Sprung ins kalte Wasser
Vor einiger Zeit hatten meine Schulfreundin Anneliese und ich unser 70-jähriges Freundschaftsjubiläum. Nachdem ich schon in der ersten Klasse die Schule wechseln musste (siehe Schule zur Untermiete
), setzte mich der neue Lehrer am ersten Tag in die pultähnliche Schulbank neben Anneliese. Ob er damals schon erkannt hat, dass wir beide zusammen gut harmonieren?
Anneliese lebt noch in meinem früheren Heimatort Offenbach am Main, während ich jetzt schon seit über 45 Jahren hoch im Norden, in Norderstedt wohne. Doch trotz der großen Entfernung riss die Verbindung niemals ab. Aus Anlass dieses Jubiläums haben wir uns jetzt auf fast halber Strecke in Bad Pyrmont getroffen und eine Woche lang Erinnerungen wieder aufleben lassen.
Wir hatten uns ein schönes, zentrales Hotel ausgesucht, das viele Gesundheitsleistungen anbietet und auch einen großen Wellnessbereich hat. Leider konnte meine Freundin dieses Angebot nur bedingt nutzen, denn sie konnte nicht schwimmen. Ich war betroffen, als ich das feststellte, denn ich fühlte mich hier etwas schuldig.
Doch zurück in das Jahr 1955:
In der vierten Klasse stand auf unserem Stundenplan in den letzten zwei Schulstunden Schwimmen
. Unsere ganze Klasse mit 45 Mädchen machte sich zu Fuß auf den ungefähr einen Kilometer langen Weg in das Offenbacher Stadtbad.
Das Offenbacher Stadtbad war ein historisches Gebäude aus dem Jahr 1909, das im Jugendstil erbaut wurde und durch große Natursteinquader und Figuren und Verzierungen beeindruckend aussah. Es galt damals als eines der modernsten Bäder seiner Zeit, denn es verfügte über fließend warmes Wasser. Wie durch ein Wunder wurde dieses Gebäude vom Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges verschont. Doch 1992 hielten die Stadtplaner dieses schöne alte Bauwerk für überflüssig und rissen es ab. Heute steht nur noch das denkmalgeschützte Portal vor der schmucklosen Fassade eines mehrstöckigen Wohnhauses.
Neben der Schwimmhalle, mit einem 25 Meter langen Schwimmbecken gab es noch Wannen und Brausebäder, die man für ein paar Groschen benutzen konnte, denn die meisten Einwohner der Stadt hatten damals noch kein eigenes Badezimmer. Es wurde von den Bürgern gut angenommen. Es gab auch eine Sauna, die meine Großtante häufig benutzte. Immer wenn sie von dort zurückkam, sagte sie, sie sei wie neugeboren
.
Bis alle Schülerinnen das Stadtbad erreicht hatten, umgezogen waren und geduscht hatten, war schon die Hälfte der Zeit vergangen. Mit unseren ausschließlich einteiligen Badeanzügen und den enganliegenden Badekappen waren wir eine bunte Gruppe kreischender und johlender Mädchen im Alter von neun Jahren. Der Lehrer, der eigentlich die Hauptfächer unterrichtete und nicht Sport, war überfordert und es fiel ihm schwer, den Überblick zu behalten.
Das Schwimmbecken war am Anfang etwa einen Meter tief und fiel dann langsam bis auf über zwei Meter Tiefe ab. Das Wasser war ziemlich kalt, Warmbadetage wurden erst später eingeführt, doch das war nur etwas für Weicheier
. Da wir fast alle Nichtschwimmer waren, durften wir nur den flachen Anfangsbereich des Beckens benutzen, der durch eine Trennleine vom tiefen Teil abgegrenzt war. Einzelne Mitschülerinnen hatten aber schon das Freischwimmerabzeichen auf dem Badeanzug und durften das ganze Becken benutzen. Ich wurde neidisch, denn ich wollte unbedingt auch schwimmen können.
Diese Schwimmabzeichen gibt es nicht mehr, sie wurden vom DLRG (Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft) im Jahre 1978 in die Jugendschwimmabzeichen Bronze, Silber und Gold abgelöst. Zusätzlich gibt es jetzt das Seepferdchen
für die Kleinsten, die dafür 25 Meter schwimmen müssen. Ich habe später alle Schwimmabzeichen mehrfach auf die Badebekleidung meiner zwei Enkel genäht.
Kaum richtig nass geworden, mussten wir schon wieder aus dem Wasser. Jetzt wurde noch einmal geduscht, dann abtrocknen und umziehen und die zwei Schulstunden (90 Minuten) waren rum. Es versteht sich von selbst, dass so keiner von uns das Schwimmen erlernt hatte. Wir mussten nicht mehr zur Schule zurück, denn Schulschluss war am Stadtbad.
Das Wasser hatte eine eigenartige Wirkung auf mich und viele meiner Klassenkameradinnen. Wir bekamen unerträglichen Heißhunger. Ich hätte die zwei Kilometer nach Hause niemals ohne etwas zu Essen geschafft. Deswegen nahm ich freitags immer doppeltes Pausenbrot mit, wobei ich die zweite Portion auf dem Heimweg aß. Viele Mädchen holten sich beim gegenüberliegenden Metzger Mayer ein Wurstbrötchen, ein Luxus, den ich mir nur selten leisten konnte. Hier war nach dem Schwimmunterricht immer großes Gedränge.
Mein Wunsch, schwimmen zu lernen war jetzt geweckt. Dass ich meine Eltern nach Schwimmunterricht oder die Mitgliedschaft im Schwimmverein gefragt hätte, kam erst gar nicht infrage, denn ich kannte die Antwort schon. Bei allem, was Geld kostete, war die Antwort automatisch Nein
. Also musste ich es mir selbst beibringen. Sooft ich konnte, ging ich jetzt allein ins Hallenbad. Hier kostete der Eintritt für Kinder nur ein paar Pfennige. Das Schwimmbecken hatte keinen Überlauf, wie heute üblich, sondern man schwamm unterhalb des Beckenrandes und hatte keine Sicht darüber. Um das gesamte Becken gab es einen Handlauf, an diesem hangelte ich mich zuerst um das Schwimmbecken herum. Dann hielt ich mich nur mit einer Hand an der Stange fest und machte mit der anderen Hand und den Beinen die Schwimmbewegungen. Später versuchte ich die Ecken abzukürzen, indem ich ohne mich festzuhalten quer über die Ecke mit einem Schwimmstoß die andere Seite erreichte. Diese Abkürzungen wurden immer länger, bald konnte ich mich einige Sekunden über Wasser halten. Ich konnte aber noch lange nicht schwimmen, doch ich hatte keinerlei Angst vor dem Wasser. Dann beobachtete ich, dass die Schwimmer, die vom Einmeterbrett sprangen, sofort wieder auftauchten. Von hier waren es nur ein paar Schwimmstöße zurück zur Stange. Das konnte ich auch! Ich sprang vom Einmeterbrett, ohne richtig schwimmen zu können, und erreichte auch immer die rettende Stange. Der Bademeister bekam nicht mit, dass ein kleines Mädchen, das nicht schwimmen konnte, sich ständig im tiefen Wasser herumtrieb und sogar vom Einer-Brett sprang. Einige Zeit später schaffte ich es, im tiefen Wasser quer durch das Schwimmbecken zu schwimmen. Ich war die Größte! Heute hätte das kaum für das Seepferdchen
gereicht.
Jetzt wollte ich meine Freundin daran teilhaben lassen, denn sie sollte auch schwimmen lernen. Dann könnten wir im Sommer zusammen im Freibad mit unseren Schwimmkünsten angeben und waren nicht mehr gezwungen, im Nichtschwimmerbecken zu planschen.
Meine Freundin war damit einverstanden, und nun versuchte ich, ihr mit meiner Methode das Schwimmen beizubringen. Doch im Gegensatz zu mir hatte sie Angst vor Wasser. Sie hielt sich krampfhaft an der Stange fest, und als sie zum ersten Mal im tiefen Wasser über Eck schwimmend die Stange loslassen sollte, bekam sie Panik und krallte sich an mir fest. Wir gingen beide unter und schluckten eine Menge Wasser. Ich weiß nicht, wie wir es nach einer gefühlten Ewigkeit geschafft haben, uns wieder an der Stange festzuhalten. Der Bademeister hat auch das nicht mitbekommen, das Ganze hat sicher auch nur ein paar Sekunden gedauert. Doch diese paar Sekunden haben gereicht, dass meine Freundin nie die Angst vor dem Wasser verloren hat und auch nie wieder den Versuch wagte, schwimmen zu lernen. Ich bedaure sehr, dass Anneliese durch meine Selbstüberschätzung, ich könnte ihre Schwimmlehrerin sein, das Schwimmen nie erlernt hat.
Obwohl ich nie besonders gut im Schwimmen war und auch kein Abzeichen erworben hatte, habe ich mich durch meine Waghalsigkeit oder Leichtsinn im Wasser oft in gefährliche Situationen gebracht. So bin ich einmal an der Atlantikküste von Portugal, die bei Surfern wegen ihrer besonders hohen Wellen beliebt ist, durch die Brandung hindurchgetaucht und konnte dann im offenen Meer wunderbar schwimmen. Doch auf dem Weg zurück spielten die hohen Wellen und die Gischt mit mir Wasserball, ich wusste nicht mehr, wo unten und oben ist, bis das Meer mich am Strand, mit Schürfwunden am ganzen Körper, wieder ausspuckte. Jetzt hatte ich zwar noch immer keine Angst vor dem Wasser, jedoch Respekt vor dem Meer.
Aber eines beherrschte ich besser als alle anderen: Ich konnte mich aufs Wasser legen, Arme und Beine breitmachen, Kopf nach hinten und ruhig atmen, also den Toten Mann
spielen. Theoretisch könnte ich das stundenlang machen und die Schwerelosigkeit genießen. Jetzt wollte mich der Bademeister plötzlich retten
, doch als er merkte, dass ich keine Hilfe brauchte, schrie er mich an, dass ich das nie mehr in seinem
Schwimmbad machen sollte, sonst bekäme ich Hausverbot.
Viele Jahre später wollte ich, dass meine kleine Tochter Sabine so früh wie möglich das Schwimmen erlernt. Ich habe sie noch vor Beginn der Schulzeit zu einem Schwimmkurs im Freibad angemeldet. Der Schwimmlehrer war ein richtiges Ekel, er muss seine Ausbildung wohl beim Kommiss gemacht haben, doch er hat allen Kursteilnehmern das Schwimmen beigebracht. Als Sabine so weit war, die Prüfung für das Freischwimmerabzeichen zu machen, stand ich am Beckenrand und beobachtete, dass sie kaum noch weiterschwimmen konnte und mich hilfesuchend ansah, doch der Schwimmlehrer trieb sie immer wieder an. Weiter, weiter, weiter
, schrie er und wollte, dass sie die geforderten 15 Minuten durchhalten sollte. Mir befahl er, vom Beckenrad wegzugehen. Es fiel mir sehr schwer, die Kleine nicht sofort aus dem Wasser zu holen, doch ich hielt mit schlechtem Gewissen durch. Aber dann führte Sabine wahre Freudentänze auf, als sie die Prüfung bestanden hatte und stolz die Urkunde mit dem Freischwimmerabzeichen vorzeigen konnte.
Ich war sehr froh, dass ich meinem ersten Impuls, die Prüfung abzubrechen, nicht nachgegeben habe. Ich hätte meinem Kind die Freude und die Erfahrung genommen, dass man mit Anstrengung und Durchhaltevermögen erfolgreich sein kann.
Es wäre ihr vielleicht auch so gegangen wie meiner Freundin, und sie hätte nie Schwimmen gelernt. Ein Stück Lebensqualität wäre ihr dabei verloren gegangen.