Der Elefant in der Streichholzschachtel
Seit 1980 wohnten wir in einem älteren Endreihenhaus in NorderstedtSiehe auch Gibt es Schutzengel?
[... Klick] im Ortsteil Garstedt, mitten in der Einflugschneise des Hamburger Flughafens Fuhlsbüttel, der heute Flughafen Hamburg Helmut Schmidt
heißt.
Bevor wir hierhergezogen sind, warnte mein Mann, dass der Fluglärm störend sein könnte. Ich meinte nur, dass ich über dreißig Jahre in der Einflugschneise des Rhein-Main-Flughafens gewohnt habe und mich deshalb der kleine Hamburger Flughafen nicht schrecken könne.
Anfangs war dies auch tatsächlich der Fall, und wir fühlten uns wohl in unserem Haus. Der Fluglärm war noch erträglich, und dank der Sackgassenlage war auch kaum Verkehrslärm zu hören. Der relativ große Garten war pflegeleicht, der größte Teil war Rasen, ringsum eine große Hecke und davor einige Blühpflanzen. Heckenschneiden, Rasenmähen und im Winter das Schnee schaufeln waren die Aufgaben meines Mannes, die er als Ausgleichssport
ansah.
Dass wir auf zwei Ebenen wohnten und der Keller mit der Werkstatt und dem Hausarbeitsraum als dritte Ebene dazukam, war für uns damals noch kein Problem. Auch dass dieser Teil von Norderstedt kaum an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden und war, dass es auch keine Einkaufsmöglichkeit in der Nähe gab, störte uns nicht, denn wir hatten ja zwei Autos zur Verfügung. Und meine Arbeitsstelle war in der Nähe, das machte alles perfekt.
Aber dann, fünfundzwanzig Jahre später, als wir auf die Sechzig zugingen, merkten wir, wie uns die Zipperlein des Alters einholten. Treppen wurden zur Herausforderung und der Garten war mehr Arbeit als Vergnügen. Der Schnee im Winter wurde zur Last – damals fiel noch viel mehr Schnee als heute – und auch der Fluglärm störte inzwischen.
Eines Abends, bei einem gemütlichen Familienessen, sprachen wir über einen späteren möglichen Umzug in eine geeignetere Wohnung, ebenerdig und mit besserer Infrastruktur – irgendwann.
Keine vier Wochen nach diesem Gespräch kam meine Tochter und sagte, sie hätte eine Wohnung für uns. Eine Bekannte würde sich scheiden lassen und müsste deshalb die Wohnung verkaufen. Erschrocken sagte ich: Wir wollen doch jetzt noch nicht umziehen. Vielleicht später mal, wenn wir in Rente sind.
Aber sie ließ nicht locker und meinte: Das sagen viele, und dann ist es zu spät. Ihr könnt euch die Wohnung ja mal angucken
. Um Ruhe zu haben, fuhren wir mit ihr zu der besagten Wohnung. Es handelte sich um eine Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss eines zweistöckigen Hauses. Vom Wohnzimmer aus ging man auf eine Terrasse mit einer dazugehörigen kleinen bepflanzten Fläche ringsum, die in den Gemeinschaftsgarten überging. Hinter diesem erstreckte sich das Nachbargrundstück mit zahlreichen Tannen, sodass man das Gefühl hatte, in einen kleinen Wald zu blicken.
Mein Mann, der eigentlich sehr zögerlich in seinen Entscheidungen ist, sagte spontan: Die nehmen wir
. Ich hatte kaum etwas dagegenzusetzen außer, dass es für mich alles zu schnell kam. Dann feilschten wir noch etwas um den Preis, wurden uns aber schnell per Handschlag einig. So kauften wir eine Wohnung schneller als sonst ein Paar Schuhe.
Bis zum Umzug hatten wir drei Monate Zeit. Wir ließen in dieser Zeit die neue Wohnung komplett renovieren. Gleichzeitig übernahm ich die Mammutaufgabe, unseren Hausstand auszusortieren. Dazu nahm ich einen Teil meines Jahresurlaubs. Der Inhalt einer großen Vierzimmerwohnung mit vollgepackten Kellerräumen und Dachboden musste so verkleinert werden, dass er in eine kleine Dreizimmerwohnung mit einem kleinen Kellerraum passte.
Zuerst nahm ich mir die vielen Fotoalben von unseren Reisen und die Familienfotos vor. Ich nahm alle Bilder aus den Alben und ordnete sie thematisch in Fotokartons. So reduzierten sich unzählige Alben auf nur sechs kleine Kartons. Gleichzeitig ließ ich die vielen Videokassetten mit eigenen Aufnahmen auf CD überspielen.
Auch unsere Bücher sortierte ich radikal aus. Alle Belletristik fiel dem Ausmisten zum Opfer. Hatte ich jemals einen Roman zweimal gelesen? Auch meine Kochbuchsammlung blieb nicht verschont. Nur die alten und abgegriffenen behielt ich; denn das waren diejenigen, die ich auch tatsächlich benutzte, alles andere waren eigentlich nur kulinarische Bilderbücher. Mit diesen Aktionen hatte ich das Volumen unserer Medien wesentlich verkleinert.
Dann kam jeder Raum als Projekt für sich dran. Erst ging es an den Dachboden. Hier entdeckte ich manche verstaubte Überraschung, denn hier wurde alles gelagert, was man irgendwie noch verwenden konnte, dann aber vergessen wurde. Ich lagerte hier mehrere Jahrgänge von Zeitschriften - was hatte ich mir nur dabei gedacht? Hier lagen Langlaufski und Schlittschuhe, die wir schon lange nicht mehr benutzt hatten, sowie veraltete Unterhaltungselektronik und technische Haushaltsgeräte. Gutgemeinte, aber nutzlose Geschenke hatten hier neben Urlaubs-Souvenirs und Fehlkäufen ihren Platz. Auch fand ich verschiedene Aktentaschen mit Unterlagen von Kursen und Seminaren, die nach dem Ende der jeweiligen Veranstaltung weder ausgepackt noch jemals wieder angesehen wurden. Die Kisten mit Weihnachts-, Oster- und Partydekoration wurden auf ein Minimum reduziert.
Hier hatte auch meine Tochter ihre Kartons gelagert, die sie bei ihrem Auszug nicht mitgenommen hatte. Sie enthielten Schulsachen, Kinderbücher, Spielzeug und Kuscheltiere. Diese Sachen sortierte meine Tochter selbst aus und behielt das eine oder andere Stück.
Auch fand ich in den Kisten alte Erinnerungsstücke. Zum Beispiel mein altes Poesiealbum aus Kindertagen:
In allen vier Ecken, soll Liebe drinstecken
oder:
Blühe wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein, nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein
.
Ich nahm mir die Zeit alles nochmal durchzulesen, doch bei vielem konnte ich mich nicht mehr an den Schreiber erinnern, also weg damit – heute tut es mir leid.
Weiter ging es mit Wohnzimmer und Küche. In der Küche gab es nicht allzu viel auszusortieren, denn durch den Unfall mit dem heruntergefallenen Küchenschrank vor ein paar Jahren (s. Geschichte) mussten wir das gesamte Geschirr für den täglichen Gebrauch neu kaufen. Doch im Wohnzimmerschrank bewahrten wir ein Sammelsurium von inzwischen nutzlosem Kram auf. Das alte Rosenthal Kaffeeservice, das nie benutzt wurde, weil es nicht in den Geschirrspüler durfte, ein chinesisches Teeservice, auch nie benutzt, denn wir sind Kaffeetrinker, zwei Bowleschüsseln sowie eine Feuerzangenbowle mit allem Zubehör – wann hatten wir zuletzt eine Bowle gemacht? Zwei Fonduetöpfe, feuerfeste Suppentassen für Zwiebelsuppe und als Top Schneckenpfännchen mit kleinen Gabeln – wie konnten wir jemals Schnecken essen?
Nun ging es an den Kleider- und Wäscheschrank. Ich habe jetzt nur noch einen Dreimeterschrank statt wie früher einen Kleiderschrank von sechs Metern. Für die Wäsche muss eine kleine Kommode reichen. Wie viel Bettwäsche und wie viele Handtücher braucht man eigentlich? Jedenfalls maximal ein Viertel von dem, was ich gehortet habe. Der Rest ging an das Rote Kreuz. Die Handtücher habe ich fast alle aussortiert, sie gingen ebenfalls an diese Adresse, denn für das neue Bad brauchte ich auch neue, farblich passende Handtücher und nicht den Farbmix, der sich angehäuft hatte.
Im Kleiderschrank hatte ich mehrere Konfektionsgrößen aufbewahrt, die alle einmal gepasst haben, denn irgendwann könnten sie mal wieder passen. Jetzt musste ich der Realität ins Auge sehen und mich von meiner Wunschgröße trennen.
Glücklicherweise verfügt die neue Wohnung über einen warmen und trockenen Keller. Dort steht noch ein geräumiger Kleiderschrank, in dem ich je nach Jahreszeit die entsprechende Kleidung lagern kann. Zweimal im Jahr wechsle ich nun die Sommer- und Winterkleidung zwischen diesem Schrank und meinem Kleiderschrank oben in der Wohnung.
Schließlich kam der Keller dran: Der Gefrierschrank fand auch im Keller der neuen Wohnung Platz. Aus der Waschmaschine und dem Trockner wurde ein Waschtrockner, denn beide Geräte passten nicht in die neue Wohnung. Der umfangreiche Lebensmittelvorrat, den ich angesammelt hatte, weil wir jedes Mal das Auto für Einkäufe benutzen mussten, wird jetzt eigentlich nicht mehr gebraucht, da der nächste Supermarkt nur fünf Gehminuten entfernt ist. Wir hatten vor dem Umzug auch fast alles aufgebraucht. Doch trotz meiner Absicht, diesmal nicht erneut Vorräte anzulegen, sind die Regale im Keller wieder voll – für alle erdenklichen Notfälle.
Die Werkstatt meines Mannes wurde nicht mehr gebraucht, da er keine Reparaturen im Haus mehr vornehmen muss. Er hat den Werkzeugkasten mit den wichtigsten Werkzeugen mitgenommen und das hat bisher völlig ausgereicht.
Alle Möbel wurden entweder verkauft, an ein Secondhandkaufhaus gegeben oder als Sperrmüll entsorgt. Nachdem wir Jahrzehnte in dunklem Mahagoni gewohnt hatten, waren jetzt nur noch helle Möbel angesagt.
Diese ganze Ausmistaktion war oft eine emotionale Achterbahn, manchmal dauerte es lange, bis ich mich entschieden hatte, auf was wir verzichten konnten. Ich musste mehrmals alles durchgehen, denn es blieb immer noch zu viel übrig. Einige Sachen verschenkten wir, einiges ging zum Roten Kreuz und manches wurde bei Ebay verkauft.
Am Tag des Umzugs, bei dem uns die Familie und Freunde halfen sagte meine Tochter, nachdem alles untergebracht war, lachend: Es kommt mir so vor, als ob wir heute einen Elefanten in eine Streichholzschachtel gepackt haben.
Nach dem Umzug stellten wir fest, dass alles Notwendige vorhanden war und nur ein paar Kleinigkeiten fehlten. Doch ich muss mich jetzt beim Einkaufen sehr zurückhalten, denn wenn ich etwas Neues kaufe, muss etwas Vorhandenes entsorgt werden. Das spart eine Menge Geld, denn ich kann mich nur schwer dazu entschließen, etwas wegzuwerfen, was noch völlig in Ordnung ist.
Jetzt, da mein Mann und ich auf die Achtzig zugehen, sind wir sehr froh, dass wir uns rechtzeitig entschieden haben, Ballast abzuwerfen und auf kleinerem, barrierefreiem Raum, der pflegeleicht und ohne arbeitsintensiven Garten ist, zu wohnen. Die vorhandene gute Infrastruktur wissen wir jetzt immer mehr zu schätzen.