennte Wege gehen. Nachbarn hat man manchmal ein ganzes Leben lang.